Urteil des VG Stuttgart vom 04.04.2013
VG Stuttgart: härte, aufschiebende wirkung, verzicht, befreiung, grundstück, verhinderung, verwaltungsakt, erlöschen, verbindlichkeit, breite
VGH Baden-Württemberg Beschluß vom 4.4.2013, 8 S 304/13
Leitsätze
Eine Härte im Sinne des § 56 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 LBO liegt nicht in der erschwerten
Bebaubarkeit eines Baugrundstücks, die ausschließlich Folge einer Baulast ist, und zwar selbst
dann, wenn die Voraussetzungen für einen zwingenden Verzicht auf die Baulast (vgl. 71 Abs. 3
Satz 2 LBO) erfüllt sind.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart
vom 24. Januar 2013 - 2 K 3867/12 - geändert. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs
des Antragstellers gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung des Landratsamts
Esslingen vom 9. Oktober 2012 wird angeordnet.
Der Antragsgegner und die Beigeladene tragen in beiden Rechtszügen die Gerichtskosten und
die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers je zur Hälfte und ihre eigenen
außergerichtlichen Kosten jeweils selbst.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 7.500,-- EUR festgesetzt.
Gründe
1 Die fristgerecht eingelegte und begründete sowie inhaltlich den Anforderungen des § 146
Abs. 4 Satz 3 VwGO entsprechende Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss
des Verwaltungsgerichts vom 24.01.2013 ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg. Die
in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründe (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) geben
Anlass, dem Antrag des Antragstellers auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes unter
Änderung des angefochtenen Beschlusses zur Verhinderung vollendeter Tatsachen
stattzugeben. Das Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines
Widerspruchs gegen die Baugenehmigung vom 09.10.2012 hat größeres Gewicht als das
Sofortvollzugsinteresse der Beigeladenen und des Antragsgegners (vgl. § 80 a Abs. 1 Nr. 2,
Abs. 3, § 80 Abs. 5 S. 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 212 a Abs. 1 BauGB). Denn die
Baugenehmigung verletzt den Antragsteller als Eigentümer eines unmittelbar
angrenzenden Nachbargrundstücks voraussichtlich in seinem Recht auf Beachtung der
bauordnungsrechtlich gebotenen Abstandsfläche.
2 Die Baugenehmigung verstößt nach derzeitigem Erkenntnisstand zu Lasten des
Grundstücks des Antragstellers gegen die Abstandsflächenvorschriften der §§ 5 und 7 LBO,
die nachbarschützende Wirkung haben. Die nach § 5 Abs. 7 Satz 2 LBO erforderliche
Mindesttiefe der Abstandsfläche von 2,50 m, die gemäß § 5 Abs. 2 Satz 1 LBO auf dem
Baugrundstück selbst liegen muss, wird mit der östlichen, zum Grundstück des
Antragstellers weisenden Gebäudeaußenwand unterschritten. Diese Mindesttiefe wird zwar
zur realen Grundstücksgrenze, nicht aber zu der fiktiven Grundstücksgrenze eingehalten,
die aufgrund der Abstandsflächenbaulast zu beachten ist, die im Baulastenbuch der
Gemeinde Neuhausen a. d. F. zu Lasten des Baugrundstücks in 4 m Breite entlang der
Grundstücksgrenze zugunsten des Grundstücks des Antragstellers eingetragen ist. Denn
diese Abstandsflächenbaulast hat zur Folge, dass der von ihr erfasste Teil des
Baugrundstücks bei der Berechnung der Abstandsfläche nicht berücksichtigt wird (vgl. § 7
Satz 1 LBO). Die Baulast bewirkt insofern eine fiktive Verschiebung der Grundstücksgrenze
(vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 30.07.2001 - 8 S 1485/01 - VBlBW 2002,
127). Ihre Verletzung ist daher wie eine Verletzung der Abstandsflächenvorschriften zu
werten, die auch vom Antragsteller wegen der nachbarschützenden Wirkung dieser
Vorschriften geltend gemacht werden kann (vgl. zum Ganzen auch Sauter, LBO für Baden-
Württemberg, Komm., Stand 2010, § 71 Rn. 7 m. w. N. und Rn. 8). Bezogen auf die
baulastbedingt um 4 m verschobene fiktive Grundstücksgrenze hält das Bauvorhaben nicht
die erforderliche Mindesttiefe der Abstandsfläche von 2,50 m, sondern nur eine
Abstandsflächentiefe von ca. 1 m auf dem Baugrundstück ein.
3 Die vom Landratsamt ausgesprochene Befreiung "von den Bestimmungen über
Abstandsflächen" dürfte entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts rechtswidrig
sein. Eine Befreiung von der Baulast selbst scheidet bereits deshalb aus, weil sie keine
Rechtsvorschrift i. S. des § 56 Abs. 5 Satz 1 LBO ist (vgl. Sauter, a.a.O. Rn. 52). Für eine
Befreiung von den Vorschriften der §§ 5, 7 LBO dürften die Voraussetzungen nach § 56
Abs. 5 Satz 1 LBO, dass Gründe des allgemeinen Wohls die Abweichung erfordern (Nr. 1)
oder dass die Einhaltung einer Vorschrift in den §§ 4 bis 39 LBO oder aufgrund der LBO im
Einzelfall zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führt (Nr. 2), nicht erfüllt sein. Für das
Vorliegen von Gründen des allgemeinen Wohls ist im vorliegenden Fall nichts zu erkennen.
