Urteil des VG Stuttgart vom 19.03.2007

VG Stuttgart: von Ausbildungsförderung, Abzug eines Verwandtendarlehens vom Vermögen, wiedereinsetzung in den vorigen stand, grobe fahrlässigkeit, verwaltungsakt, darlehensvertrag, nichte, sorgfalt

VG Stuttgart Urteil vom 19.3.2007, 11 K 2106/05
Rückforderung von Ausbildungsförderung; Abzug eines Verwandtendarlehens vom Vermögen
Leitsätze
Erfüllt ein Verwandtendarlehen den gleichen Zweck wie ein Darlehen nach dem Bundesausbildungs-förderungsgesetz, so ist es wie dieses nicht
vom anzurechnenden Vermögen abzuziehen.
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des - gerichtskostenfreien - Verfahrens.
Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
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Die am ... 1977 geborene Klägerin beantragte erstmals am 29.10.1998 beim Studentenwerk D. Ausbildungsförderung für das Architekturstudium,
wobei sie angab, nach ihrem Abitur im Jahr 1996 unter Anderem entgeltliche Praktika im Garten- und Landschaftsbau, in Architekturbüros und in
einem Zimmereigeschäft absolviert zu haben, und keine Eintragungen zu ihrem Einkommen und Vermögen machte. Hierauf wurde ihr für
Oktober 1998 bis September 1999 sowie auf ihre im Juni 1999, Juni 2000 und Juni 2001 gestellten Anträge ohne Eintragungen zu ihrem
Einkommen und Vermögen für Oktober 1999 bis September 2002 Ausbildungsförderung bewilligt. Der im Juli 2002 gestellte Antrag enthält
voraussichtliche Einnahmen der Klägerin von monatlich 600 Euro für September 2002 bis Februar 2003 und zum Vermögen einen senkrechten
Strich, worauf für diese Zeit keine Ausbildungsförderung bewilligt wurde. Im März 2003 wurde beim Beklagten die Weiterförderung für die
Fortsetzung ihres Studiums in Stuttgart beantragt, wofür in den Formblättern bei den Angaben zu Einkommen und Vermögen, die
Stempelaufdrucken zufolge unter Entwertung des nicht Zutreffenden vollständig auszufüllen sind, sowie bei den Schulden und freizustellenden
Vermögenswerten im Mai 2003 jedes Betragsfeld mit einem Schrägstrich und im Juli 2003 wie auch im Oktober 2003 der Textbereich mit
Schrägstrichen versehen wurde.
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Nach einem Aktenvermerk vom 26.11.2002 zum Datenabgleich gemäß § 45d Einkommensteuergesetz waren der Klägerin im Jahr 2001
Freistellungsbeträge von insgesamt 1038 DM zugeordnet. Der Beklagte erhielt nach entsprechender Aufforderung am 13.4.2004 Aufstellungen
zum Kapitalvermögen der Klägerin mit Bankbestätigungen und Kontoauszügen, bezogen auf den Eingang von Förderungsanträgen, dazu ein
Schreiben des bevollmächtigten Onkels der Klägerin vom 6.4.2004 mit folgenden Ausführungen: Er sei frühzeitig bemüht gewesen, die
Ausbildung der Kinder seines Bruders abzusichern und habe zu diesem Zweck mit seiner Nichte das aufgeführte Darlehen in Höhe von 15.000
DM vereinbart. Dieses habe sie dank der gewährten Ausbildungsförderung erstmals im Laufe des Jahres 2003 wegen Verzögerung der
Bearbeitung des Antrags vom März in Anspruch nehmen müssen. Sie habe wegen der wohl 10 Semester überschreitenden Dauer des Studiums
vorausschauend bisher sehr sparsam gelebt und ihr Vermögen sowie das gewährte Darlehen für die Zeitphase nach der Förderung reserviert.
