Urteil des VG Stuttgart vom 24.03.2010

VG Stuttgart (bundesrepublik deutschland, auflage, gerichtshof für menschenrechte, antrag, verhältnis zu, örtliche zuständigkeit, aufnahme, streichung, aug, zeitpunkt)

VG Stuttgart Beschluß vom 24.3.2010, 2 K 3935/09
Wohnsitzbeschränkung auf ein Bundesland; jüdischer Emigrant; Inanspruchnahme staatlicher
Sozialleistungen
Leitsätze
Eine Aufnahmezusage an einen jüdischen Emigranten im Rahmen des Verfahrens entsprechend § 1 Abs. 1
HumAG verleiht nur ein grundsätzliches Recht auf Einreise und keine aufenthaltsrechtliche Rechtsstellung.
Eine Wohnsitzauflage nach § 23 II S. 4 AufenthG wegen Inanspruchnahme staatlicher Sozialleistungen (hier:
jüdischer Emigrant) verstößt regelmäßig nicht gegen Art. 2 Abs. 1 des Protokolls Nr. 4 zur EMRK.
Tenor
1. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für den ersten Rechtszug und auf Beiordnung von
Rechtsanwalt R., wird abgelehnt.
2. Der Antrag wird abgelehnt.
3. Die Kosten des Verfahrens trägt die Antragstellerin.
4. Der Streitwert wird auf 2.500 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
1
Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die vorläufige Streichung einer
wohnsitzbeschränkenden Auflage.
2
Die 1954 geborene Antragstellerin ist ... Staatsangehörige und jüdische Emigrantin.
3
Am 14.06.1999 beantragte sie eine Aufenthaltserlaubnis für die Bundesrepublik Deutschland. Mit Schreiben
vom 30.11.1999 übermittelte das Bundesverwaltungsamt den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis
an die Landesaufnahmestelle für ausländische Flüchtlinge in Karlsruhe mit der Bitte um Erteilung einer
Aufnahmezusage. Die Aufnahmezusage wurde am 15.12.2004 erteilt. Dieser Bescheid wurde der
Antragstellerin am 21. November 2006 ausgehändigt. Die Antragstellerin erhielt am 01.11.2007 ein Visum und
reiste am 22.11.2007 in die Bundesrepublik ein. Am 06.12.2007 erhielt die Antragstellerin eine
Niederlassungserlaubnis gemäß § 23 Abs. 2 AufenthG mit der Auflage, den Wohnsitz (nur) in Baden-
Württemberg zu nehmen.
4
Die Antragstellerin schloss mit der Firma ...-Verpackungsservice in N. ab dem 01.11.2008 einen unbefristeten
Arbeitsvertrag ab, wobei eine sechsmonatige Probezeit vereinbart wurde. Zu diesem Zeitpunkt zog die
Antragstellerin nach N. - trotz der bestehenden wohnsitzbeschränkenden Auflage - um und meldete sich dort
polizeilich an. Allerdings stimmte die ARGE ... mit Schreiben vom 25.09.2008 und 27.11.2008 einem Umzug
nach N. zu und stellte ihre Leistungen ein.
5
Nach Aktenanforderung durch die Stadt N. und Vorsprache der Antragstellerin bei der Ausländerbehörde wegen
der wohnsitzbeschränkenden Auflage sah die Stadt N. auch nach Einholung verschiedener Unterlagen von der
Entscheidung über die Aufhebung der beschränkenden Auflage bis zum Ablauf der Probezeit ab. Die
Antragsgegnerin hatte zuvor mit Schreiben vom 26.03.2009 mitgeteilt, dass aus ihrer Sicht keine Bedenken
gegen die Streichung der wohnsitzbeschränkenden Auflage bestünden.
6
Am 02.07.2009 informierte die Antragstellerin die Ausländerbehörde in N. darüber, dass sie mit Ablauf der
Probezeit Ende April 2009 ihre Arbeit verloren habe.
