Urteil des VG Stuttgart vom 29.01.2007

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VG Stuttgart Urteil vom 29.1.2007, A 4 K 1877/06
Gefahr der geschlechtsspezifischen Verfolgung wegen Weigerung gegen Zwangsverheiratung in der Türkei.
Leitsätze
1. Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen drohender Zwangsverheiratung
2. Zu den Voraussetzungen einer Verweisung auf eine interne Schutzmöglichkeit nach Art. 8 RL 2004/83/EG
Tenor
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 29.11.2006 wird aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Tatbestand
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Die 1983 in M. geborene Klägerin ist türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit. Sie wohnte zuletzt mit ihrer Familie in N..
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Im Dezember 2000 reist sie zusammen mit ihrem Bruder R. und dessen Familie in das Bundesgebiet ein und stellte am 10.01.2001 einen
Asylantrag.
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Mit Bescheid vom 27.03.2001 lehnte das Bundesamt den Asylantrag ab, stellte fest, dass auch keine Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG
vorliegen und drohte der Klägerin die Abschiebung in die Türkei an. Die zum Verwaltungsgericht Stuttgart erhobene Klage blieb ohne Erfolg (vgl.
Urteil vom 12.06.2002 - A 7 K 13461/01).
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Im Zusammenhang mit einem am 22.08.2002 unternommenen Abschiebungsversuch versuchte die Klägerin einen Suizid zu begehen.
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Am 13.09.2006 stellte die Klägerin einen Folgeantrag. Zur Begründung trug sie vor: Wegen der bereits im Erstverfahren geschilderten sexuellen
Belästigungen durch die Söhne des A., in dessen Haushalt sie von 1994 bis 2000 gearbeitet habe, gelte sie als entehrte Frau. Deshalb habe ihre
Familie beschlossen, sie nach ihrer Rückkehr in die Türkei gegen ihren Willen mit einem Cousin, der schon älter und bislang unverheiratet sei,
zwangsweise zu verheiraten. Dies habe ihr ihre Mutter telefonisch mitgeteilt. Sie werde sich aber nicht verheiraten lassen, eher werde sie sich
umbringen. In ihrer Familie sei es in der Vergangenheit schon häufig zu derartigen zwangsweisen Eheschließungen gekommen. Die für einen
Sohn des Cousins ihres Vaters ausgesuchte Frau sei auch im vergangene Jahr von ihrem Bruder erschossen worden, nachdem sie sich
widersetzt habe. Auch sei sie, wie sich aus dem „Psychologischen Bericht“ der PBV Stuttgart v. 30.01.2006 ergebe, in gravierendem Maß
psychisch erkrankt. Zuletzt sei sie am 02.06.2006 im Zentrum für Psychiatrie Winnenden in einem akut suizidal dekompensierten schwer
depressiven Zustand für knapp zwei Monate stationär aufgenommen gewesen und sei dort weiter laufend in Behandlung (Ärztliche
Stellungnahme v. 18.07.2006 und Ärztliches Attest v. 25.09.2006).
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Nach einer am 17.10.2006 durchgeführten informatorischen Anhörung der Klägerin, lehnte es das Bundesamt mit Bescheid vom 29.11.2006 ab,
ein weiteres Asylverfahren durchzuführen, und stellte weiter fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht vorliegen.
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Am 13.12.2006 hat die Klägerin Klage erhoben und zugleich um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht. Mit Beschluss vom 27.12.2006 (A 4 K
1878/06) hat die Kammer dem vorläufigen Rechtsschutzbegehren entsprochen.
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Die Klägerin beantragt,
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den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 29.11.2006 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten festzustellen,
dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen.
10 Die Beklagte ist der Klage aus den Gründen des angegriffenen Bescheids entgegen getreten.
11 Das Gericht hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung unter Hinzuziehung eines Dolmetscher persönlich angehört.
