Urteil des VG Stuttgart vom 29.10.2013
VG Stuttgart: altersgrenze, dienstzeit, lehrer, verhinderung, drg, amt, überprüfung, dokumentation, konkretisierung, ausbildung
VGH Baden-Württemberg Beschluß vom 29.10.2013, 4 S
1780/13
Leitsätze
Die eingeschränkte dienstliche Verwendungsfähigkeit eines Beamten (hier:
Polizeidienstunfähigkeit) kann dienstliche Interessen begründen, die einer Hinausschiebung des
Eintritts in den Ruhestand im Sinne des Art. 62 § 3 Abs. 1 Satz 1 DRG entgegenstehen.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Freiburg
vom 31. Juli 2013 - 3 K 1404/13 - geändert. Der Antrag wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 25.345,44 EUR festgesetzt.
Gründe
1 Die zulässige, insbesondere fristgerecht eingelegte (§ 147 Abs. 1 VwGO) und begründete
(§ 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO) sowie inhaltlich den Anforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3
VwGO entsprechende Beschwerde des Antragsgegners hat Erfolg. Das
Verwaltungsgericht hat den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu
Unrecht verpflichtet, noch vor Ablauf des 31.07.2013 den Eintritt des Antragstellers in den
Ruhestand wegen Erreichens der Altersgrenze vorläufig bis zur bestandskräftigen
Entscheidung über seinen mit Schreiben vom 19.07.2013 erhobenen Widerspruch,
längstens jedoch bis 31.07.2014, hinauszuschieben. Der Senat kommt nach Prüfung der
mit der Beschwerde dargelegten Gründe (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) zu der
Überzeugung, dass der Antragsteller das Bestehen eines Anordnungsanspruchs im
Hinblick auf die begehrte Regelungsanordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO nicht
glaubhaft gemacht hat. Dem geltend gemachten Anspruch stehen aller Voraussicht nach
vom Antragsgegner hinreichend dargelegte dienstliche Interessen entgegen.
2 Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch des Antragstellers ist die
Übergangsbestimmung des Art. 62 § 3 Abs. 1 Satz 1 des Dienstrechtsreformgesetzes vom
09.10.2010 (DRG, GBl. S. 793). Danach ist § 39 LBG bis zum Ablauf des Jahres 2028 mit
der Maßgabe anzuwenden, dass einem Antrag eines Beamten des
Polizeivollzugsdienstes auf Lebenszeit (§ 36 Abs. 3 LBG) auf Hinausschiebung des
Eintritts in den Ruhestand bis zu dem Ablauf des Monats, in dem der Beamte das 63.
Lebensjahr vollendet, stattzugeben ist, soweit dienstliche Interessen nicht
entgegenstehen. Mit dieser Bestimmung räumt der Landesgesetzgeber dem
antragstellenden Beamten einen Rechtsanspruch auf Verlängerung seiner Dienstzeit für
den Fall ein, dass dienstliche Interessen nicht entgegenstehen. Die antragsgemäße
Hinausschiebung des Eintritts in den Ruhestand wird insoweit zum Regelfall gemacht (vgl.
hierzu eingehend den Beschluss des Senats vom 15.01.2013 - 4 S 1519/12 -, Juris
m.w.N.). Nach der Begründung des Gesetzesentwurfs sollen damit im Rahmen einer
Initiative für freiwillige Weiterarbeit die Voraussetzungen für das Hinausschieben des
Eintritts des Ruhestands „erleichtert und attraktiv“ gemacht werden. Ein entsprechender
Antrag soll während der Übergangsphase nur abgelehnt werden dürfen, soweit dienstliche
Interessen entgegenstehen (vgl. LT-Drs. 14/6694 S. 376 und 607). Die
Übergangsregelung verfolgt in Anbetracht dessen ersichtlich (auch) den Zweck, es den
betroffenen Beamten zu ermöglichen oder sie sogar dazu zu bewegen, ihre Dienstzeit
freiwillig zu verlängern. Die Regelung vermeidet durch die Einräumung eines
Rechtsanspruchs zugleich eine gegebenenfalls unzulässige Diskriminierung wegen des
Alters und dient der Gleichbehandlung mit (jüngeren) Kollegen, die bis zum Erreichen
ihrer jeweiligen Altersgrenze im Dienst bleiben können (Senatsbeschluss vom
15.01.2013, a.a.O.).