7
Mit Schreiben vom 02.07.2009 teilte die Stadt N. daraufhin der Antragstellerin mit, dass sie am 01.11.2008
ohne Genehmigung nach N. gezogen sei. Die eingeräumte Chance zur Sicherung des Lebensunterhalts hätte
sie nicht wahrnehmen können. Sie sei deshalb verpflichtet, sich umgehend in den Bereich der für sie
zuständigen Ausländerbehörde in Backnang zu begeben. Die Ausländerakte wurde an die Antragsgegnerin
zurückgegeben. Ferner wurde der Antragsgegnerin mitgeteilt, dass die Stadt N. einer Änderung der
wohnsitzbeschränkenden Auflage nicht zustimme.
8
Mit Bescheid vom 21.09.2009 wurde der Antrag auf Streichung der wohnsitzbeschränkenden Auflage
abgelehnt. Hiergegen richten sich Widerspruch und Klage. Am 20. Oktober 2009 hat die Antragstellerin einen
Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz beim Verwaltungsgericht in Stuttgart gestellt.
II.
9
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe war abzulehnen, da die beabsichtigte Rechtsverfolgung
keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 ZPO). Denn der Antrag auf
Erlass einstweiligen Rechtsschutzes wird voraussichtlich erfolglos bleiben, wie sich aus Folgendem ergibt:
10 Die Antragstellerin begehrt die wohnsitzbeschränkende Auflage in der am 07.12.2007 erteilten
Niederlassungserlaubnis zu streichen, hilfsweise die Auflage bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache
auszusetzen. Diese Anträge bleiben erfolglos. Zwar kann das Gericht nach § 123 VwGO eine einstweilige
Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht (Anordnungsgrund) dass durch
Veränderung eines bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts eines Antragstellers vereitelt
werden könnte (Anordnungsanspruch). Zu berücksichtigen ist, dass es sich hierbei nur um einen vorläufigen
Rechtsschutz handelt. Das Gericht kann regelmäßig nur vorläufige Regelungen treffen und dem Antragsteller
nicht schon in vollem Umfang das gewähren, was er nur im Hauptsacheprozess erreichen könnte. Von diesem
Grundsatz kann vorliegend auch keine Ausnahme gemacht werden. Eine solche setzt voraus, dass die
Regelung für die Gewährung effektiven Rechtsschutzes schlechterdings notwendig ist, d. h., wenn die sonst zu
erwartenden Nachteile für die Antragstellerin unzumutbar und im Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen
wären, und ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg auch in der Hauptsache spricht (vgl.
Kopp/Schenke, VwGO 2007, RdNr. 14 zu § 123).
11 Die Kammer vermag derzeit einen solchen hohen Grad der Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg in der
Hauptsache nicht erkennen.
12 Nach der gebotenen aber auch ausreichenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage hat die
Antragstellerin wohl keinen Anspruch auf Streichung ihrer Niederlassungserlaubnis beigefügten
Wohnsitzauflage.
13 Rechtsgrundlage für die begehrte Aufhebung der bestandskräftigen Wohnsitzauflage sind die §§ 48 Abs. 1, 49
Abs. 1 LVwVfG i.V.m. § 23 Abs. 2 Satz 4 AufenthG. Dabei geht die Kammer davon aus, dass eine
wohnsitzbeschränkende Auflage unabhängig von einem Aufenthaltstitel angefochten werden wie auch allein
deren Aufhebung beantragt werden kann (vgl. schon BVerwG, Urt. v. 19.03.1996 - DVBl 1997, 165). In beiden
Fällen kommt es entscheidend darauf an, ob das der Antragsgegnerin eingeräumte Ermessen zur
Entscheidung über Rücknahme oder Widerruf der Auflage so weit eingeschränkt ist, dass nur eine Aufhebung
in Betracht kommt. Denn nur in diesem Fall kann das Gericht eine entsprechende einstweilige Anordnung nach
§ 123 VwGO erlassen (vgl. Kopp/Schenke, VwGO 2007, § 123 RdNr. 12 und 25).