3
Mit Bescheid vom 23.9.2004 hob der Beklagte wegen Wegfalls des Förderungsanspruchs infolge rückwirkender Vermögensanrechnung für die
Bewilligungszeiträume von Oktober 1998 bis September 2000 die Bewilligungsbescheide vom 31.3.1999, 30.9.1999 und 31.7.2000 auf,
verneinte insoweit einen Förderungsanspruch und forderte den Betrag von 9.264,10 Euro zurück. Der Onkel der Klägerin legte mit Schreiben
vom 9.11.2004 Widerspruch ein und teilte mit, er habe den Bescheid erst am 8.11.2004 nach Rückkehr von einem Auslandsaufenthalt als
Vertreter entgegennehmen können. Der Prozessbevollmächtigte machte Wiedereinsetzung in die Widerspruchsfrist sowie die Anerkennung des
nicht berücksichtigten Darlehens geltend und legte den auf 14.3.1998 datierten Darlehensvertrag vor, der folgenden Wortlaut hat:
4
Hiermit begibt Herr H. H. an seine Nichte B. H. ein Darlehen in Höhe von 15.000 zur Sicherung ihrer Berufsausbildung insbesondere
ihres Studiums.
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Das Darlehen ist zinslos und hat zunächst eine Laufzeit vom 14.3.1998 bis zum 30.6.2006. Eine Verlängerung kann vereinbart werden.
6
Die Darlehensnehmerin ist berechtigt, die Darlehenssumme am Kapitalmarkt so anzulegen, dass diese in kurzen Zeiträumen bei Bedarf
verfügbar ist. Auf die Erträge hieraus verzichtet der Darlehensgeber zugunsten seiner Nichte.
7
Die Rückzahlung des Darlehens erfolgt nach Abschluss der Ausbildung und mit Annahme einer ordentlichen Berufstätigkeit mit
entsprechender Entlohnung auf Wunsch in Raten mit noch zu vereinbarenden Sätzen.
...
8
Mit Bescheid vom 31.5.2005 gewährte der Beklagte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und wies den Widerspruch mit folgender
Begründung zurück: Der Darlehensvertrag unter Verwandten ohne Rückzahlungs- und Zinsvereinbarung entspreche nicht dem zwischen
Fremden Üblichen und erfülle damit nicht die Anforderungen des Bundesfinanzhofs, die grundsätzlich auch für Ausbildungsförderung
maßgebend seien. Die in das behördliche Ermessen gestellte Aufhebung der deshalb rechtswidrigen Bewilligungen sei wegen zumindest grober
Fahrlässigkeit bei der pflichtwidrigen Unterlassung von Vermögensangaben zulässig und liege im überwiegenden öffentlichen Interesse.
9
Die Klägerin hat am 30.6.2005 Klage erhoben und macht geltend, ihre Angaben seien bei Berücksichtigung des Darlehens, das alle
erforderlichen Merkmale aufweise, nicht unrichtig gewesen. Sie beantragt,
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den Bescheid des Beklagten vom 23.9.2004 in der Gestalt seines Widerspruchsbescheids vom 31.5.2005 aufzuheben.
11 Der Beklagte beantragt,
12
die Klage abzuweisen.
13 Er verweist auf die Gründe des Widerspruchsbescheids und hält die Angaben der Klägerin schon wegen der darin eingeflossenen Wertung für
unrichtig.
14 Dem Gericht liegen die einschlägigen Behördenakten vor.
Entscheidungsgründe
15 Die zulässige Klage, über die mit allseitigem Einverständnis der Vorsitzende als Berichterstatter ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann
(§§ 87a Abs. 2 und 3, 101 Abs. 2 VwGO), ist unbegründet, denn die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht
in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).
16 Der Beklagte verlangt die Erstattung von Sozialleistungen gemäß § 50 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X), nämlich von Leistungen
der Ausbildungsförderung (§ 1 Abs. 1 S. 1 SGB X, §§ 1 Abs.1 S. 1, 18 SGB Erstes Buch). Er ist als zuständig gewordenes Amt für
Ausbildungsförderung berechtigt, diesen in Hessen entstandenen Anspruch geltend zu machen, da er auf das Land Baden-Württemberg
übergegangen ist (§ 45a Abs. 1 und 3 BAföG).
17 Soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben worden ist, sind bereits erbrachte Leistungen zu erstatten, was durch schriftlichen Verwaltungsakt
festzusetzen ist (§ 50 Abs. 1 und 3 SGB X). Die rückwirkende Aufhebung der Bewilligungen stützt sich auf § 45 SGB X, dessen Voraussetzungen
für die Rücknahme rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte für die Vergangenheit erfüllt sind.