12 Dem Gericht lagen die vom Bundesamt geführten Akten des Erst- und Folgeverfahrens vor.
Entscheidungsgründe
13 Die zulässige Klage hat Erfolg. In der Person der Klägerin sind die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG erfüllt.
14 Zunächst ist festzuhalten, dass die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens nach § 71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51
Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen. Insbesondere hat die Klägerin die Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG eingehalten. Die ausführliche Anhörung der
Klägerin in der mündlichen Verhandlung zu diesem Sachverhaltskomplex ergab folgenden glaubhaften Sachverhalt: Die Klägerin hatte schon
seit längerer Zeit andeutungs- und gerüchteweise von diesbezüglichen Plänen der Familie gehört, so hatte ihre erstmals im Jahre 2002 eine
Cousine in Köln berichtet. Im Mai des letzten Jahres hatte sie mit ihrer Mutter telefoniert, die sie vor vollendete Tatsachen gestellt und ihr
mitgeteilt hatte, dass alles beschlossen sei und sie keine Wahl habe. Dies hatte sie so mitgenommen, dass sie für knapp zwei Monate in
Winnenden stationär aufgenommen werden müssen. Sie hatte aber immer noch die Hoffnung, dass die Sache an ihr vorübergehen werde, und
deshalb dann nach ihrer Entlassung nochmals Anfang August mit ihrer Mutter telefoniert, in der Hoffnung, sie umstimmen zu können. Die Mutter
hatte ihr aber unzweideutig gesagt, dass der Entschluss der Familie feststehe. Nach diesem Gespräch war der Klägerin klar geworden, dass sie
nicht mehr hoffen könne. Angesichts dieses Ablaufs der Ereignisse ist es nach Überzeugung des Gerichts bei derartigen sich kontinuierlich
entwickelnden Sachverhalten gerechtfertigt, einen durchaus großzügigen Maßstab anzuwenden und den Lauf der Frist erst dann beginnen zu
lassen, wenn die Betroffene mit Sicherheit von einer endgültigen Änderung der Sachlage ausgehen kann, somit im August 2006 (vgl. auch GK-
AsylVfG § 71 Rn. 166 f.).
15 Insbesondere nach der in der mündlichen Verhandlung erfolgten Anhörung der Klägerin ist das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass die
Klägerin wahrheitsgemäße Angaben macht und sie demzufolge, konkret damit rechnen muss, im Falle ihrer Rückkehr gegen ihren Willen
verheiratet zu werden. Ob sie im Falle ihrer Weigerung, wie in ihrer Familie im Jahre 2005 geschehen, mit einer Tötung zu rechnen haben wird,
lässt das Gericht allerdings ausdrücklich offen. Immerhin ist, wie bereits im Beschluss vom 27.12.2006 ausgeführt, bemerkenswert und
befremdlich, mit welcher Gleichgültigkeit die Mutter auf die Tötung im Jahre 2005 ihr gegenüber reagiert hatte. Dabei handelt es sich um ein im
Osten und Südosten der Türkei weit verbreitetes Phänomen (vgl. ausführlich BAMF, Türkei, Sozialpolitischer Jahresbericht u.a., Nov. 2006, 20).
Eine derartige Entwicklung der Dinge erscheint dem Gericht auch vor dem Hintergrund der Vorgeschichte der Klägerin plausibel. Zwar waren der
Klägerin im Erstverfahren die geschilderten Gründe nicht im Einzelnen geglaubt worden, gleichwohl ist das Gericht auch unter Berücksichtigung
des jetzigen Vortrags überzeugt, dass es einen glaubhaften Kern des Vortrags gibt, der allerdings zu Recht damals nicht zu einer positiven
Entscheidung führen konnte. Hiernach geht das Gericht davon aus, dass die Klägerin im Hause A. zumindest sexuellen Belästigungen
ausgesetzt war, weshalb sie dann in der Folgezeit als - wie sie sagt - entehrte Frau angesehen wurde und wird, weshalb auch die zwangsweise
Verheiratung mit einem älteren noch unverheirateten Verwandten durchaus in die gängigen Muster passt.