14 Die Antragsgegnerin hat die Ablehnung der Streichung der Wohnsitzauflage mit der Begründung abgelehnt,
dass eine solche nach der geltenden Erlasslage (vgl. Anordnung des Innenministeriums nach § 23 AufenthG
über die Aufnahme jüdischer Zuwanderer und ihrer Familienangehörigen aus der ehemaligen Sowjetunion - mit
Ausnahme der baltischen Staaten - vom 10. Februar 2006; Az.: 4-13-GUS/6 und Umlaufbeschluss der
Innenministerkonferenz vom 18.11.2005 betreffend die Aufnahme jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen
Sowjetunion - mit Ausnahme der baltischen Staaten -, Az.: IV E 3.10) nicht möglich sei. Dabei ist es
grundsätzlich nicht zu beanstanden, dass - wie hier - das Ermessen im Einzelfall durch bundeseinheitliche
Ländererlasse gelenkt wird und sich die Vorgaben der Erlasse nicht auf einzelne Ausländer, sondern auf
Gruppen von Ausländern beziehen (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.01.2008, BVerwGE 130, 148 ff.).
15 Die Antragstellerin hat nicht gerügt und es ist auch sonst nicht erkennbar geworden, dass die Antragsgegnerin
die Erlasse fehlerhaft angewendet hätte.
16 Die Antragstellerin meint vielmehr, sie habe deshalb einen Anspruch auf Aufhebung der Auflage, weil ihr ein
Flüchtlingsstatus zukomme. Dann würden aber Wohnsitzauflagen gegenüber anerkannten Flüchtlingen, die
Sozialhilfeleistungen beziehen, nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwGE 130,
148 ff.) gegen Art. 23 GFK verstoßen, wenn sie zum Zweck der angemessenen Verteilung öffentlicher
Sozialhilfelasten verfügt worden sind. Gerade dies sei hier der Fall.
17 Der Antragsstellerin steht aber ein Flüchtlingsstatus nach der GFK nicht zu.
18 Zu der Anwendung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann man tatsächlich dann gelangen,
wenn man mit dem 19. Senat des Bayrischen Verwaltungsgerichtshofs (vgl. Beschluss v. 07.08.2008,
InfAuslR 2009, 98 ff.) davon ausgeht, dass jüdische Immigranten aus der ehemaligen Sowjetunion aufgrund
des Beschlusses der Ministerpräsidentenkonferenz vom 09. Januar 1991 die Rechtsstellung eines
Kontingentflüchtlings entsprechend § 1 Abs. 1 HumHAG, [Gesetz über Maßnahmen für im Rahmen
humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge vom 22. Juli 1980 (BGBl. I 1980, 1057)] erhalten haben
und sich auch ohne Vorliegen eines Verfolgungsschicksals auf den Schutz eines Abschiebungsverbotes nach
Art. 33 GfK bzw. § 60 Abs. 1 AufenthG berufen können. Außerdem müsste aus § 102 Abs. 1 Satz 1 und § 103
AufenthG gefolgert werden, dass der bisherige besondere ausländerrechtliche Status der jüdischen Zuwanderer
auch nach Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes unangetastet bleiben soll. Ob man dieser Rechtsmeinung
folgt (a. A. etwa Bay.VGH, Urt. v. 29.07.2009 InfAuslR 2010, 26 f.) oder nicht ist wohl nicht
entscheidungserheblich, da die Antragstellerin die Rechtsstellung eines Kontingentflüchtlings entsprechend § 1
Abs. 1 HumHAG aller Voraussicht nicht inne hat.
