Urteil des VG Stuttgart vom 17.02.2011
VG Stuttgart: beschränkung, wohnsitznahme, örtliche zuständigkeit, öffentliches interesse, rechtsgrundlage, rückführung, gemeinde, umzug, stadt, asylbewerber
VG Stuttgart Urteil vom 17.2.2011, 12 K 3244/10
Zum Anspruch geduldeter Ausländer auf Aufhebung der Beschränkung ihres Wohnsitzes
Leitsätze
1. Zur in Baden-Württemberg geltenden Terminologie Wohnsitzauflagen/ Wohnungsauflagen.
2. Solche Auflagen werden in Baden-Württemberg in der Regel nur einmal - mit der erstmaligen Duldungserteilung - verfügt und damit spätestens
nach einem Jahr bestandskräftig.
3. Geduldete haben kein Recht auf freie Wohnsitznahme, so dass die durch Wohnsitzauflagen verursachten Eingriffe im Regelfall minimal sind.
4. Trotz ermessenslenkender Verwaltungsvorschriften sind Besonderheiten des Einzelfalles, die der Betroffene vorbringt, zu würdigen.
Tenor
Der Beklagte wird verpflichtet, die Beschränkung der Wohnsitznahme der Kläger auf H. aufzuheben.
Der Bescheid des Landratsamtes L. vom 30.6.2010 und der Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 29.7.2010 werden
aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.
Tatbestand
1
Die geduldeten Kläger begehren die Aufhebung der Beschränkung ihres Wohnsitzes auf die Gemeinde H., da sie eine Wohnung in der
naheliegenden Kreisstadt L. angemietet haben.
2
Sie geben an, äthiopischer Staatsangehörigkeit zu sein und reisten im November 1995 zur Asylantragstellung in das Bundesgebiet ein.
Nachdem sie zunächst in einer Erstaufnahmeeinrichtung untergebracht waren, wies sie das Regierungspräsidium Stuttgart zur vorläufigen
Unterbringung während des Asylverfahrens in eine staatlichen Sammelunterkunft nach C. zu. Im Dezember 1996 erließ die untere
Aufnahmebehörde des Landkreises L. eine Zuweisungsverfügung, wonach die Kläger nunmehr aufgrund der vom Innenministerium Baden-
Württemberg festgelegten Aufnahmequoten der Gemeinde H. zuzuweisen seien. Daraufhin nahm die Ausländerbehörde des Landratsamts L. (im
Folgenden: Landratsamt) am 15.1.1997 eine Beschränkung der Wohnsitznahme auf eine bestimmte Unterkunft in H. in die Bescheinigungen
über die Aufenthaltsgestattungen der Kläger auf.
3
Das Asylerstverfahren der Kläger blieb ohne Erfolg; es endete bestandskräftig im Oktober 1997. Nach Kenntnis vom Abschluss des
Asylerstverfahrens wies das Regierungspräsidium Stuttgart mit Schreiben vom 18.11.1997 das Landratsamt an, den Klägern anstelle ihrer
Bescheinigungen über den Besitz von Aufenthaltsgestattungen Duldungsbescheinigungen auszustellen, die nach einem Erlass mit einer
Wohnsitzauflage zu versehen seien. Daraufhin nahm das Landratsamt in die den Klägern erstmals am 5.1.1998 ausgestellten
Duldungsbescheinigungen die Bestimmung auf: „Wohnsitznahme: H.“.
4
Im Jahr 1999 blieben Bemühungen der Kläger, wegen eines damaligen Arbeitsplatzes des Klägers Ziffer 1 nach S. umziehen zu dürfen, ohne
Erfolg. Die zur Zustimmung angefragte ... führte aus, der Schwerpunkt der Arbeit des Klägers Ziffer 1 sei in K. Erfolglos blieb auch das Begehren,
im Jahr 2000 wegen des damaligen Arbeitsplatzes des Klägers Ziffer 1 in K. nach L. umziehen zu dürfen. Die Stadt L. verweigerte ihre
Zustimmung, da die Kläger keinen Wohnraumnachweis vorgelegt hätten.
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In den Folgejahren blieben sowohl Asylfolgeanträge der Kläger als auch Anträge auf Erteilung humanitärer Aufenthaltserlaubnisse ohne Erfolg.