18 Die aufgehobenen Bewilligungen sind insoweit rechtswidrig (§ 45 Abs. 1 SGB X), als Vermögen der Klägerin nicht gemäß §§ 27 ff BAföG
angerechnet wurde (§ 11 Abs. 2 S. 1 BAföG). Die Anrechnung wurde im Bescheid vom 23.9.2004 korrigiert, und zwar zu Recht ohne Abzug einer
Darlehensschuld gemäß § 28 Abs. 3 BAföG.
19 Zu den bestehenden Schulden (§ 28 Abs. 3 S.1 BAföG) werden alle Verbindlichkeiten des Auszubildenden gezählt, auch wenn sie im
maßgeblichen Zeitpunkt der Antragstellung noch nicht fällig oder konkretisiert sind; es muss nur ernstlich damit zu rechnen sein, dass sie geltend
gemacht werden (vgl. Rothe/Blanke, BAföG, 5. Aufl., RdNr. 10 zu § 28 m.w.N). Der vorliegende Darlehensvertrag begründete jedoch zu den
maßgebenden Zeitpunkten keine solche Forderung, nicht nur soweit die Darlehenssumme noch nicht ausgezahlt gewesen sein sollte, sondern
weil auch im ausgezahlten Umfang keine bestehende Schuld anzunehmen ist. Dabei kommt es nicht auf die Frage an, inwieweit das Darlehen
die steuerlichen Grundsätze eines „Fremdvergleichs“ erfüllen müsste (dazu etwa VG Weimar, Urt. v. 23.02.2006, ThürVBl 2006, 285; VG
Karlsruhe, Urt. v. 23.3.2005, NJW 2005, 2874).
20 Die Verneinung einer bestehenden Schuld folgt jedenfalls aus dem in § 28 Abs. 3 BAföG angefügten Satz 2, welcher den Abzug der nach dem
Bundesausbildungsförderungsgesetz erhaltenen Darlehen von dem nach Abs. 1 und 2 ermittelten Vermögensbetrag verbietet (Gesetz vom
22.5.1990, BGBl. I S. 936). Dass vor dieser Einfügung infolge des Abzugs der genannten Darlehen immer weniger Vermögen einzusetzen war,
welches die aufgehäuften, aber erst nach Abschluss der Ausbildung zurück zu zahlenden Schulden überstieg, widersprach dem
Subsidiaritätsgrundsatz (BT-Drucks. 11/5961 S. 24; Rothe/Blanke a.a.O., RdNr. 1.3). In Wirklichkeit standen nämlich die für den Lebensunterhalt
und die Ausbildung erforderlichen Mittel anderweitig zur Verfügung (vgl. § 1 BAföG), gerade weil Ausbildungsförderung gewährt und deshalb der
Einsatz eigenen Vermögens nicht erforderlich wurde. § 28 Abs. 3 Satz 2 BAföG bildet damit keine Ausnahme von Satz 1, sondern zeigt für
umfangreiche, typische Fallgruppen (§ 17 Abs. 2 und 3 BAföG) auf, was nicht zu den bestehenden Schulden gehört, weil die für den
Lebensunterhalt und die Ausbildung erforderlichen Mittel dadurch nicht geschmälert werden. Daher ist dem Urteil des Verwaltungsgerichts
Karlsruhe vom 17.08.2005 - 10 K 2112/04 - (entgegen den Bedenken bei Rothe/Blanke a.a.O. RdNr. 10.1 zu § 28) zu folgen, wenn für den
dortigen Fall ausgeführt ist:
21
Dieser ist dadurch entscheidend geprägt, dass die Rückforderung ausdrücklich auf den oben geschilderten Zeitpunkt hinausgeschoben
worden ist. Ernstliche Gefahr der Geltendmachung besteht ... nicht einmal bei Beendigung der Ausbildung und letztlich sogar nicht bei
Aufnahme einer Berufstätigkeit, sondern erst bei Sicherung eines geregelten monatlichen Einkommens, nach dem sich dann auch, wie
die Auslegung des Vertrags ergibt, die monatlichen Raten richten sollen. Daraus folgt, dass das Vermögen der Klägerin während der
gesamten Ausbildung und sogar deutlich darüber hinaus gerade nicht latent mit der Möglichkeit der Verringerung durch
Geltendmachung der Forderung belastet ist.