19 Das HumHAG ist seit dem Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes zum 01.01.2005 nicht mehr in Kraft. Seit
diesem Zeitpunkt werden jüdische Emigranten im Rahmen des § 23 Abs. 2 AufenthG in die Bundesrepublik
Deutschland aufgenommen. Wie dessen Wortlaut zeigt, handelt es sich hierbei um eine Aufnahme bei
besonders gelagerten politischen Interessen und nicht um eine Aufnahme, die unter Berücksichtigung von
Flüchtlingseigenschaften erfolgt (vgl. zur Gesetzesbegründung BT-Drs. 15/420/420 [77f] zu § 23 Abs. 2). Der
Antragstellerin ist allerdings einzuräumen, dass die Aufnahmezusage am 15.12.2004 und damit noch zu einem
Zeitpunkt ausgesprochen wurde, als das HumHAG noch in Kraft war. Damit kann man von einem „Erteiltfall“ im
Sinne der Anordnung des Innenministeriums vom 10. Februar 2006 sprechen. Bei der Aufnahmezusage handelt
es sich jedoch nur um ein grundsätzliches Recht auf Einreise in die Bundesrepublik Deutschland und nicht um
das Verleihen einer wie auch immer gearteten Rechtstellung. Dies ergibt sich daraus, dass nach der Anordnung
des Innenministeriums vom 10. Februar 2006 (vgl. I Ziffer 3.1 und 3.2 und II Ziffer 1.4) Rechte aus
Aufnahmezusagen erlöschen oder widerrufen werden können. Es folgt aber auch aus dem unmittelbaren
Wortlaut von § 1 Abs. 1 HumHAG. Es spricht deshalb viel dafür, dass erst mit der Aufnahme, d. h. mit dem
Erteilen eines Aufenthaltstitels eine Rechtsstellung erworben wird. Für die Antragstellerin bedeutet dies, dass
sie mit dem Aufenthaltstitel vom 07.12.2007 eine Rechtstellung nach § 27 Abs. 2 AufenthG erlangt hat.
20 Die Antragstellerin meint weiter, dass ihr ein Anspruch auf Beseitigung der wohnsitzbeschränkenden Auflage
wegen Art. 2 des „Protokolls Nr. 4 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechts und Grundfreiheiten
zustehe, durch das gewisse Rechte und Freiheiten gewährleistet werden, die nicht bereits in der Konvention
oder im ersten Zusatzprotokoll enthalten sind“ (BGBl. Nr. 434/1969 i.d.F. BGBl. III Nr. 30/1998).
21 Artikel 2 Abs. 1 des Zusatzprotokolls lautet:
22
Jedermann der sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Staates aufhält, hat das Recht, sich dort frei
zu bewegen und seinen Wohnsitz frei zu wählen.
23 Absatz 3 des Artikels 2 lautet:
24
Die Ausübung dieser Rechte darf keinen anderen Einschränkungen unterworfen werden als denen, die
gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen oder der
öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, der Verhütung von Straftaten,
des Schutzes der Gesundheit oder der Moral oder des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer
notwendig sind.
25 Die erkennende Kammer geht davon aus, dass unter Beachtung dieser Grundsätze zum gegenwärtigen
Zeitpunkt noch nicht davon gesprochen werden kann, dass eine Ermessensreduzierung stattgefunden hat,
weshalb die angefochtene Entscheidung rechtswidrig sein dürfte.
26 Entsprechend der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu Art. 8 EMRK (vgl. etwa
Beschl. v. 19.06.2001, InfAuslR 2002, 16) wird davon ausgegangen, dass Art. 2 des Protokolls Nr. 4
Freizügigkeitsbeschränkungen nicht schlechthin untersagt, sondern lediglich an die Voraussetzung knüpft,
dass dies nur zu einem der in Art. 2 Abs. 3 zugelassenen Ziele und nur im Rahmen der Verhältnismäßigkeit
erfolgen darf. Der mit einer wohnsitzbeschränkenden Auflage erstrebte Zweck einer gleichmäßigen Verteilung
von Sozialhilfelasten zwischen den Kommunen und Ländern dient der Aufrechterhaltung der öffentlichen
Ordnung und ist damit ein grundsätzlich rechtlich nicht zu beanstandender Zweck, der ein legitimes Ziel einer
gesetzlichen Regelung sein kann (vgl. zur Situation bei Spätaussiedlern, BVerfG, Urt. v. 17.03.2004, BVerfGE
110, 177 ff.).
27 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte betont in ständiger Rechtsprechung (vgl. etwa Urteil vom 07.