3 Bei dem (negativen) Tatbestandsmerkmal der (entgegenstehenden) dienstlichen
Interessen handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der grundsätzlich der
vollen gerichtlichen Überprüfung unterliegt, ohne dass dem Dienstherrn insoweit ein
Beurteilungsspielraum zusteht (vgl. hierzu Senatsbeschluss vom 15.01.2013, a.a.O.; s.a.
BVerwG, Urteil vom 29.04.2004 - 2 C 21.03 -, BVerwGE 120, 382; Hamburgisches OVG,
Beschluss vom 05.06.2012, a.a.O.; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 06.06.2012
- 6 B 522/12 -, DÖD 2012, 206; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 23.08.2010 - 3
MB 18/10 -, Juris). Allerdings kommt dem Dienstherrn hinsichtlich der die dienstlichen
Interessen maßgeblich (vor)prägenden verwaltungspolitischen Entscheidungen über die
zur effektiven Aufgabenerfüllung erforderliche Personalstärke und den Einsatz des
vorhandenen Personals eine Entscheidungsprärogative und eine organisatorische
Gestaltungsfreiheit zu mit der Folge, dass diese Entscheidungen gerichtlich nur
eingeschränkt überprüfbar sind. Es ist in erster Linie Sache des Dienstherrn, zur
Umsetzung gesetzlicher und politischer Ziele die Aufgaben der Verwaltung festzulegen,
ihre Priorität zu bestimmen und ihre Erfüllung durch Bereitstellung personeller und
sachlicher Mittel zu sichern (BVerwG, Urteil vom 29.04.2004, Hamburgisches OVG,
Beschluss vom 05.06.2012, OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 06.06.2012,
jeweils a.a.O.). Der in verschiedenen Gesetzen verwendete unbestimmte Rechtsbegriff der
„dienstlichen Interessen“ (wie z.B. auch der „dienstlichen Belange“ oder der „öffentlichen
Interessen“) hat dabei keinen allgemeingültigen Inhalt. Er erfüllt in den einzelnen
Gesetzen nach der ihnen jeweils zugrunde liegenden Interessenlage eine
unterschiedliche Funktion. Sein materieller Sinngehalt und seine besondere Bedeutung
ergeben sich erst aus der Zweckbestimmung und Zielsetzung der jeweiligen gesetzlichen
Regelung sowie aus dem systematischen Zusammenhang, in den der Begriff
hineingestellt ist (Senatsbeschluss vom 15.01.2013, a.a.O., m.w.N.).
4 Das negative Tatbestandsmerkmal der entgegenstehenden dienstlichen Interessen
hindert das Entstehen des Anspruchs in der Art einer Einwendung. Es hängt wesentlich
von den Festlegungen des Dienstherrn ab und hat seine Grundlagen regelmäßig in der
Sphäre des Dienstherrn. Daher trifft diesen die Darlegungs- und gegebenenfalls auch
Beweislast für das Vorliegen solcher Umstände (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen,
Beschluss vom 06.06.2012, a.a.O.). Diese müssen darüber hinaus so gewichtig sein, dass
sie dem grundsätzlich eingeräumten Rechtsanspruch „entgegenstehen“. Das erfordert,
nicht zuletzt im Hinblick auf das Erfordernis, effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten (Art.
19 Abs. 4 Satz 1 GG), eine entsprechende Konkretisierung, Festlegung und
Dokumentation. Nicht jede vage und frei veränderbare Personalplanung genügt zur
Annahme eines entgegenstehenden dienstlichen Interesses, denn dies würde die
Überprüfung des Regelanspruchs auf Hinausschieben des Eintritts in den Ruhestand
weitgehend leerlaufen lassen (vgl. Senatsbeschluss vom 28.03.2013 - 4 S 648/13 -, Juris).