Das Verwaltungsgericht Stuttgart stellte in seinem Urteil vom 9.7.2009 - 1 K 193/08 - zur Begründung des Fehlens eines
Aufenthaltserlaubnisanspruchs unter anderem darauf ab, dass die Kläger nicht über ausreichenden Wohnraum verfügten. Denn sie wohnten seit
dem Jahr 1996 in einer Flüchtlingsunterkunft, die inzwischen Obdachlosenunterkunft sei. Zudem verwirkliche der Kläger Ziffer 1 durch eine mit 60
Tagessätzen geahndete Straftat einen Ausschlussgrund. Im letztlich erfolglos bleibenden Antrag auf Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil
führte das Landratsamt mit Schriftsatz vom 28.9.2009 unter anderem aus, die Kläger verfügten nicht über ausreichenden Wohnraum. Dies
könnten sie ändern, denn ein Umzug innerhalb der Gemeinde H. sei ihnen ohne Weiteres möglich. Ein Umzug in eine andere Gemeinde
(innerhalb bzw. außerhalb des Landkreises) setze einen entsprechenden Antrag auf Änderung ihrer Wohnsitzauflagen voraus. An dieser
Antragstellung seien die Kläger nie gehindert gewesen.
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Mit Schriftsatz vom 7.6.2010 beantragten die Kläger beim Landratsamt, die Beschränkung ihrer Wohnsitznahme auf H. aufzuheben. Denn sie
hätten inzwischen in der benachbarten Kreisstadt eine Wohnung angemietet.
7
Daraufhin schrieb das Landratsamt die Ausländerbehörde der Stadt L. an und bat sie nach Nrn. 2.11.2.2 i.V.m. 2.5.3.1 der VwV Asyl/Rückführung
um Zustimmung zur Aufhebung der Wohnsitzauflagen. Mit Schreiben vom 23.6.2009 verweigerte die Stadt L. ihre Zustimmung, da der
Lebensunterhalt der Kläger nicht auf Dauer gesichert sei. Denn das Arbeitsverhältnisse eines der Kläger sei nur bis zum Juli 2010 befristet.
8
Mit Bescheid vom 30.6.2010 lehnte das Landratsamt daraufhin den Antrag auf Aufhebung der Wohnsitzauflagen der Kläger ab. Zur Begründung
wurde ausgeführt, Rechtsgrundlage für die Auflagen sei § 61 Abs. 1 Satz 2 AufenthG. Nach dieser Bestimmung könnten über die gesetzlich
vorgeschriebene räumliche Beschränkung auf das jeweilige Bundesland hinaus weitere Bedingungen und Auflagen angeordnet werden. Im
Falle der Kläger habe die untere Aufnahmebehörde 1996 eine Zuweisungsverfügung nach H. erlassen. An diese Entscheidung sei die
Ausländerbehörde aufgrund von § 51 Abs. 6 AufenthG bis heute gebunden. Die einzige Möglichkeit, sie aufzuheben, scheitere an der fehlenden
Zustimmung der Stadt L.
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Gegen diesen Bescheid erhoben die Kläger mit Schreiben vom 5.7.2010 Widersprüche.
10 Diese wies das Regierungspräsidium Stuttgart mit Bescheid vom 29.7.2010 zurück. Die streitigen Wohnsitzauflagen seien zu Recht verfügt
worden. Maßgebend dafür sei Nr. 5.2 der Verwaltungsvorschrift des Innenministeriums zur Durchführung des Flüchtlingsaufnahmegesetzes
(VwV-FlüAG). Nach dieser Bestimmung hebe im Falle der sogenannten Anschlussunterbringung nach abgeschlossenen Asylerstverfahren die
zuständige Ausländerbehörde die aus dem Asylverfahren bestehende Wohnsitzauflage auf und verfüge gleichzeitig eine Wohnsitzauflage für die
Gemeinde der Anschlussunterbringung. Damit solle sichergestellt werden, dass abgelehnte Asylbewerber, die grundsätzlich ausreisepflichtig
seien, nicht unkontrolliert umziehen. Die Auflage diene somit insbesondere der besseren ausländerrechtlichen und auch polizeilichen Kontrolle
dieses Personenkreises. Zudem bestehe ein erhebliches öffentliches Interesse daran, auch abgelehnte Asylbewerber im Blick auf die damit
verbundenen finanziellen und sozialen Belastungen gleichmäßig auf die Kommunen zu verteilen. Schließlich solle einer Ghettobildung
entgegengewirkt werden. Im Übrigen wäre es befremdlich, Personen, deren Asylantrag unanfechtbar abgelehnt worden sei, besser zu stellen,
als noch im laufenden Asylverfahren. Ein Wechsel des Wohnsitzes sei dann nur noch mit Zustimmung der Ausländerbehörde des angestrebten
Wohnortes möglich, die aber hier zu Recht versagt worden sei.