Dezember 1976 [Handyside] EUGRZ 77, S. 38 Rdn. 48 und Urteil vom 16.12.1997 [Camenzid], ÖJZ 1998, 787
ff., Reports of judgement and decsions Recueil des arrêts et décisions, Heymann 2006, 1997, XIII, 2880-2901
Rdn. 45), dass die in der Konvention und Protokollen genannten Rechtfertigungsgründe grundsätzlich eng
auszulegen sind und in einer demokratischen Gesellschaft nur solche Beschränkungen der Grundfreiheiten als
notwendig angesehen werden können, die durch ein „zwingendes soziales Bedürfnis“ veranlasst sind und
nimmt auf dieser Grundlage eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor.
28 Die Regelung der Wohnsitzauflage in § 23 Abs. 2 Satz 4 AufenthG soll auch Fallkonstellationen bewältigen, bei
denen unterstützungsbedürftige Personen in anhaltend großer Zahl in die Bundesrepublik Deutschland
einreisen und Bund, Ländern und Gemeinden daraus erhebliche Lasten der Unterbringung, Unterstützung und
Eingliederung erwachsen. Eine Steuerung mit dem Ziel der Lastenverteilung - wie sie hier offenbar erfolgt ist -
stellt deshalb einen hinreichend gewichtigen Gemeinwohlbelang dar.
29 An der Geeignetheit der Wohnsitzauflage zur Vermeidung der Verschiebung von Sozialhilfelasten bestehen
nicht schon deshalb Zweifel, weil nach § 98 Abs. 1 Satz 1 SGB XII die örtliche Zuständigkeit vom
tatsächlichen Aufenthalt des Leistungsberechtigten abhängt. Gerade das im vorliegenden Fall eingeleitete
Ordnungswidrigkeitenverfahren zeigt, dass dem Staat auch ausreichende Sanktionsmittel zur Verfügung
stehen, die Einhaltung einer Wohnsitzauflage auch tatsächlich durchzusetzen.
30 Richtig ist zwar auch, dass nach der „Hartz“ Reform ein erheblicher Teil der Soziallasten letztlich von der
Bundesagentur für Arbeit getragen wird und damit grundsätzlich eine Absenkung der Sozialausgaben der
Landkreise und kreisfreien Städte zu verzeichnen ist. Dies alles macht die Wohnsitzauflage nicht per se
ungeeignet.
31 Ferner steht die Wohnsitzauflage (gegenwärtig) noch in einem angemessenen Verhältnis zu dem erstrebten
Zweck. Die Wohnsitzauflage beschränkt die Niederlassungsfreiheit nicht auf eine einzelne Gemeinde, sondern
lässt eine Wohnsitznahme in ganz Baden-Württemberg zu. Die Antragstellerin hat im vorliegenden Verfahren
keine Härtefallgesichtspunkte geltend gemacht. Allein der Hinweis, dass ihre Schwester in N. wohnt, reicht
hierfür nicht aus. Auch für die Notwendigkeit einer Beistandsgemeinschaft im familiären Umfeld, die Gefahr von
Beschränkungen im Rahmen der Religionsausübung oder die Unmöglichkeit der Wahrnehmung besonderer
Integrationschancen ist gegenwärtig nichts ersichtlich. Allerdings wird man die streitgegenständliche Auflage
wohl nicht zeitlich unbegrenzt aufrecht erhalten können. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt, nach gut zwei Jahren
Aufenthalt in der Bundesrepublik, erscheint sie jedenfalls noch verhältnismäßig.
32 Schließlich ist auch ein Verstoß gegen andere international-rechtliche Vorschriften - wie etwa gegen das
Europäische Fürsorgeabkommen - mit der Folge einer Ermessensreduzierung nicht erkennbar geworden, so
dass der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz keinen Erfolg hatte.
33 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
34 Der Streitwert für Klagen gegen eine Nebenbestimmung eines Aufenthaltstitels (hier: Wohnsitzauflage) war mit
dem vollen Auffangwert anzusetzen (vgl. etwa BVerwG, Beschl. v. 28.06.2007 - Az.: 1 C 17/07 - zitiert nach
Juris, Sächs. OVG AuAS 2008, 200 f und OVG Lüneburg AUAS 2009, 211 f). Im Hinblick auf das
durchgeführte einstweilige Rechtsschutzverfahren wurde dieser Wert halbiert.