Berücksichtigungsfähige dienstliche Interessen können sich aber auch aus der Person
des Beamten ergeben, insbesondere wenn zu erwarten ist, dass dieser den
Anforderungen des Dienstes aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausreichend
gewachsen ist (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29.05.2013 - 6 B 201/13 -,
Juris; s.a. LT-Drs. 14/6694 S. 607). Gemessen an diesen Grundsätzen hält die Ablehnung
des Hinausschiebens des Eintritts des Antragstellers in den Ruhestand einer rechtlichen
Prüfung stand. Der Antragsgegner hat hinreichend konkrete und nachvollziehbare
dienstliche Interessen dargelegt, die einer Weiterbeschäftigung des Antragstellers
entgegenstehen.
5 Nach dem - unstreitigen - Ergebnis mehrerer polizeiärztlicher Untersuchungen ist der
Antragsteller, bei dem unter anderem eine rezidivierende depressive Störung und eine
generalisierte Angststörung diagnostiziert wurden, nicht mehr polizeidienstfähig (vgl.
hierzu das polizeiärztliche/amtsärztliche Gutachten vom 21.03./13.05./17.05.2013; s. zu
den Diagnosen auch die vorliegende Bescheinigung der W. Kliniken vom 02.10.2012),
d.h. er kann nicht mehr uneingeschränkt im Polizeivollzugsdienst verwendet werden (§ 43
Abs. 2 Satz 1 LBG). Die Polizeidienstfähigkeit orientiert sich dabei an den besonderen
gesundheitlichen Anforderungen für sämtliche Ämter der Laufbahn „Polizeivollzugsdienst“.
Sie setzt voraus, dass der Polizeivollzugsbeamte zu jeder Zeit, an jedem Ort und in jeder
seinem statusrechtlichen Amt entsprechenden Stellung einsetzbar ist (BVerwG, Urteile
vom 03.03.2005 - 2 C 4.04 -, IÖD 2005, 206 und vom 26.04.2012 - 2 C 17.10 -, ZBR 2013,
128 m.w.N.). Die insoweit beim Antragsteller bestehenden Einschränkungen können dem
geltend gemachten Weiterbeschäftigungsanspruch entgegengehalten werden, denn
Bezugspunkt der dienstlichen Interessen ist insoweit das vom Antragsteller bekleidete Amt
im statusrechtlichen Sinne als Polizeihauptkommissar der Besoldungsgruppe A 12 und
nicht der seit 2001 von ihm bekleidete Dienstposten als Fachlehrer an der Polizeischule.
Die Tatsache, dass der Antragsteller zuletzt - bis zum Erreichen der Altersgrenze für den
gesetzlichen Ruhestand - beanstandungsfrei als Lehrer an der Polizeischule
(vollzugsatypisch) verwendet werden konnte, wobei es aus ärztlicher Sicht
möglicherweise auch keine Bedenken gegen eine Fortsetzung der Lehrtätigkeit geben
mag (vgl. E-Mail des Polizeiarztes Dr. B. an den Antragsteller vom 15.05.2013), hindert
den Dienstherrn nicht daran, im Zusammenhang mit der Geltendmachung eines
Hinausschiebungsanspruchs als entgegenstehenden dienstlichen Belang anzuführen,
dass der Antragsteller nicht mehr auf (grundsätzlich) allen Dienstposten, die seinem
Statusamt entsprechen, eingesetzt werden kann. Es liegt insoweit im berechtigten
Interesse des Dienstherrn, dass nur voll einsatzfähige Beamte über die gesetzliche
Altersgrenze hinaus Dienst tun (VG Stuttgart, Beschluss vom 16.07.2012 - 3 K 2091/12 -).