11 Am 26.8.2010 haben die Kläger Klagen erhoben. Zur Begründung führen sie aus, nach der langen Zeit ihres Voraufenthalts und ihrer
Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet könne ihr Wohnsitz nicht auf das vergleichsweise kleine H. beschränkt bleiben. Die Klägerin Ziffer 2 befinde
sich seit 1999 ununterbrochen in einem Arbeitsverhältnis. Der Kläger Ziffer 1 sei zwar zwischen Juli und Dezember 2010 arbeitslos gewesen,
habe aber seit Januar 2011 wieder einen Arbeitsvertrag über eine Teilzeitbeschäftigung mit 25 Wochenstunden in L. Ihr gemeinsames
Bruttoarbeitseinkommen betrage dann voraussichtlich 2.100 EUR. Hinzu komme, dass der Kläger Ziffer 1 an etlichen Krankheiten leide und
sämtliche ihn behandelnden Ärzte ihre Praxen in L. hätten. Das Landratsamt verhalte sich widersprüchlich, wenn es ihnen in Verfahren auf
Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen vorhalte, sie hätten keine ausreichende Unterkunft, aber andererseits Möglichkeiten, solche Unterkünfte
zu erhalten, unterbinde.
12 Die Kläger beantragen,
13
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids des Landratsamts L. vom 30.6.2010 und des Widerspruchsbescheids des
Regierungspräsidium Stuttgart vom 29.7.2010 zu verpflichten, die Beschränkung ihres Wohnsitzes auf H. aufzuheben.
14 Der Beklagte beantragt,
15
die Klage abzuweisen.
16 Er führt aus, zwar seien die Wohnsitzauflagen hier nicht auf § 46 Abs. 1 AufenthG gestützt worden und ihre Aufrechterhaltung könne auch nicht
über § 51 Abs. 6 AufenthG oder § 56 Abs. 3 AsylVfG gerechtfertigt werden. Rechtsgrundlage sei vielmehr § 61 Abs. 1 Satz 2 AufenthG. Das nach
dieser Bestimmung eröffnete Ermessen werde im Falle der Kläger durch Nr. 5.2 der VwV-FlüAG und Nrn. 2.11.2.2 und 2.5.3 VwV
Asyl/Rückführung gelenkt. Damit könne ein Wohnsitzwechsel nur erfolgen, wenn die aufnehmende Ausländerbehörde zustimme, was hier nicht
erfolgt sei
17 In der mündlichen Verhandlung hat der Klägervertreter betont, Verwaltungsvorschriften, die einen Bezug zum Asylverfahren hätten, könnten bei
den Klägern keine Anwendung finden. Vielmehr müssten dieselben Kriterien gelten, wie bei der Verfügung von Wohnsitzauflagen nach § 12 Abs.
2 AufenthG.
18 Die Beteiligten haben einer Entscheidung durch den Berichterstatter anstelle der Kammer zugestimmt.
19 Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten, der dem Gericht vorliegenden Akten des Landratsamtes und des
Regierungspräsidiums Stuttgart sowie der auf Wunsch der Kläger beigezogenen Gerichtsakte im Verfahren 8 K 687/10 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
20 Die Klagen, über die der Berichterstatter anstelle der Kammer entscheiden kann (§ 87a Abs. 2 und 3 VwGO), sind zulässig und begründet.
A.