16 Der Klägerin droht daher konkret eine an das Geschlecht anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 S. 3 AufenthG. Für die weitere
Beurteilung legt das Gericht die Regelungen der Richtlinie 2004/83/EG v. 29.04.2004 (sog. „Qualifikationsrichtlinie“) zugrunde, die nach Art. 38
Abs. 1 bis zum 10.10.2006 umzusetzen war, was jedoch bislang nicht - jedenfalls nicht vollständig - geschehen ist, weshalb die Richtlinie seit
11.10.2006 unmittelbar anzuwenden ist. Da für die Klägerin infolge der zwangsweisen Verheiratung eine individuelle und selbstbestimmte
Lebensführung aufgehoben und ihre sexuelle Identität als Frau grundlegend in Frage gestellt wäre, liegt auch - jedenfalls in der Kumulation der
Beeinträchtigungen - eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 lit. b RL vor (vgl. Art. 16 Nr. 2 AERM; Art. 23
Abs. 3 IPbpR).
17 Einen effektiven Schutz im Sinne von § 60 Abs. 1 S. 4 lit. c AufenthG (i.V.m. Art. 6 lit. c und Art. 7 Abs. 2 RL) vermag der türkische Staat in diesem
Zusammenhang nicht zu gewähren. Denn obwohl der türkische Staat diese Verhältnisse in offiziellen Stellungnahmen missbilligt und auch
keinesfalls tatenlos geblieben ist, insbesondere was die Ahndung und Verfolgung sog. „Ehrenmorde“ betrifft (vgl. BAMF, a.a.O., 20; AA
Lagebericht v. 11.01.2007, 32 f.; sog. Fortschrittsbericht der EU v. 09.11.2005, 40), so sprechen doch die genannten Erkenntnismittel eine
deutliche Sprache, was die Grenzen dieser Maßnahmen und der Einwirkungsmöglichkeiten betrifft. Es kann allenfalls davon ausgegangen
werden, dass die Türkei am Beginn eines Umdenkungsprozesses steht, der allerdings nur in Ansätzen in die gesellschaftliche Wirklichkeit
Eingang gefunden hat.
18 Der Klägerin steht auch bezogen auf den allein maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. Art. 8 Abs. 2 RL) kein interner Schutz
im Westen der Türkei offen. Anders als die in der Rechsprechung zur sog. inländischen Fluchalternative entwickelten Kriterien (vgl. BVerfG, B.v.
10.07.1989 - 2 BvR 502/86 - NVwZ 1990, 151; v. 10.11.1989 - 2 BvR 1501/84 - NVwZ 1990, 254; vgl. auch GK-AsylVfG vor II - 3 Rn. 141 ff.) kann
eine interne Schutzmöglichkeit nicht nur dann verneint werden, wenn der Betroffenen dort auch andere Nachteile und Gefahren, die ihrer
Schwere nach eine asylerheblichen Rechtsgutsbeeinträchtigung gleichkommen, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Soweit in Art. 8
Abs. 1 RL auch die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, angesprochen ist, zielt diese Passage auf den subsidiären
Schutz im Sinne des Art. 15 RL, der im Übrigen nur eine Teilmenge der „anderen Nachteile und Gefahren“ ausmacht. Die Aufnahme des
ernsthaften Schadens in Art. 8 Abs. 1 RL ist nur dem Umstand geschuldet, dass die in Kapitel II aufgenommene Vorschrift als allgemeine Regel
für die Kapitel III und IV gleichermaßen gilt. Darüber hinaus ist dem internen Schutz - anders als bei der inländischen Fluchtalternative - eine
generalisierenden Betrachtungsweise fremd (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 30.04.1991 - 9 C 105.90 - NVwZ-RR 1992, 109; B.v. 16.06.2000 - 9 B