6 Die erforderliche Einsatzbereitschaft der Polizei setzt ein hohes Maß an personeller
Flexibilität voraus, die der Antragsteller aufgrund seiner gesundheitlichen
Einschränkungen nicht gewährleisten kann. Auch Lehrer an der Polizeischule - wie der
Antragsteller - müssen nach den unwidersprochenen Ausführungen des Antragsgegners
als Angehörige des Polizeivollzugsdienstes bei Großlagen für den klassischen
Polizeieinsatzdienst grundsätzlich zur Verfügung stehen. Eine solche Großlage, während
der die Polizeischule geschlossen wird, ist zuletzt beim Papstbesuch in F. (2011)
eingetreten. Nur polizeidienstfähige Beamte können für solche Einsätze, die beispielweise
auch im Falle eines Terroranschlags (jederzeit) notwendig werden können, verwendet
werden. Darüber hinaus sollten auch Lehrer an der Polizeischule in der Lage sein, zur
Auffrischung ihres Wissens in einer temporären Phase wieder normalen
Polizeivollzugsdienst zu leisten, denn die Ausbildung hat einen hohen polizeipraktischen
Bezug. Es kommt entgegen den Ausführungen des Verwaltungsgerichts nicht darauf an,
ob und wann der Antragsteller tatsächlich an einem Auffrischungspraktikum teilgenommen
hat, ob eine Auffrischung in der Zeit bis Juli 2014 dringend erforderlich wäre und ob
entsprechende Einsätze regelmäßig erfolgen.
7 Zwar musste der Antragsteller im Rahmen einer zumutbaren Beschäftigungsmöglichkeit
bis zum Eintritt in den gesetzlichen Ruhestand weiterverwendet werden und konnte trotz
der gesundheitsbedingt eingeschränkten Einsatzfähigkeit als Polizeivollzugsbeamter nicht
wegen Dienstunfähigkeit vorzeitig in den Ruhestand versetzt werden (§ 43 Abs. 2 Satz 2
LBG). Die Verwendung des Antragstellers im „Innendienst“ diente der Verhinderung seiner
vorzeitigen Zurruhesetzung (vgl. hierzu auch BVerwG, Urteil vom 03.03.2005, a.a.O.; OVG
Rheinland-Pfalz, Urteil vom 08.05.2002 - 2 A 11657/01 -, NVwZ-RR 2003, 134). Das steht
aber der Annahme entgegenstehender dienstlicher Interessen wegen der eingeschränkten
Verwendungsfähigkeit im Hinblick auf die beantragte Hinausschiebung des Eintritts in den
Ruhestand über die gesetzliche Altersgrenze hinaus nicht entgegen. Die jeweilige
Ausgangssituation - einerseits Verhinderung vorzeitiger Zurruhesetzung
(Weiterverwendungspflicht bis zum Ablauf der Dienstzeit) und andererseits
Geltendmachung eines Anspruchs auf Verlängerung der Dienstzeit - unterscheidet sich
grundlegend.
8 Offen bleiben kann vor diesem Hintergrund, ob beim Antragsteller auch eine über die
Polizeidienstunfähigkeit hinausgehende allgemeine Dienstunfähigkeit vorliegt und wie die
Gefahr eines erneuten Krankheitsschubs zu bewerten ist (vgl. hierzu die ergänzende
Stellungnahme des Leiters des Medizinischen Dienstes beim
Bereitschaftspolizeipräsidium Dr. W. vom 02.07.2013, der vor dem Hintergrund der
erheblichen krankheitsbedingten Fehlzeiten des Antragstellers in den Jahren 2010 und
2012 von allgemeiner Dienstunfähigkeit ausgeht).
9 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
10 Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 5 Satz
4 und Abs. 5 Satz 1 Nr. 1, § 71 Abs. 1 Satz 2 GKG n.F. (vgl. auch Nr. II.10.2 des
Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit, NVwZ 2004, 1327). Der Streitwert
berechnet sich aus dem 6-fachen Wert des Endgrundgehalts der Besoldungsgruppe A 12
in Höhe von 4.224,24 EUR. Eine Reduzierung des Streitwerts kommt angesichts der
begehrten Vorwegnahme der Hauptsache nicht in Betracht (Nr. II.1.5 Satz 2 des
Streitwertkatalogs, a.a.O.).
11 Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).