22 Auch hier war die Klägerin bis zum Ende der Ausbildung und darüber hinaus bis zur „Annahme einer ordentlichen Berufstätigkeit mit
entsprechender Entlohnung“ nicht zu einer Rückzahlung verpflichtet. Beginn und Höhe der auf Wunsch zu vereinbarenden Ratenzahlungen
sollten sich offenbar nach dem Einkommen der Klägerin richten, wie dies auch bei den Darlehen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz
vorgesehen ist (vgl. §§ 18 Abs. 3, 18a BAföG). Das Darlehen ihres Onkels „zur Sicherung ihrer Berufsausbildung insbesondere ihres Studiums“
war also nach seinem Zweck und den Rückzahlungsmodalitäten den Darlehen der - nicht als bestehende Schuld abzuziehenden -
Ausbildungsförderung vergleichbar und änderte nichts an der Verfügbarkeit anderweitiger Mittel im Sinne des Subsidiaritätsgrundsatzes (§ 1
BAföG).
23 Der Begründung des Bescheids vom 23.9.2004 ist zu entnehmen, warum die aufgehobenen Bewilligungsbescheide rechtswidrig waren und in
den betroffenen Bewilligungszeiträumen keine Ausbildungsförderung zustand; Zweifel an den Berechnungen sind - abgesehen vom nicht
berücksichtigten Darlehen - nicht erhoben worden und auch nicht ersichtlich. Die damit eröffnete Rücknahme ist für die Vergangenheit möglich,
soweit der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder
unvollständig gemacht hat, oder soweit er die Rechtswidrigkeit kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt
vor, wenn die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt wurde (§ 45 Abs. 4 S. 1, Abs. 2 S. 3 Nr. 2 und 3 SGB X). Erforderlich ist
die der jeweiligen Sachlage angemessene Sorgfalt; ihr Maß richtet sich nach der persönlichen Einsichts- und Kritikfähigkeit unter
Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls und ist besonders schwer verfehlt, wenn schon einfachste, ganz nahe liegende
Überlegungen nicht angestellt worden sind und daher nicht beachtet wurde, was im gegebenen Fall jedem einleuchten musste (vgl.
Vogelgesang in Hauck/Noftz, SGB X, K § 45 RdNr. 42 m.w.N.). Diese Voraussetzungen liegen ebenfalls vor:
24 Die verwendeten Antragsformulare lassen keinen vernünftigen Zweifel daran zu, dass unter der Überschrift „Angaben zu meinem Vermögen im
Zeitpunkt der Antragstellung“ die in Zeile 101 aufgeführten, insgesamt 6000 DM übersteigenden Gelder anzugeben sind, auch und gerade
unmittelbar vor der Überschrift zu Zeile 102: „Meine Schulden und Lasten im Zeitpunkt der Antragstellung (Bitte Belege beifügen)“. Werden die
Angaben unterlassen, und sei es auch wegen gedanklicher Saldierung der Aktiva und Passiva, ist jeweils zumindest grob fahrlässig
Wesentliches unrichtig oder unvollständig angegeben und eine rechtswidrige Bewilligung in Kauf genommen. Zwar hätte das Studentenwerk D.
nachfragen können, aber das Fehlen von Eintragungen im Formular vermittelt dort bereits die Aussage, dass es kein Vermögen gibt, und im
Zweifel wäre es Sache der Klägerin gewesen, sich durch Rücksprache bei der Behörde Klarheit zu verschaffen (vgl. VGH Baden-Württ., Urt. v.
11.06.2003 - 7 S 1697/02 -).
25 Das damit eröffnete Ermessen, die Bewilligungsbescheide zurückzunehmen, wurde fehlerfrei ausgeübt, auch indem keine Ausnahme von der
regelmäßigen Rückabwicklung der Fälle des § 45 Abs. 4 Satz 1 SGB X gemacht wurde (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.9.1987, BVerwGE 78, 101; VGH
Baden-Württ. a.a.O.). Das Vorgehen des Beklagten, das zur Erstattung der überzahlten Beträge führt, ist auch nicht verfristet oder verwirkt, da die
Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X frühestens mit der Angabe der Vermögensverhältnisse am 13.4.2004 begonnen haben konnte.
26 Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 VwGO.
27 Die Zulassung der Berufung folgt aus §§ 124 Abs. 2 Nr. 3, 124a Abs. 1 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Abzugsfähigkeit von
Darlehen als bestehende Schulden gemäß § 28 Abs. 3 BAföG.