21 Die von den Klägern erhobenen Verpflichtungsklagen sind zulässig .
22 Sie sind insbesondere statthaft. Zwar sind sogenannte Wohn sitz auflagen (d.h., die Beschränkung des Wohnsitzes auf eine bestimmte Kommune
im Gegensatz zu den Wohnungsauflagen, d.h. der Beschränkung auf eine bestimmte Unterkunft , vgl. die in Bad.-Württ. übliche Differenzierung in
der Terminologie nach Ziff. 2.5.3.1 der VwV Asyl/Rückführung, enthalten in den Verwaltungsvorschriften des Innenministeriums zum
Ausländerrecht v. 2.11.2010, GABl. S. 504) ungeachtet dessen, ob es sich um „echte“ Auflagen (vgl. § 36 Abs. 2 Nr. 4 LVwVfG) oder um
selbständige Verwaltungsakte handelt, selbständig anfechtbar (vgl. etwa Schäfer in: GK-AufenthG, § 51 Rn. 116). Anfechtungsklagen wäre
jedoch im Falle der Kläger erfolglos geblieben. Denn ihre Wohnsitzauflagen sind nur einmalig mit der erstmaligen Erteilung von Duldungen
verfügt worden und inzwischen längst bestandskräftig. Wie die Bestimmungen des § 51 Abs. 6 AufenthG und des vor dem 1.1.2005 geltenden §
44 Abs. 6 AuslG verdeutlichen, wirken derartige Auflagen selbst beim Erlöschen der Duldungen noch fort und müssen damit nicht mit jeder
Duldungserteilung wieder neu erteilt werden (so auch Funke-Kaiser in: GK-AufenthG, § 61 Rn. 7; VG Stuttgart, Urt. v. 21.10.2009 - 11 K 3204/09 -
23 Damit ist das Begehren der Kläger darauf gerichtet, das Verfahren wiederaufzugreifen (§ 51 LVwVfG) und die bestandskräftigen
Wohnsitzauflagen wegen geänderter Umstände zu widerrufen (§ 49 LVwVfG; vgl. auch OVG Sachs.-Anh., Urt. v. 29.11.2007 – 2 L 223/06 -
Freiburg, Beschl. v. 29.6.2009 - 4 K 874/09 - ; VG Stuttgart, Urt. v. 21.10.2009, a.a.O.).
B.
24 Die zulässigen Klagen sind auch begründet . Denn sie sind gegen den richtigen Beklagten gerichtet (dazu I.) und haben in der Sache Erfolg
(dazu II.).
I.
25 Die Klagen sind zu Recht gegen das beklagte Land gerichtet.
26 Zwar wohnen die Kläger seit dem vergangenen Jahr außerhalb des Zuständigkeitsbereichs des Landratsamts im Zuständigkeitsbereich einer
kommunalen Ausländerbehörde und stellt § 3 Abs. 1 Satz 1 der Aufenthalts- und Asylzuständigkeitsverordnung (AAZuVO) für die örtliche
Zuständigkeit der Ausländerbehörden auf den gewöhnlichen Wohnsitz ab. Doch § 3 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. AAZuVO bestimmt im Falle einer
räumlichen Beschränkung des Wohnsitzes gerade den der räumlichen Beschränkung entsprechenden Dienstbezirk als Ort des gewöhnlichen
Aufenthalts, so dass das Landratsamt nach wie vor für die Entscheidung über den Fortbestand der Wohnsitzauflagen der Kläger zuständig ist.
II.
27 Die Kläger haben auch einen Anspruch gegen den Beklagten auf Wiederaufgreifen des Verfahrens und Aufhebung der bestandskräftigen
Wohnsitzauflagen , § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 51 Abs. 1 Nr. 1 und 49 Abs. 1 LVwVfG sowie § 61 Abs. 1 Satz 2 AufenthG.
28 Nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 LVwVfG hat eine Behörde auf Antrag über die Aufhebung eines unanfechtbaren Verwaltungsakts zu entscheiden, wenn
sich die dem Verwaltungsakt zugrundeliegende Sachlage zugunsten der Betroffenen geändert hat. Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Dann
ist eine Aufhebungsentscheidung nach § 48 LVwVfG oder nach § 49 LVwVfG zu treffen.
29 1. Die Kläger behaupten schon nicht, ihre Wohnsitzauflagen seien von Anfang an rechtswidrig gewesen, so dass sie sich auf § 48 LVwVfG nicht
berufen können.
30 Denn diese Bestimmung ist nach überwiegender Auffassung nur anwendbar, wenn Verwaltungsakte von Anfang an rechtswidrig gewesen sind
(vgl. etwa BVerwG, Urt. v. 23.5.1995, BVerwGE 98, 298 ; OVG Sachs.-Anh., Urt. v. 29.7.2007, a.a.O.). Das ist hier nicht erkennbar.
Rechtsgrundlage für den Erlass der Auflagen im Jahr 1998 war § 56 Abs. 3 Satz 2 des damals geltende Ausländergesetzes (AuslG), wonach
weitere Auflagen zur Duldung angeordnet werden konnten. Unmittelbar nach Abschluss der Asylerstverfahren der Kläger konnten die
Wohnsitzauflagen nach dieser Bestimmung unproblematisch ermessensgerecht zur Förderung der Ausreise der Kläger erlassen werden (vgl.
BVerfG, Beschl. v. 15.9.2005, NVwZ 2006, 447: § 56 Abs. 3 Satz 2 AuslG „erlaubt es der Ausländerbehörde … unbestrittenermaßen, durch
Nebenbestimmungen zur Duldung den Aufenthalt des Ausländers so zu gestalten, dass eine seine spätere Entfernung aus dem Bundesgebiet
hindernde Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse vermieden und der mit der weiteren Anwesenheit verbundene Aufwand an öffentlichen
Mitteln möglichst gering gehalten werden kann“).
31 2. Somit kommt als Rechtsgrundlage für die Aufhebung der bestandskräftigen Auflagen nur § 49 LVwVfG in Betracht, dessen Voraussetzungen
vorliegen.
32 Nach § 49 Abs. 1 LVwVfG kann ein zunächst rechtmäßiger nicht begünstigender Verwaltungsakt, nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz
oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft widerrufen werden, außer wenn ein Verwaltungsakt gleichen Inhalts erneut erlassen werden müsste
oder aus anderen Gründen ein Widerruf unzulässig ist. Diese Voraussetzungen liegen hier vor; das Widerrufsermessen ist aus den besonderen
Umständen des Einzelfalles sogar ausnahmsweise auf Null reduziert . Denn die für den Erlass und die Aufrechterhaltung der Auflagen
maßgeblichen Umstände haben sich nachträglich in erheblicher Weise geändert :
33 Die Rechtsgrundlage für den Erlass der Auflagen, § 56 Abs. 3 Satz 2 AuslG, ist außer Kraft getreten. Ermächtigungsgrundlage für die heutige
Aufrechterhaltung kann im Falle der Kläger nicht § 46 Abs. 1 AufenthG sein. Denn für auf diese Rechtsgrundlage gestützte Maßnahmen sind in
Baden-Württemberg nur die Regierungspräsidien zuständig (vgl. 8 Abs. 1 u. Abs. 3 Nr. 2 AAZuVO). Rechtsgrundlage für Entscheidungen über
die Aufrechterhaltung der Auflagen ist vielmehr die mit dem § 56 Abs. 3 Satz 2 AuslG vergleichbare Bestimmung des § 61 Abs. 1 Satz 2 AufenthG
, wonach bei vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländern neben einer zwingenden räumlichen Beschränkung auf das Bundesland (Satz 1)
weitere Bedingungen und Auflagen angeordnet werden können. Dem Landratsamt ist somit Ermessen eingeräumt. Diese hat sich an
aufenthaltsrechtlichen Belangen zu orientieren und muss unter Abwägung mit schützenswerten Belangen der Betroffenen dem Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit genügen (so OVG NRW, Beschl. v. 10.3.2010, AuAS 2010, 176; VG Freiburg, Beschl. v. 29.6.2009, a.a.O.; VG Stuttgart, Urt. v.
21.10.2009, a.a.O.; Funke-Kaiser, a.a.O., § 61 Rn. 35.1).
34 Im Versagungsbescheid vom 30.6.2010 in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid vom 29.7.2010 erhalten hat, werden mehrere
öffentliche Belange benannt (ausländerrechtliche und polizeirechtliche Kontrolle, Verhinderung einer Ghettobildung, gleichmäßige
Lastenverteilung auf die Kommunen). In erster Linie wird auf ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften Bezug genommen. Die
Versagungsentscheidung ist nicht schon wegen dieses Bezugs ermessensfehlerhaft (dazu a)). Eine Reduzierung des Ermessens ergibt sich im
Falle der Kläger auch nicht aus höherrangigem Recht (dazu b)), sondern aus den besonderen Umständen des Einzelfalles (dazu c)).
35 a) Die Entscheidung des Beklagten ist nicht schon deswegen ermessensfehlerhaft, weil sie sich an den ermessenslenkenden
Verwaltungsvorschriften des Landes Baden-Württemberg orientiert.
36 Maßgeblich sind dabei Ziffer 5.2 der VwV-FlüAG und Ziffern 2.11.2.2 i.V.m. 2.5.3 der VwV Asyl/Rückführung, beide enthalten in den
Verwaltungsvorschriften des Innenministeriums zum Ausländerrecht (VwV-AuslR-IM v. 2.11.2010, GABl. S. 504, zugänglich über die Homepage
des Ministeriums). Eine Ermessenslenkung durch Verwaltungsvorschriften ist gerade in solchen massenhaft anfallenden Verwaltungsvorgängen
sinnvoll und zulässig (vgl. nur BVerwG, Urt. v. 15.1.2008, BVerwGE 130, 148 zu Verwaltungsvorschriften über Wohnsitzauflagen bei anerkannten
Flüchtlingen nach der GFK). Die baden-württembergischen Richtlinien lassen auch ein zulässiges Leitmotiv für die Ermessenssteuerung
erkennen, nämlich die Erhaltung des Fortbestands einer bereits während des Asylverfahrens versuchten gleichmäßigen Verteilung der im
Verfahren befindlichen Ausländer und der damit verbundenen finanziellen Belastungen auf die Kommunen . Nach überwiegender Auffassung
gehört dieser Gesichtspunkt zu den „aufenthaltsrechtlichen Belangen“ nach § 61 Abs. 1 Satz 2 AufenthG (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 10.3.2010,
a.a.O.; VG Freiburg, Beschl. v. 29.6.2009, a.a.O.; zu eng daher wohl Ziff. 61.1.2 VwV-AufenthG mit seiner Begrenzung auf die Ausreiseförderung).
Art. 71 Abs. 3 LVerf Bad.-Württ. verpflichtet das Land auch zur Rücksichtnahme auf die finanziellen Belange der Kommunen.
37 Entgegen der Ansicht des Klägervertreters ist auch nicht zu beanstanden, dass die maßgeblichen Regelungen in Verwaltungsvorschriften
enthalten sind, die auch den Aufenthalt von Asylbewerbern betreffen. Denn nach ihrer Ziffer 2.11.2 gilt die VwV Asyl/Rückführung nicht nur für
abgelehnte Asylbewerber, die zurückgeführt werden können, sondern auch für „erfolglose Asylbewerber“, bei denen Ausreisehindernisse (auch
faktische) vorliegen.
38 Sehr zu bezweifeln ist allerdings, ob die in Baden-Württemberg maßgeblichen Verwaltungsvorschriften nachvollziehbar ausgestaltet sind. Auch
das Landratsamt hat sich zur Begründung seines Ausgangsbescheids vom 30.6.2010 gerade nicht auf die unübersichtlichen Richtlinien berufen,
sondern auf andere unzutreffende Normen. Wenig zu überzeugen vermag zudem, dass sich die Grundsatzregelung zur Lenkung einer
ausländerrechtlichen Ermessensentscheidung ausgerechnet in einer Verwaltungsvorschrift - der VwV-FlüAG - befindet, deren Ziffer 1 Satz 2
zutreffend betont, dass das zugrundeliegende Gesetz, das Flüchtlingsaufnahmegesetz (FlüAG), nicht zu ausländerrechtlichen Maßnahmen
ermächtigt. Weiter enthalten die anwendbaren Ziffern der VwV Asyl/Rückführung keinen Hinweis auf die Möglichkeit einer Durchbrechung durch
höherrangiges Recht (etwa auf Grund von Art. 6 GG im Falle einer Heirat). Schon deswegen besteht stets eine Prüfpflicht der für die
Aufrechterhaltung der Auflage zuständigen Behörde, ob die Zustimmung der aufnehmenden Ausländerbehörde rechtmäßig versagt worden ist.
39 b) Aus höherrangigem Recht ergibt sich im Fall der Kläger keine Ermessenreduzierung.
40 Abwägungsentscheidungen bedürfen nicht nur des Blicks auf den Einzelfall (vgl. nachfolgend c)), sondern stets auch der Rückbesinnung auf
wertentscheidende Grundsatznormen, die das Gewicht der abwägungsrelevanten Belange prägen. Wird dies hier beachtet, fällt auf, dass private
Rechte eines Geduldeten auf Wohnsitznahme in einer bestimmten Gemeinde regelmäßig kein hohes Gewicht zukommen kann. Denn
Freizügigkeit im Bundesgebiet genießen zunächst nur deutsche Staatsangehörige (Art. 11 Abs. 1 GG; vgl. dazu Durner in: Maunz-Dürig-Herzog,
GG, Art. 11 Rn. 61) und Art. 2 Abs. 1 des Vierten Zusatzprotokolls zur EMRK gewährleistet nur Personen, sie sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet
anderer Staaten aufhalten, das Recht auf freie Wohnsitznahme. Geduldete, d.h. sich rechtswidrig im Bundesgebiet aufhaltende Ausländer, haben
deswegen kein Recht, ihren Wohnsitz in einer bestimmten Kommune zu nehmen, sondern sind vorrangig verpflichtet, auszureisen.
Kommentierungen und Rechtsprechung zu § 61 Abs. 1 Satz 2 AufenthG, die betonen, es bedürfe „besonderer Gründe“ für eine Wohnsitzauflage
bei Geduldeten, verfehlen erkennbar diesen rechtlichen Ausgangspunkt. Vielmehr reichen einfache öffentliche Belange von geringem Gewicht
regelmäßig aus, um eine Wohnsitzauflage gegenüber Geduldeten ermessensgerecht verfügen und aufrechterhalten zu können.
41 c) Aus dem Umständen des Einzelfalles überwiegen hier jedoch die Interessen der Kläger an der Aufhebung der zunächst rechtmäßigen
Beschränkung.
42 Die durch Verwaltungsvorschriften bewirkte Ermessensbindung geht ohnehin nie so weit, dass wesentlichen Besonderheiten des Einzelfalles
nicht mehr Rechnung getragen werden könnte (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.1.2008, a.a.O.). Das Erfordernis einer individuellen
Ermessensentscheidung gebietet es deshalb, die der Behörde bekannten oder erkennbaren Belange des Ausländers zu berücksichtigen. Hier
besteht eine Fülle von Gesichtspunkten, die in ihrer Summe eine Ermessensausübung zugunsten der Kläger gebieten (Ermessensreduzierung
auf Null):
43 Sie leben seit über 12 Jahren geduldet im Bundesgebiet und die Klägerin Ziffer 2 war diese gesamte Zeit hindurch erwerbstätig, der Kläger Ziffer
1 mit Unterbrechungen. Gleichwohl lebten sie bis zu ihrem Umzug stets nur in einer Flüchtlings-/Obdachlosenunterkunft. Dieser Fakt wurde in
ausländerbehördlichen und gerichtlichen Entscheidungen zu ihrem Nachteil gewertet (vgl. § 2 Abs. 4 AufenthG). Der Umzug in eine verfügbare
Privatwohnung in der Nähe erfolgte in die ca. 10 km entfernte Kreisstadt, in welcher auch die Arbeitsplätze beider Kläger liegen. Sie verfügen
derzeit über ein gemeinsames Bruttoeinkommen von ca. 2.100 EUR im Monat, so dass ein Anspruch auf aufstockende Leistungen nicht mehr
bestehen dürfte. Vor diesem Hintergrund vermag letztlich auch das eigenmächtige Handeln der Kläger, d.h. die Anmietung und den Bezug einer
Wohnung vor Aufhebung der Beschränkung, nicht zu ihrem Nachteil durchschlagen, auch wenn im Regelfall vor Umzug ein Verfahren nach §
123 VwGO auf Verpflichtung des Träger der Ausländerbehörde zur Streichung der Wohnsitzauflage durchzuführen sein dürfte.
44 Von dieser Verpflichtung zur Streichung der bisherigen Auflagen bleibt die Befugnis der nun zuständigen Ausländerbehörde unberührt, nach
Ermessen eine erneute Beschränkung der Wohnsitznahme auf den jetzigen Wohnort zu verfügen.
C.
45 Da der Beklagte unterliegt, hat er die Kosten des Verfahrens zu tragen (§ 154 Abs. 1 VwGO).
46 Gründe, die eine Berufungszulassung durch das Verwaltungsgericht ermöglichen (§§ 124a Abs. 1 Satz 1 und 124 Abs. 2 Nrn. 3 u. 4 VwGO), sind
nicht erkennbar.