Aber auch eine offenbar nicht beabsichtigte Härte liegt nicht vor. Eine Härte im Sinne der
Vorschrift ist, wie das Verwaltungsgericht zutreffend unter Bezugnahme auf entsprechende
Kommentarliteratur und Rechtsprechung des beschließenden Gerichtshofs (vgl. die
Nachweise im angegriffenen Beschluss) dargelegt hat, gegeben, wenn nachhaltig in die
Rechte des Betroffenen eingegriffen und ihm dadurch ein erhebliches, über die jedermann
treffenden allgemeinen Auswirkungen hinausgehendes Opfer abverlangt wird. Erfasst sind
atypische Umstände, bei deren Vorliegen die gesetzliche Regelanordnung zu fragwürdigen
Ergebnissen führen würde (Schlotterbeck in Schlotterbeck/Hager/Busch/ Gammerl, LBO,
Komm., 6. Aufl., 2011, § 56 Rn. 41). Die Härte ist offenbar nicht beabsichtigt, wenn das
Grundstück bei Einhaltung der in § 56 Abs. 5 Satz 1 LBO genannten Vorschriften nicht oder
nur schwer bebaut werden kann und diese Beschränkung nicht durch die Zielsetzung oder
den Schutzzweck dieser Vorschriften gefordert wird, wenn also die schematische
Anwendung der Vorschrift zu Ungerechtigkeiten führen würde, namentlich ein ganz
unbilliges Ergebnis zur Folge hätte.
4 Entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts fehlt bereits eine Härte. Eine solche liegt
nicht in der erschwerten Bebaubarkeit eines Baugrundstücks, die ausschließlich Folge
einer Baulast ist, und zwar selbst dann, wenn die Voraussetzungen für einen zwingenden
Verzicht auf die Baulast (vgl. 71 Abs. 3 Satz 2 LBO) erfüllt sind. Die durch eine Baulast
bewirkte Einschränkung der Bebaubarkeit eines Grundstücks (vgl. § 7 LBO) ist kein
Sonderopfer, das dem Eigentümer des mit der Baulastverpflichtung belasteten Grundstücks
abverlangt wird. Denn er hat die eingeschränkte Bebaubarkeit seines Grundstücks durch
die Baulastbewilligung selbst herbeigeführt und sich des Bebauungsrechts, das er nunmehr
- im Wege einer Befreiung - beansprucht, selbst begeben. Dies löst auch bei einem Wegfall
des öffentlichen Interesses an der Baulast weder eine atypische, eine Härte i. S. des § 56
Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 LBO begründende Sondersituation auf dem baulastpflichtigen
Grundstück noch ein unbilliges Ergebnis aus. Sofern, wie das Verwaltungsgericht
angenommen hat, das öffentliche Interesse an der Baulast nicht mehr bestehen sollte, hätte
dies nur zur Folge, dass die Baurechtsbehörde den Verzicht auf die Baulast - in einem
entsprechenden Verfahren - erklären muss (§ 71 Abs. 3 Satz 2 LBO). Gemäß § 71 Abs. 3
Satz 1 LBO kann die Baulast nur durch schriftlichen Verzicht der Baurechtsbehörde in
einem förmlichen Verfahren zum Erlöschen gebracht werden. Dieser hat
rechtsvernichtenden, also konstitutiven Charakter und kann als rechtsgestaltender
Verwaltungsakt vom Baulastbegünstigten mit Rechtsbehelfen angefochten werden (vgl.
Sauter, a.a.O. Rn. 46). Ein Verzicht auf die Baulast liegt aber - noch - nicht vor. Wegen des
konstitutiven Charakters der Verzichtserklärung behält die wirksam entstandene und
eingetragene Baulast ohne einen solchen rechtswirksam erklärten Verzicht ihre
uneingeschränkte Verbindlichkeit und bleiben ihre Wirkungen in vollem Umfang bestehen.
Die Annahme einer Härte i. S. von § 56 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 LBO kann auch nicht darauf
gestützt werden, dass der Baulastbegünstigte gegen einen Baulastverzicht der
Baurechtsbehörde möglicherweise von seinen Rechtsbehelfsmöglichkeiten mit
aufschiebender Wirkung Gebrauch macht und sich die Erteilung der Baugenehmigung
dadurch verzögert. Die Annahme einer Härte mit dieser Begründung würde vielmehr zu
einer nicht gerechtfertigten Einschränkung des gesetzlich vorgesehenen Rechtsschutzes
des Baulastbegünstigten gegen einen Baulastverzicht der Baurechtsbehörde führen.
5 Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 159 Satz 1 und 162 Abs. 3 VwGO i.V.m. §
100 Abs. 1 ZPO.
6 Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 und 52
Abs. 1 GKG. i.V.m. Nr. 1.5 und 9.7.1 des Streitwertkatalogs vom Juli 2004; insofern war der
Streitwert des Hauptsacheverfahrens anzusetzen, da es um die Verhinderung der
Schaffung vollendeter Tatsachen auf dem Baugrundstück ging.
7 Der Beschluss ist unanfechtbar.