255.00 - Buchholz 402.240 § 51 AuslG Nr. 34), auch wenn auch hier gewisse typisierende Betrachtungsweisen nicht ausgeschlossen sind. Denn
Art. 8 Abs. 1 und 2 RL nehmen neben den dortigen allgemeinen Gegebenheiten spezifisch die persönlichen Umstände in den Blick und fragen
danach, ob gerade der Antragstellerin ein Ausweichen zumutbar ist, was nach Auffassung des Gerichts dem Tatbestandsmerkmal des
„vernünftigerweise erwartet werden kann“ gleichkommt. Ausgehend hiervon kann von der Klägerin ein Ausweichen in den Westen der Türkei
vernünftigerweise nicht erwartet werden. Dabei kann offen bleiben, ob sie dort nicht auch damit rechnen müsste, zwangsweise von Angehörigen
in ihre Heimatregion verbracht zu werden. Gleichfalls offen bleiben kann, ob generalisierend betrachtet eine allein stehende junge Frau im
Westen der Türkei Fuß fassen und ein menschenwürdiges Leben führen könnte. Denn die Situation der Klägerin ist durch persönliche Umstände
gekennzeichnet, die ihr ein Ausweichen dorthin unzumutbar machen. Sie ist, wie auch die mündliche Verhandlung ergeben hat, in der Türkei nur
sporadisch knapp zwei Jahre zur Schule gegangen und daher nur rudimentär des Lesens und noch weniger des Schreibens mächtig, was eine
Integration in die Lebensverhältnisse ohne jeden Beistand durch Familienangehörige erheblich erschweren wird. Dagegen kann nicht
eingewandt werden, dass sie auch hier in Deutschland ziemlich schnell Fuß gefasst hat und sogar erwerbstätig war. Denn sie hat hier von
Anfang an in der Familie ihres Bruders gelebt und hat hierdurch erhebliche Hilfestellungen erfahren. Hinzu kommt aber entscheidend, dass sie in
erheblichem Maße psychisch erkrankt ist, wie sich aus den vorgelegten Attesten und Arztberichten zweifelsfrei ergibt. Dabei kommt es nicht
entscheidend darauf an, welchen Grad an Bedrohlichkeit bzw. Konkretheit die allseits diagnostizierte Suizidalität hat. Entscheidend ist vielmehr,
dass der Klägerin nach Überzeugung des Gerichts in diesem jedenfalls prekären Zustand, der noch kürzlich eine längere stationäre Aufnahme
erforderlich gemacht hatte, das Wagnis einer Niederlassung im Westen nicht zugemutet werden kann, da hierfür unter allen Umständen ein
hohes Maß an persönlicher Stabilität unverzichtbar ist. Zur Klarstellung weist das Gericht darauf hin, dass diese Frage nichts damit zu tun hat, ob
und in welchem Maß psychische Erkrankungen in der Türkei adäquat behandelt werden können (vgl. AA Lagebericht v. 11.01.2007). Denn eine
solche Behandlung wäre nur ein langer Prozess, an dessen Ende vielleicht die notwendige Stabilität stehen würde, ganz abgesehen davon,
dass die Behandlung selbst ohne ein Mindestmaß an sicheren persönlichen Lebensumständen nicht gelingen wird. Dem Gericht ist im Übrigen
bekannt, dass eine türkische Frauenschutzorganisation mittlerweile in 20 Provinzen psychologische und rechtliche Betreuung anbietet (vgl.
Hermann in FR v. 18.06.2006; vgl. auch „Fortschrittsbericht“ der EU, S. 41). Der „Fortschrittsbericht“ beschreibt jedoch nach wie vor erhebliche
Defizite, sodass das Gericht dieses Angebot gegenwärtig lediglich als nicht gesicherte Chance begreifen kann.
19 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylVfG.