Urteil des VG Sigmaringen vom 23.11.2016

amnesty international, syrien, illegale ausreise, asylg

VG Sigmaringen Urteil vom 23.11.2016, A 5 K 1372/16
Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bei einem Syrer im wehrdienstfähigen Alter ohne
Vorverfolgung
Tenor
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Bescheid des
Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 09.03.2016 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.
Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Tatbestand
1 Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
2 Der am ...1995 in Damaskus geborene, ledige Kläger ist syrischer Staatsangehöriger. Er verließ eigenen
Angaben zufolge im November 2014 sein Heimatland und reiste am 26.07.2015 in das Bundesgebiet ein, wo
er am 26.08.2015 einen Asylantrag stellte. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge händigte ihm im
Verwaltungsverfahren einen Fragebogen aus, um ihm die Möglichkeit einzuräumen, „in einem
beschleunigten, schriftlichen Verfahren die Gründe für [sein] Schutzersuchen im Bundesgebiet darzulegen“.
Das Ausfüllen dieses Fragebogens sei freiwillig, es bestehe aber die Möglichkeit einer „deutlichen zeitlichen
Verkürzung“ des Asylverfahrens, wenn sich aus der schriftlichen Erklärung und den vorgelegten Unterlagen
ergebe, dass dem Schutzersuchen stattgegeben werden könne; das Bundesamt habe in nahezu allen Fällen,
in denen die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei, syrischen
Staatsangehörigen Schutz gewährt. Der Kläger beantwortete in der Folge die Formularfragen schriftlich im
Ankreuzverfahren. U.a. erklärte er dabei sein Einverständnis mit einer Beschränkung seines Antrags auf die
Feststellung von Flüchtlingsschutz, den er der Formulierung des Fragebogens zufolge ohne eine persönliche
Anhörung in einem beschleunigten Verfahren erhalten könne.
3 Bei seiner persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 01.03.2016 trug der
Kläger im Wesentlichen vor, er stamme aus Dahiyat Qudsaya, Damaskus, und habe in Syrien als Koch
gearbeitet. Fragen nach der Ableistung von Wehrdienst, einer Tätigkeit für die Sicherheitsbehörden oder die
Polizei, der Mitgliedschaft in einer bewaffneten Gruppierung oder in einer politischen Organisation verneinte
er ebenso wie die Frage, ob er selbst Augenzeuge, Opfer oder Täter von Kriegsverbrechen, Übergriffen auf
die Zivilbevölkerung o.ä. geworden sei. Ihm sei nichts passiert; er habe befürchtet, zum Militär zu müssen,
habe aber auch eine bessere Zukunft gewollt und sei deshalb nach Deutschland gereist. Ferner legte der
Kläger dem Bundesamt sein syrisches Abiturzeugnis nebst Übersetzung vor sowie einen am 11.11.2015
ausgestellten Auszug aus dem Zivilregister für Personenstandsangelegenheiten. Einem entsprechenden
Aktenvermerk vom 01.03.2016 zufolge hält das Bundesamt den Kläger „zweifelsohne“ für einen Syrer.
4 Mit Bescheid vom 09.03.2016, zugestellt am 31.03.2016, erkannte das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zu, lehnte den Asylantrag im Übrigen jedoch ab. Zur
Begründung hieß es, aufgrund des ermittelten Sachverhalts sei davon auszugehen, dass ihm in seinem
Herkunftsland ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AsylG drohe. Die
Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lägen jedoch nicht vor. Eine begründete
Furcht vor Verfolgung habe er nicht glaubhaft gemacht. Er habe sich allein auf die allgemeine Gefährdung
durch den Krieg in seinem Heimatland berufen. Aus seinem Sachvortrag sei weder eine flüchtlingsrechtlich
relevante Verfolgungshandlung noch ein flüchtlingsrechtlich relevantes Anknüpfungsmerkmal ersichtlich.
5 Der Kläger hat am 08.04.2016 beim Verwaltungsgericht Sigmaringen Klage erhoben. Zu deren Begründung
trägt er im Wesentlichen vor, es liege ein objektiver Nachfluchtgrund vor, weil davon auszugehen sei, dass
das syrische Regime jeden syrischen Staatsangehörigen, der das Land verlasse bzw. fliehe, als potenziellen
Regimegegner betrachte. Hinzu komme, dass der Kläger auch als „fahnenflüchtig“ oder als Deserteur
betrachtet werde. Im Übrigen sei den Eltern und Geschwistern des Klägers die Flüchtlingseigenschaft
zuerkannt worden. Es sei schwer vorstellbar, dass die Familie des Klägers das Land aus
„flüchtlingsrelevanten Gründen“ verlassen habe, ausgerechnet er selbst aber nicht.
6 Der Kläger beantragt schriftsätzlich,
7
die Beklagte zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und den Bescheid des
Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 09.03.2016 aufzuheben, soweit er dem entgegensteht.
8 Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
9
die Klage abzuweisen.
10 Sie bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung. Ergänzend trägt sie zuletzt vor,
schwerwiegende Gründe sprächen gegen die Annahme, Flüchtlingen aus Syrien drohe - ohne Hinzutreten
individueller Gründe - im Fall einer Rückkehr allein aufgrund ihrer illegalen Ausreise, der Asylantragstellung
und des längeren Auslandsaufenthalts mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung. Hierzu
bezieht sie sich auf obergerichtliche Entscheidungen zur Zulassung von Berufungen.
11 Der Kammer liegen die Akten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vor, auch diejenigen der Eltern
des Klägers (Gesch.-Z. ...), sowie seiner Brüder A. (Gesch.-Z. ...) und Mohamad A. (Gesch.-Z. ...). Darauf, wie
auch auf den Inhalt der Gerichtsakte wird wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts verwiesen.
Entscheidungsgründe
12
Nach entsprechendem Einverständnis der Beteiligten - seitens des Klägers individuell, seitens der
Beklagten durch allgemeine Prozesserklärung vom 24.03.2016 übermittelt - entscheidet die Kammer ohne
mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
13
Die auf die Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beschränkte Klage ist zulässig und
begründet. Der Kläger hat zu dem gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen
Verhandlung einen entsprechenden Anspruch nach § 3 Abs. 1 AsylG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Soweit
der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 09.03.2016 dem entgegensteht, ist er
rechtswidrig und verletzt den Kläger daher insoweit in seinen Rechten.
I.
14
Die Flüchtlingseigenschaft ist einem Ausländer zuzuerkennen, der Flüchtling ist (§ 3 Abs. 1 AsylG, § 60
Abs. 1 AufenthG), sofern er nicht die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt (§ 3 Abs. 4
AsylG). Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge
(BGBl. 1953 II S. 559) - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) - ist der Ausländer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG,
wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen
Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes
(Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch
nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser
seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen
dieser Furcht nicht zurückkehren will. Dabei sind die in § 3 Abs. 2 und 3 AsylG aufgeführten
Ausschlussgründe zu beachten.
15
Als Verfolgungshandlung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder
Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden
Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom
04. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) -
EMRK - keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen,
einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person
davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).
16
Zwischen den in § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den
Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung
bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Die Verfolgung kann vom Staat sowie den weiteren in § 3c AsylG im
Einzelnen aufgezählten Akteuren ausgehen. Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die
Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete
Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in
diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass
er sich dort niederlässt.
17
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in
seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.09.2013 - A 11 S
689/13 -, Juris). Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ...“
des Art. 2 lit. d) der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 - QRL - abzuleitende Maßstab orientiert sich an
der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des
Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); dieser Maßstab ist kein anderer als der der
beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936). Er
setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und
relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht
besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine
qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller
festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines
vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten
Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als
unzumutbar einzuschätzen ist.
18
Nach Art. 4 Abs. 4 QRL ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen
ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar
bedroht war, in diesem Zusammenhang ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers
vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei
denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder
einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung ist bei der gebotenen richtlinienkonformen
Auslegung des Merkmals „begründete Furcht“ weiterhin zu beachten, auch wenn auf sie - anders als nach
§ 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG in der bis zum 30.11.2013 gültigen Fassung - in §§ 3 ff. AsylG oder § 60
AufenthG nicht ausdrücklich Bezug genommen wird (Zeitler, in: HTK-AuslR, Stand: 01.04.2016, § 3 AsylG,
zu Abs. 1 Nr. 3.2).
19
Dabei kann eine Bedrohung i.S.d. § 3 AsylG nach § 28 Abs. 1a AsylG gleichermaßen auch auf Ereignissen
beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch
auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland
bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 der RL 2004/83/EG bzw. RL 2011/95/EU, der
mit § 28 Abs. 1a AsylG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor
Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des
Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf
die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden
Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während des
Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit kein Filter. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen
diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylG - nicht einmal auf einer festen, bereits
im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss des
Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene
Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet
(BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27.07 -, BVerwGE 133, 31). Im flüchtlingsrechtlichen
Erstverfahren - wie hier - ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe dagegen nicht begrenzt
(BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 -, BVerwGE 133, 221; Urteil vom 24.09.2009 - 10 C 25.08 -,
BVerwGE 135, 49; vgl. zu alledem nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2011 - A 8 S 1116/11 -,
EzAR-NF 62, Nr. 26)
20
Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Asylbewerber vielfach befindet, genügt es bei
alledem, dass er die Gefahr politischer Verfolgung glaubhaft macht (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C
109.84 -, NVwZ 1985, 658, 660). Dem Asylbewerber obliegt es dabei, unter Angaben genauer
Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern (BVerwG, Urteil vom 24.03.1987 - 9 C
321.85 -, NVwZ 1987, 701 und Beschluss vom 26.10.1989 - 9 B 405.89 -, InfAuslR 1990, 38, 39). Das
Gericht muss auch in Asylstreitigkeiten die volle Überzeugung von der Wahrheit des von einem Kläger
behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus der er seine Furcht vor politischer Verfolgung herleitet
(BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, Juris).
II.
21
Nach diesen Maßstäben hat der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Er
kann zwar kein berücksichtigungsrelevantes individuelles Vorverfolgungsschicksal geltend machen, das
Beweiserleichterungen nach den vorstehend dargelegten Grundsätzen tragen könnte (dazu 1.); ihm
würden aber für den (hypothetischen) Fall einer - derzeit allenfalls freiwilligen - Rückkehr nach Syrien mit
der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen, die seine diesbezügliche
Verfolgungsfurcht begründet erscheinen lassen (dazu 2.).
22
1. Eine flüchtlingsrechtlich relevante Vorverfolgung durch den syrischen Staat oder nichtstaatliche Akteure
lässt sich dem Vorbringen des Klägers nicht entnehmen. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt am
01.03.2016 hat er dergleichen - auch auf Befragen - nicht geltend gemacht. Vielmehr hat er sich lediglich
auf seine allgemein bestehende Angst, zum Militär zu müssen, berufen und seine - durch die bewaffneten
Auseinandersetzungen in Syrien veranlasste - Ausreise auch mit der Hoffnung auf eine bessere
Zukunftsperspektive in Deutschland begründet. Ein konkret-individuelles Vorverfolgungsgeschehen in
Syrien lässt sich dem nicht entnehmen und wird auch nicht im gerichtlichen Verfahren vorgebracht. Auch
soweit er zuletzt auf die Flüchtlingsanerkennung von Familienangehörigen verweist, die ohne für den
Kläger gleichermaßen geltende „flüchtlingsrelevante Gründe“ nicht vorstellbar sei, lässt sich daraus kein
individuelles Geschehen ableiten, das zu den Beweiserleichterungen des Art. 4 Abs. 4 QRL führen könnte;
die beigezogenen Akten der in Bezug genommenen Verwandten lassen keine individuellen Gründe für die
Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erkennen.
23
2. Auch ohne Zugrundelegung eines individuellen Vorverfolgungsschicksals ist dem Kläger jedoch die
Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, weil in seiner Person Nachfluchtgründe verwirklicht sind, die zur
Überzeugung der Kammer eine Verfolgungsfurcht begründen. Für den (unterstellten) Fall einer Rückkehr
nach Syrien hätte der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen zu gewärtigen,
die an eine - wenn auch womöglich objektiv nicht vorliegende, ihm aber jedenfalls i.S.d. § 3 Abs. 2 AsylG
seitens seiner Verfolger zugeschriebene - politische Überzeugung (oder die Zugehörigkeit zu einer
bestimmten sozialen Gruppe) anknüpfen würden.
24
a) Die Kammer ist in ihrer Spruchpraxis bislang davon ausgegangen, dass syrischen Staatsangehörigen bei
und wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt im Fall der
Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal
anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. § 3 AsylG droht (vgl. statt vieler: VG
Sigmaringen, Urteil vom 19.08.2014 - A 5 K 1631/14 -, n.v.; ebenso VG Karlsruhe, Urteil vom 13.08.2013 -
A 8 K 2987/10 -, abrufbar unter www.asyl.net; VG Freiburg, Urteil vom 12.09.2013 - A 5 K 529/12 -, n.v.).
Sie hatte sich dabei im Wesentlichen die tatsächlichen Feststellungen etwa des Verwaltungsgerichts
Stuttgart (Urteil vom 15.03.2013 - A 7 K 2987/12 -; Urteil vom 20.03.2013 - A 7 K 1754/12 -, jeweils Juris)
zu eigen gemacht, nachdem seitens der Beklagten gestellte Anträge auf Zulassung der Berufung vom
Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg abgelehnt worden waren (vgl. Beschlüsse vom 29.05.2013 -
A 11 S 930/13 - und vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris; Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13
-, Juris; Beschluss vom 11.11.2013 - A 11 S 2143/13 -, n.v.).
25
Der Verwaltungsgerichtshof hatte damals seinerseits die auch in der Entscheidungspraxis der Beklagten
herangezogenen Sachverhaltsfeststellungen des OVG Nordrhein-Westfalen zugrunde gelegt (Urteil vom
14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris), wo es - wenn auch ohne Bezug zur Flüchtlingseigenschaft - u.a.
hieß:
26
„(…) Zwar war es - wie die Beklagte im angefochtenen Bescheid zutreffend ausführt - schon vor Ausbruch
der Unruhen ständige Praxis, nach einem längeren Auslandsaufenthalt Zurückkehrende einem
eingehenden Verhör durch syrische Sicherheitskräfte zu unterziehen, das sich über mehrere Stunden
hinziehen konnte. Richtig ist auch - wie der Bescheid ebenfalls zutreffend ausführt -, dass bei einer
Verbringung der Person in ein Haft- oder Verhörzentrum der Geheimdienste die Gefahr von Folter und
menschenrechtswidriger Behandlung drohte, wobei diese Verhöre unter Folter auch zur Erpressung von
Informationen über syrische Oppositionelle im Ausland und zur Erzwingung von "Geständnissen" der
inhaftierten Person dienten. Auch das Auswärtige Amt bestätigte schon für die Zeit vor Ausbruch der
Unruhen, dass Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt anwendeten,
wobei die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlungen in den Verhörzentralen der
Sicherheitsdienste als besonders hoch einzustufen sei.
27
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik
Syrien vom 27. September 2010, S. 16.
28
Es lagen jedoch bis zum Ausbruch der gegenwärtigen Unruhen keine Erkenntnisse vor, dass mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit für jedweden rückkehrenden Asylbewerber die Gefahr der Überstellung in
ein derartiges geheimdienstliches Haft- oder Verhörzentrum verbunden war. In ständiger Rechtsprechung
hat der erkennende Senat entschieden, dass unpolitischen Rückkehrern keine solche Gefahr drohte, weil
den syrischen Behörden bekannt war, dass die illegale Ausreise und das Stellen eines Asylantrags
regelmäßig kein Ausdruck politischer Opposition zum syrischen Regime war, sondern aus wirtschaftlichen
Gründen zur Erlangung eines gesicherten Aufenthaltsstatus erfolgten.
29
Zuletzt noch zu Beginn der gewaltsamen Unterdrückungsmaßnahmen Beschluss vom 24. Mai 2011 - 14 A
1186/11.A -, NRWE Rn. 9 f., für die Gefahr politischer Verfolgung.
30
Für die Zeit nach Ausbruch der Unruhen berichtet Amnesty International, dass Folter und andere
Misshandlung verbreitet und straflos in Polizeistationen und geheimdienstlichen Haftzentren angewandt
würden.
31
Amnesty International: End human rights violations in Syria, Amnesty International Submission to the UN
Universal Periodic Review, October 2011, Juli 2011, S. 6.
32
Seit Ausbruch der Unruhen sind Tausende verhaftet worden. Es liegen Erkenntnisse vor, dass Verhaftete
gefoltert oder sonst misshandelt wurden, um "Geständnisse" zu erlangen, insbesondere dass man im Sold
ausländischer Agenten stehe, oder um Namen von Teilnehmern an Protesten zu gewinnen. Verbreitet
wird geohrfeigt, geschlagen und getreten, oft wiederholt und über lange Zeiträume, teils mit Händen und
Füßen, teils mit Holzknüppeln, Kabeln oder Gewehrkolben. Angewandt werden auch Elektroschocks, oder
es werden Zigaretten auf dem Körper des Verhafteten ausgedrückt.
33
Amnesty International, Deadly Detention. Deaths in custody amid popular protest in Syria, August 2011,
S. 9 f., auch zu weiteren Foltermethoden wie Aufhängen an Handgelenken oder Fußknöcheln, zum
sogenannten Deutschen Stuhl zur Überdehnung des Rückgrats und Zusammenpressung von Hals und
Gliedmaßen und zur Autoreifenmethode.
34
Zur Überzeugung des Senats droht gegenwärtig nicht nur politisch Verdächtigen, sondern auch
rückkehrenden Asylbewerbern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verhör unter Anwendung der
vorbeschriebenen Foltermethoden. Dies ergibt sich aus der gegenwärtigen allgemeinkundigen Situation in
Syrien. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass das syrische Regime seit Ausbruch der Unruhen im März
2011 mit massiver Waffengewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vorgeht und dabei
inzwischen über siebentausend Tote und mehrere zehntausend Verhaftungen in Kauf genommen hat. Das
Regime kämpft um sein politisches - und seine Träger auch um ihr physisches - Überleben.
35
Die abschiebungsrelevante Besonderheit der gegenwärtigen Unruhen besteht darin, dass sich das Ausland
- bis auf Russland und China - gegen das syrische Regime gestellt hat, die Abdankung des
Staatspräsidenten Assad und einen Systemwandel weg von der Einparteienherrschaft der Baath-Partei
fordert. Die besondere Gefahr dieser ausländischen Parteinahme in dem innersyrischen Konflikt besteht
darin, dass auch die Arabische Liga diese Haltung eingenommen hat. Deutschland teilt diese Haltung, hat -
wie viele andere Staaten auch - seinen Botschafter zurückgerufen, beteiligt sich an ständig verschärften
Sanktionen der Europäischen Union und betreibt gegenwärtig die Schaffung einer Kontaktgruppe "der
Freunde eines demokratischen Syriens". Auf dieser außenpolitischen Lage klarer Parteinahme im
innersyrischen Konflikt beruht die vom syrischen Regime vielfach - auch von Präsident Assad - geäußerte
Auffassung, die Unruhen seien Teil einer internationalen Verschwörung gegen Syrien,
36
Vgl. zuletzt die Reden Präsident Assads am 10. und 11. Januar 2012, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom
11. Januar 2012, S. 1 f., und vom 12. Januar 2012, S. 6.
37
Bekannt ist weiter, dass Syrien an der hiesigen syrischen Exilopposition ein Interesse hat, da sie sie
geheimdienstlich ausspäht.
38
Vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 357 f.; s, auch die kürzlich erfolgte
Ausweisung vierer syrischer Diplomaten wegen der Festnahme zweier syrischer Agenten, die den Auftrag
hatten, syrische Oppositionelle in Deutschland zu beobachten, vgl. die Meldung der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung vom 10. Februar 2012, S. 2.
39
Das ist nunmehr angesichts des Überlebenskampfs des syrischen Regimes und der Intervention aus dem
Ausland in diesem Kampf mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Wie oben ausgeführt, gibt es
Erkenntnisse, dass zur Zeit Personen unter Anwendung der Folter verhört werden, um Erkenntnisse über
die innersyrische Opposition zu gewinnen. Deshalb ist es naheliegend, dass auch rückkehrende
Asylbewerber verstärkt unter diesem Gesichtspunkt möglicher Kenntnis von Aktivitäten der Exilszene
verhört werden würden. Je nach den den syrischen Behörden auf Grund geheimdienstlicher Erkenntnisse
bereits vorliegenden Informationen über die Exilszene und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten des
Verhörten, relevante Kenntnis erlangt zu haben, wird bei diesen Verhören auch die Folter eingesetzt
werden, um ein restloses Auspressen aller vorhandenen Informationen zu erreichen. Das ergibt sich aus
der bekannten Rücksichtslosigkeit der syrischen Sicherheitskräfte und der besonderen Situation des
Überlebenskampfs des Regimes vor dem Hintergrund der Intervention aus dem Ausland. Denn schon vor
dem Ausbruch der Unruhen richtete sich das Ausmaß staatlicher Repression am Umfang der Gefährdung
für die Stabilität des Regimes aus.
40
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik
Syrien vom 27. September 2010, S. 7.
41
Angesichts dieser quantitativ nicht genau abschätzbaren, aber bei der hiesigen großen syrischen
Exilgemeinde,
42
vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 358,
43
realen und ernst zu nehmenden Gefahr, selbst ohne Kenntnisse von der hiesigen Exilszene auf die bloße
Möglichkeit von Kenntnissen hin einem Verhör unter Folter unterzogen zu werden, ist einem besonnenen
und vernünftig denkenden Menschen nicht zuzumuten, jetzt als Asylbewerber nach Syrien
zurückzukehren.
(…)
44
Dem Verhör unterliegt jeder rückkehrende Asylbewerber, ebenso dem Verdacht, Kenntnis über die
syrische Exilszene zu haben. Diesem Verdacht wird nunmehr mit hoher Wahrscheinlichkeit bei jedwedem
Anhalt, der sich aus den bereits vorliegenden Erkenntnissen über die Exilszene und den Aussagen des
Verhafteten ergibt, bis zur vollständigen Abschöpfung des Verhafteten unter der Folter nachgegangen
werden. Daher befindet sich zur Zeit jeder rückkehrende Asylbewerber in der aktuellen Gefahr eigener
Betroffenheit. (…)“
45
Darauf aufbauend hatte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - in Abgrenzung zur Sichtweise
des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, a.a.O.;
ebenso aktuell zuletzt Beschluss vom 06.10.2016 - 14 A 1852/16.A -, NRWE und Beschluss vom
05.09.2016 - 14 A 1802/16.A -, NRWE, m.w.N.; vgl. dazu auch BVerfG, BVerfG, Stattgebender
Kammerbeschluss vom 14.11.2016 - 2 BvR 31/14 -, Juris) unter Bezugnahme auf die diesbezüglichen
Maßgaben aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR
1753/96 -, AuAS 1997, 6) auch die Auffassung vertreten, die geschilderten bzw. zu befürchtenden
Maßnahmen der syrischen Behörden würden an asyl- bzw. flüchtlingsrelevante Merkmale anknüpfen und
dazu ausgeführt (Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris):
46
„(…) Geht man von den oben zitierten tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts
Nordrhein-Westfalen (wie auch denen des Verwaltungsgerichts, das sich auch auf ein Urteil des OVG
Sachsen-Anhalt vom 18.07.2012 stützt) aus, so ist nach der vorgenannten Rechtsprechung die Annahme
einer fehlenden Gerichtetheit nicht nachzuvollziehen. Wenn die syrischen Behörden Rückkehrer "bis zur
vollständigen Abschöpfung" verhören, um Informationen von Aktivitäten der Exilszene zu gewinnen, so
wäre es völlig lebensfremd anzunehmen, dass sie nicht zunächst davon ausgehen, die Betroffenen hätten
im Ausland Kontakte zur Exilszene und deren Akteuren gehabt. Denn ohne derartige Kontakte ist nicht
vorstellbar, dass sie über wichtige Informationen verfügen können. Völlig allgemein gehaltene
Informationen hingegen, die jedermann auch ohne näheren Kontakt zur Exilszene gewinnen konnte,
können für die syrischen Behörden nicht von Interesse sein und wären völlig belanglos, wenn, wie das
Oberverwaltungsgericht ebenfalls festgestellt hat, der syrische Geheimdienst die Exilszene ohnehin
ausspäht, da diese dann dem Geheimdienst auch ohne Befragung von Rückkehrern bekannt sein werden.
(…) Die auf der Grundlage der Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts wie aber auch des
Verwaltungsgerichts (im angegriffenen Urteil) vorzunehmende wertende Gesamtbetrachtung des
Vorgehens, die - worauf die Beklagte zutreffend hinweist - rein objektiv zu sein hat und gerade nicht auf
die Motive des Verfolgers abstellen darf (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 u.a. -
BVerfGE 76, 143 <157, 166 f.> und vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315 <334 f.>),
ist eindeutig. (…)
47
Die schließlich in rechtlicher Hinsicht aufgeworfene Frage, "ob für die Feststellung der zur Anerkennung
von Asylrecht bzw. Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nötigen Anknüpfung bei einer drohenden
Gefährdung genügt, dass hinter der drohenden Vorgehensweise das Aufklärungsinteresse steht, ob es sich
um einen zu bekämpfenden Opponenten handelt", ist nach der oben genannten Rechtsprechung geklärt
und zu bejahen (vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772).
Im Übrigen würde sich diese nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts, wonach der syrische Staat
die hier infrage stehenden Handlungen der Rückkehrer - wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung
und der längere Auslandsaufenthalt - als Ausdruck einer von der Ideologie abweichenden Gesinnung
ansehe, auch nicht stellen. (…)“
48
In seinem Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - hatte sich der Verwaltungsgerichtshof Baden-
Württemberg auch bereits vertieft mit - z.T. noch heute vorgebrachten - Einwänden gegen diese
Sichtweise auseinandergesetzt und insbesondere etwa zu den Verfolgungsressourcen der syrischen
Sicherheitskräfte ausgeführt:
49
„(…) Wenn demgegenüber eingewandt wird, mittlerweile habe eine so hohe Zahl von Flüchtlingen das
Land verlassen, die überwiegend in Flüchtlingslagern lebten und somit wohl ganz überwiegend ohne
relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition blieben, so mag dieses so sein, hat
jedoch ersichtlich nichts mit der Situation der in Deutschland und Europa lebenden Flüchtlinge zu tun.
Denn der von der Beklagten ins Auge gefasste Personenkreis, für den deren Annahme möglicherweise
zutreffen könnte, hält sich vor Ort in der Region, wie etwa in der Türkei, im Libanon oder in Jordanien, in
Flüchtlingslagern auf. Von einer vergleichbaren Situation kann, schon unter dem Aspekt der hohen Zahl
und des möglichen Hintergrundwissens, bei den in Europa sich aufhaltenden Flüchtlingen keine Rede sein.
Jedenfalls lässt sich den Ausführungen der Beklagten nicht entnehmen, dass deren Lage überhaupt im
Wesentlichen vergleichbar sein könnte. Für die syrischen Sicherheitsorgane ist aber in aller Regel aufgrund
der mitgeführten Reisedokumente bei der Einreise ohne weiteres erkennbar, aus welchem Land bzw.
welcher Region der Welt die Einreise erfolgt. Vor diesem Hintergrund ist auch der weitere Einwand, die
syrischen Sicherheitskräfte würden angesichts der hohen Zahl von Flüchtlingen gar nicht mehr über die
erforderlichen Ressourcen verfügen und könnten auch gar kein "Abschöpfungsinteresse" mehr haben,
nicht schlüssig, da diese ohne weiteres nach der Herkunftsregion differenzieren können und im Übrigen
auch keine Anhaltspunkte dafür bestehen, die in Europa lebenden Flüchtlinge würden etwa massenhaft
gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen durchlaufen. Die Zunahme der Zahl der Flüchtlinge
spricht daher nicht im Ansatz dafür, dass die freiwillige oder zwangsweise Rückkehr nach längerem
Auslandsaufenthalt - insbesondere auch im westlichen Ausland - ehemals illegal ausgereister Syrer aus
Sicht der syrischen Sicherheitskräfte hinsichtlich einer möglichen Unterstützung von oder Kontakten mit
Regimegegnern, die derzeit auch aus Europa Verstärkung erhalten (vgl. zu Reisebewegungen und
Radikalisierung syrischer Kämpfer auch die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage vom
17.07.2013, BT-Drucks. 17/14391), nunmehr kein oder jedenfalls ein signifikant geringeres
Ausforschungsinteresse hervorrufen könnte.
50
Das Vorbringen ist aber auch aus einem anderen Grund unschlüssig und widersprüchlich. Wenn die
Beklagte nach wie vor daran festhält, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegen und
demgemäß vom Bestehen einer konkreten Gefahr (eines "real risk"), bei der Einreise Opfer einer
Misshandlung oder Folter zu werden, ausgeht, so widerspricht dieses der Annahme, dass den
Sicherheitsbehörden für eine intensive Einreisekontrolle die nötigen Ressourcen fehlen müssen. Etwas
anderes wäre nur dann anzunehmen, wenn als Grundlage der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft
ein grundlegend anderer - schärferer - Prognosemaßstab anzuwenden wäre, was aber nicht der Fall ist
(vgl. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 41 Rn. 110 ff., 129).
51
Was die - jedenfalls sinngemäß - in diesem Zusammenhang erhobenen Einwände der Beklagten gegen die
Annahme des Verwaltungsgerichts, die Maßnahmen der Sicherheitskräfte knüpften an ein asyl- bzw.
flüchtlingsrelevantes Merkmal an, betrifft, ist auch nach den Ausführungen im Zulassungsantrag für den
Senat nach wie vor (vgl. Senatsbeschluss vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13) nicht ansatzweise ersichtlich,
dass es ein realistisches anderes Erklärungsmuster geben könnte, zumal die besondere Intensität der
Eingriffe, von der die Beklagte selbst ausgeht, wenn sie sogar drohende Folter festgestellt hat, die
bestehende Gerichtetheit indizieren kann (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29.04.2009 - 2 BvR 78/08 -
NVwZ 2009, 1035). Eine abweichende Einordnung wäre gegebenenfalls dann gerechtfertigt, wenn die
Eingriffe nur die Funktion hätten, der Befriedigung sadistischer Machtphantasien der Sicherheitsorgane zu
dienen oder Gelder von Einreisenden zu erpressen, was aber in dem aktuellen Kontext eines
diktatorischen Systems, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft, einer besonderen Begründung
bedürfte. Wenn die Beklagte einräumt, die erforderliche Gerichtetheit von staatlichen Maßnahmen sei
zwar im Grundsatz durchaus zu bejahen, wenn es auch nur um die Aufklärung des Verdachts einer
abweichenden politischen Gesinnung gehe, aber darauf abstellt, dass in der vorliegenden Konstellation nur
eine Vorstufe der Ermittlungen vorliege und es lediglich um Vorfeldmaßnahmen gehe, so ist eine derartige
Differenzierung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht angelegt (vgl. Beschlüsse vom
10.07.1989 - 2 BvR 502/86 - BVerfGE 80, 315 <340>, und vom 20.12.1989 - 2 BvR 958/86 - BVerfGE 81,
142 <151>, Kammerbeschlüsse vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772, vom 28.02.1992 - 2
BvR 1608/90 - InfAuslR 1992, 215 <218>, vom 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 - InfAuslR 1993, 142
<144>, m.w.N., und vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 - AuAS 1997, 6) und auch in der Sache für den
Senat nicht nachzuvollziehen, von der mangelnden Praktikabilität einmal ganz abgesehen. Gerade im
Falle eines totalitären Regimes, das sich rücksichtslos über die Integrität und Freiheit seiner Bürger um
jeden Preis und mit jedem Mittel hinwegsetzt und sich in einem existentiellen Überlebenskampf befindet,
liegt es vielmehr nahe, dass dieses gewissermaßen bis zum Beweis des Gegenteils von einer potentiellen
Gegnerschaft bei den misshandelten und sogar gefolterten Rückkehrern ausgeht. Wenn es nach dem
tatsächlichen Ausgangspunkt der Beklagten jeden treffen kann, bei der Einreise Opfer von
Misshandlungen bis zur Folter zu werden, so bestätigt dies gerade, dass die Sicherheitsorgane - wenn
auch sicherlich völlig undifferenziert - pauschal eine Nähe, wenn nicht gar eine Verbundenheit mit der
Exilszene zunächst unterstellen und die Maßnahmen objektiv auf eine regimefeindliche Haltung gerichtet
sind. Andernfalls würden sie in einer Weise selektiv vorgehen, die es nicht rechtfertigen würde, von einem
bei jedem Einreisenden bestehenden realen Risiko von Misshandlung oder Folter auszugehen, sondern nur
dann, wenn bei den Einreisewilligen zusätzliche signifikante gefahrerhöhende Merkmal festgestellt
werden könnten. Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner weiteren grundsätzlichen Klärung in rechtlicher
Hinsicht. Bei dieser Ausgangslage stellt sich auch die Frage nach einem möglichen Politmalus nicht mehr.
(…)
52
Soweit die Beklagte unter Bezugnahme auf Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss
vom 21.02.2006 - 1 B 107.05 - juris) danach differenzieren will, ob die Ausreise freiwillig oder im Wege
der Abschiebung erfolgt, und sie die Betroffenen auf die freiwillige Ausreise verweisen will, weil hierdurch
im Falle dieser Art der Rückkehr eine Verfolgung vermieden werden könne, so lässt der Senat offen, ob
dieser Verweis mit den Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie vereinbar ist. (…) … die Argumentation der
Beklagten [ist] in tatsächlicher Hinsicht auch nicht nachzuvollziehen; sie entbehrt ausreichend dargelegter
tatsächlicher Grundlagen. Denn allein der Umstand, dass im Falle der freiwilligen Ausreise die Betroffenen
sich gegebenenfalls erst bei der Auslandsvertretung die erforderlichen Papiere besorgen müssen und dabei
die staatlichen Stellen Syriens Kenntnis über den bisherigen Auslandsaufenthalt erlangen werden, lässt
nicht die Schlussfolgerung zu, es bestehe dann später bei der Einreise kein Abschöpfungsinteresse mehr.
Die Beklagte geht von der nicht zutreffenden Annahme aus, dieses Interesse bestehe nur in Bezug auf die
Tatsache eines Auslandsaufenthalts in einem bestimmten ausländischen Staat an sich. Dieses
Erkenntnisinteresse können die Sicherheitsbehörden aber ohne weiteres bei der Einreise durch die
Kontrolle der Papiere ohne intensive Befragung befriedigen. Hierzu bedurfte und bedarf es keiner
"peinlichen" Verhöre. Außerdem kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Auslandsvertretungen
aus diplomatischen Gründen in ihren Räumlichkeiten derartige Befragungsmethoden anwenden könnten
und anwenden würden, weshalb auch insoweit weiterreichende Erkenntnisse nur im Zuge der Einreise zu
gewinnen sind. Sollte die Auslandsvertretung bei einer allgemeinen Befragung keine Erkenntnisse zu
Kontakten mit der Exilszene gewinnen, so ist auch aus ihrer Sicht nichts darüber ausgesagt, ob solche
nicht doch bestanden und - naheliegend - verschwiegen werden, weshalb dann durchaus gute Gründe für
weitere Befragungen bei der Einreise - dann aber mit anderen Methoden - bestehen können. Bei dieser
Ausgangslage könnte die Vorsprache auf der Auslandsvertretung sogar ein gefahrerhöhendes Moment
darstellen, da die Sicherheitskräfte dadurch erst auf die Betreffenden und ihren Aufenthaltsort
aufmerksam gemacht werden.
53
Ungeachtet dessen setzt die Argumentation der Beklagten ein Maß an rationalem Verhalten und
abgestimmter Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden voraus, das im Falle Syriens gerade nicht ohne
weiteres vorausgesetzt werden kann. Die Annahme der Beklagten, die freiwillige Einreise sei - im
Gegensatz zu einer Abschiebung - mit keinem beachtlichen Verfolgungsrisiko verbunden, erweist sich
hiernach als Spekulation. (…)“
54
Und auch im Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 - hieß es in diesem Zusammenhang:
55
„(…) Die rechtliche Relevanz des Einwandes, das Verwaltungsgericht hätte nicht außer Betracht lassen
dürfen, dass den Klägern bereits ein unionsrechtliches Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG
zuerkannt worden sei und sie daher ohnehin auf nicht absehbare Zeit nicht zwangsweise zurückgeführt
werden könnten, vermag der Senat nicht nachzuvollziehen. Abgesehen davon, dass nicht ersichtlich ist,
dass freiwillige Rückkehrer eine günstigere Behandlung erfahren werden (vgl. hierzu ausdrücklich OVG
Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A - juris, Rdn. 56), liefe der Einwand der
Beklagten darauf hinaus, dass der Flüchtlingsschutz dem subsidiären Schutz selbst nachgeordnet wäre,
was die Rechtslage auf den Kopf stellen würde. Der Flüchtlingsschutz ist dem Betroffenen im Falle einer
drohenden Verfolgung unmittelbar versprochen und ist nicht davon abhängig, dass dieser im Ausland nicht
anderweitig (minderen) Schutz finden kann. (…).
56
Lediglich ergänzend verweist der Senat darauf, dass die Angriffe der Beklagten dagegen, dass das
Verwaltungsgericht bei der Verfolgungsprognose unter anderem auf den "längeren" Auslandaufenthalt
abstellt, ebenfalls nicht durchgreifen. Es handelt sich dabei entgegen der Auffassung der Beklagten um ein
taugliches Abgrenzungskriterium - etwa zu Auslandsaufenthalten zu Besuchszwecken von nur wenigen
Tagen. Wo die Grenze liegt, musste vom Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall nicht entschieden
werden. (…)“
57
Diese Sichtweise mit der daran anknüpfenden Rechtsfolge der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft
unabhängig von einem individuellen Vorverfolgungsschicksal teilten u.a. auch die Oberverwaltungsgerichte
anderer Bundesländer (vgl. z.B. nur HessVGH, Beschluss vom 27.01.2014 - 3 A 917/13.Z.A -, AuAS 2014,
80; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.01.2014 - OVG 3 N 91.13 -, AuAS 2014, 82; OVG
Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 24.04.2014 - 2 L 16/13 -, abrufbar unter www.asyl.net).
Insbesondere das OVG Sachsen-Anhalt (Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -, Juris) war unter
umfänglicher Auswertung aller verfügbarer Erkenntnismittel in einer wohl begründeten Gesamtschau zu
dem Ergebnis gelangt, dass der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden
autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im
Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den langjährigen
Aufenthalt im Ausland als Ausdruck einer von seiner Ideologie abweichenden illoyalen Gesinnung ansieht
und zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt. Grundlage dieser Gesamtschau war dabei eine
genaue Analyse der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungstopps im
April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien
abgeschoben wurden, eine Betrachtung der umfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen
im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste sowie die Berücksichtigung der Eskalation
der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 und des Umgangs der syrischen Behörden in Syrien
(insbesondere seit Beginn des Jahres 2012) mit Personen, die aus Sicht der syrischen Behörden verdächtig
sind, die Opposition zu unterstützen.
58
Dem entsprach bis zum Frühjahr 2016 auch die - gerichtsbekannte - Entscheidungspraxis des Bundesamts
für Migration und Flüchtlinge (vgl. exemplarisch nur die bei SächsOVG, Beschluss vom 28.04.2015 - 5 A
498/13.A -, Juris, dokumentierte Abhilfe), die sich u.a. auf den zuletzt am 17.02.2012 in Gestalt eines „Ad
hoc-Berichts“ über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien
aktualisierten Lagebericht des Auswärtigen Amtes stützte. Dort hieß es u.a., die Gefahr körperlicher und
seelischer Misshandlung sei in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als „besonders hoch“
einzustufen; vieles deute darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die
Sicherheitsdienste und die Shabbiha-Miliz vom Regime eine Art „carte blanche“ erhalten hätten, und es
komme regelmäßig und systematisch zu willkürlichen Verhaftungen (S. 10 f.).
59
b) Zur Überzeugung der Kammer hat sich an der Verfolgungsgefahr bzw. an den tatsächlichen Grundlagen
für eine diesbezügliche Prognose für syrische Staatsangehörige, die wie der Kläger illegal ausgereist sind,
um Asyl nachgesucht haben und sich für längere Zeit (hier: seit mehr als einem Jahr) im -
westeuropäischen - Ausland, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, aufgehalten haben, nichts
Wesentliches (zum Besseren) geändert. Zum nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der
Entscheidung des Gerichts ist noch immer davon auszugehen, dass ihnen im Fall der Wiedereinreise nach
Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im
Sinne des § 3 AsylG droht.
60
Maßgeblich für die diesbezügliche Überzeugungsbildung der Kammer ist in erster Linie eine Gesamtschau
der hierzu verfügbaren Erkenntnismittel unter Berücksichtigung der unvermeidlichen Unwägbarkeiten bei
Prognoseentscheidungen auf schmaler bzw. nicht vollends aufklärbarer Erkenntnisgrundlage.
61
Nicht gänzlich außer Acht gelassen werden können bei alledem aber auch zunächst die rechtlich nicht
unmittelbar relevanten, aber zumindest indiziell - ähnlich wie im Rahmen einer Entscheidung nach § 73
AsylG - bedeutsamen Hintergründe für den Wandel in der Entscheidungspraxis des Bundesamts für
Migration und Flüchtlinge, der sich - soweit ersichtlich - nicht auf neue Erkenntnismittel stützt, die ggf.
Anlass zu einer Neubeurteilung des Sachlage hätten geben können. Augenfällig ist vielmehr, dass die
politische Neuausrichtung der zugrunde liegenden Weisungslage beim Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge zeitlich mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom
11.03.2016 (BGBl. I S. 390) am 17.03.2016 zusammenfällt, das den Familiennachzug für (nur) subsidiär
Schutzberechtigte in § 104 Abs. 13 AufenthG n.F. für zwei Jahre ausgesetzt hat. Wie der Kammer aus
anderen Asylverfahren syrischer Staatsangehöriger - und auch aus sonstigen öffentlich zugänglichen
Quellen (vgl. http://frsh.de/fileadmin/pdf/termine/2016/UmF-Fachtag/BAMF-Kiep.pdf;
https://www.akweb.de/ak_s/ak619/05.htm) - bekannt ist, soll der 17.03.2016 der Stichtag sein, ab dem
nicht mehr vermutet wird, dass bei Rückkehr nach Syrien Verfolgung in Anknüpfung an ein
flüchtlingsrelevantes Merkmal droht. Von der Möglichkeit, sich zuvor durch Anfragen etwa beim
Auswärtigen Amt über den aktuellen Stand der Gefährdungslage zu vergewissern - wozu mit Blick auf die
fehlende Aktualität des Lageberichts durchaus Veranlassung hätte gesehen werden können -, hat das
Bundesamt keinen Gebrauch gemacht.
62
Unabhängig davon tragen aber die dem Gericht derzeit zur Verfügung stehenden - auch aktuellen -
Erkenntnismittel aber ohnehin weiter die Annahme einer begründeten Verfolgungsfurcht:
63
aa) Das
UK Home Office (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5
und 8) knüpft auch aktuell weiter an die Country Guidance-Leitentscheidung des Upper Tribunal vom
20.12.2012 (UKUT 00426 (IAC), abrufbar unter: https://tribunalsdecisions.service.gov.uk/utiac/2012-ukut-
426; zur Bedeutung derartiger länderspezifischer Leitentscheidungen im britischen Asylrecht vgl. allgemein
Dörig, ZAR 2006, 272, 274, noch zur Rechtlage vor Inkrafttreten des Tribunals, Courts and Enforcement
Acts 2007) an, in der es das Gericht unter Auswertung von 642 Erkenntnismitteln für beachtlich
wahrscheinlich („real risk“) erachtet hat, dass ein abgelehnter Asylbewerber oder zwangsweise
Zurückgeführter - sofern er nicht zu den Unterstützern des Assad-Regimes zu rechnen sei - grundsätzlich
bei seiner Ankunft wegen einer ihm zugeschriebenen politischen Überzeugung Verhaftung, Gewahrsam
und dabei ernsthafte körperliche Misshandlung zu befürchten hat, weshalb die Flüchtlingseigenschaft
zuzuerkennen sei. Ausweislich der Pending country guideline cases list des Courts and Tribunals Judiciary
(abrufbar unter https://www.judiciary.gov.uk/about-the-judiciary/who-are-the-judiciary/judicial-
roles/tribunals/tribunal-decisions/immigration-asylum-chamber/) sind derzeit beim Upper Tribunal keine
Verfahren anhängig, die zu einer weiteren Leitentscheidung führen könnten. Das UK Home Office betont in
diesem Zusammenhang auch die weitere (negative) Entwicklung in Syrien seit Ergehen der
Leitentscheidung des Upper Tribunal und hält an den dortigen Feststellungen fest; Umfang und Verbreitung
von Menschenrechtsverstößen in Syrien hätten zugenommen. Zwischenzeitlich sei sogar davon
auszugehen, dass selbst tatsächliche oder vermeintliche Assad-Unterstützer in Abhängigkeit von ihrem
Aufenthaltsort begründete Verfolgungsfurcht geltend machen könnten. Die sich weiter zuspitzende
humanitäre Krise habe zur Folge, dass eine Rückführung für die meisten Rückkehrer eine Verletzung von
Art. 3 EMRK darstellen würde.
64
Der
UNHCR, dessen Berichten besonderes Gewicht zukommt, da er gemäß Art. 35 Nr. 1 GFK und Art. 2 Nr.
1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. 1969 II S. 1293) zur
Überwachung der Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention berufen ist (vgl. zu
Auslegungsrichtlinien bei Rechtsfragen auch BVerfG, Beschluss vom 12.03.2008 - 2 BvR 378/05 -, InfAuslR
2008, 263), hält es in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen
Republik Syrien fliehen (HCR/PC/SYR/01; 4. aktualisierte Fassung, November 2015, dort insbes. S. 24 f.),
für „wahrscheinlich, dass die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der
Flüchtlingseigenschaft erfüllen, da sie eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen eines oder mehrerer
Gründe der GFK haben“. Für viele aus Syrien geflohene Zivilisten bestehe der kausale Zusammenhang mit
einem Konventionsgrund in der direkten oder indirekten, tatsächlichen oder vermeintlichen Verbindung mit
einer der Konfliktparteien. Für die Erfüllung der Kriterien der Flüchtlingsdefinition sei es nicht erforderlich,
dass eine tatsächliche oder drohende Verfolgung auf sie persönlich, im Sinne eines „persönlichen
Ausgewähltseins“ abziele. Syrischen Staatsangehörigen und Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in
Syrien, die aus dem Land geflohen seien, könne beispielsweise Verfolgung aufgrund einer politischen
Überzeugung drohen, die ihnen gemäß einer vermeintlichen Verbindung mit einer Konfliktpartei unterstellt
werde, oder aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, ihrer ethnischen Identität oder abhängig davon,
welche Konfliktpartei die Nachbarschaft oder das Dorf kontrolliere, aus dem die Betroffenen stammten. In
diesem Zusammenhang begrüßt der UNHCR in den Erwägungen die zunehmende Anerkennung der
Flüchtlingseigenschaft zugunsten von Asylsuchenden aus Syrien durch die Mitgliedstaaten der EU in den
Jahren 2014 und 2015, insbesondere im Vergleich zu 2013, als die meisten EU-Staaten Syrern
überwiegend subsidiären Schutz gewährt hätten. Der UNHCR betont bei alledem insbesondere auch wie
folgt die Auswirkungen des in Syrien herrschenden Konflikts und der dortigen Gewalt auf die
Zivilbevölkerung (a.a.O., S. 12 ff., hier ohne Nachweise, Hervorhebung im Original):
65
„(…) Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen
Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw.
ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine
politische Meinung
unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden,
aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum
Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften der Regierung, ISIS
und bewaffneter oppositioneller Gruppen. Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden,
denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei
unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und
Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen
Formen sexueller Gewalt und extralegalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine
bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf
wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer
Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer
Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs
durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person
gerichtet ist. (…)“
66
Für den Fall, dass Asylanträge von Asylsuchenden aus Syrien auf Einzelfallbasis geprüft würden, konturiert
der UNHCR bestimmte, nicht unbedingt abschließende Risikoprofile (S. 25 f.; z.B. Personen, die tatsächlich
oder vermeintlich Konfliktparteien unterstützen oder opponieren, Angehörige bestimmter Berufsgruppen,
religiöser oder ethnischer Minderheiten, schutzlose Frauen und risikobehaftete Kinder, palästinensische
Flüchtlinge). Auch z.B. das UK Home Office betont aber hierauf bezogen, dass seine Grundannahmen zur
Gefährdungslage von Rückkehrern nicht auf diese Personengruppen beschränkt seien (Country Information
and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 unter Nr. 2.3.2).
67
Die
Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic bei der
Generalversammlung der Vereinten Nationen führt in ihrem Bericht vom 11.08.2016 (A/HRC/33/55,
abrufbar unter http://www.refworld.org/docid/57d015fd4.html) u.a. aus (hier wiedergegeben in der
sinngemäßen Übersetzung des VG Trier aus seinem Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -,
Asylmagazin 2016, 383):
68
„75. Zivilisten, vor allem Männer im wehrfähigen Alter, verschwinden nach wie vor von den Straßen
Syriens. Zehntausende Syrer werden vermisst, viele sind unter solchen Umständen verschwunden, die
eine Gewaltanwendung nahe legen. (…)
69
77. Nach einem Muster, das im März 2011 erstmals auftauchte und bis heute anhält, werden Syrer durch
Staatsorgane verhaftet oder entführt und verschwinden dann aus der öffentlichen Wahrnehmung.
Angehörige berichten regelmäßig über 'verschwundene' Verwandte zwischen 2011 und 2015. Zu den
Orten, an denen Verhaftungen oder Entführungen für gewöhnlich stattfinden, gehören Checkpoints,
Krankenhäuser, Arbeitsstätten und Wohnungen.
70
78. Während des gesamten Bestehens der Kommission haben Syrer über ihre panische Angst davor
erzählt, mitgenommen zu werden und zu 'verschwinden', wenn sie Checkpoints der Regierung passieren
müssen. Einige Frauen wiesen darauf hin, dass der entscheidende Auslöser für ihre Flucht darin lag, dass
ihre erwachsenen Söhne zunehmend dem Risiko ausgesetzt waren, an den Checkpoints festgehalten zu
werden. Diese Furcht ist wohlbegründet: Viele Syrer beklagen verschwundene Familienangehörige,
nachdem diese von Regierungskräften verhaftet oder entführt wurden. (…)
71
79. Andere Opfer verschwanden während ihrer Inhaftierung, als sie von einem bekannten Gefängnis zu
einem unbekannten Ort verbracht wurden.“
72
Amnesty international beschreibt im Jahresbericht 2016 (amnesty report 2016, abrufbar unter
www.amnesty.de/jahresbericht/2016/syrien) die Intensität des weiter andauernden internen bewaffneten
Konflikts in Syrien. Die Regierungskräfte führten u.a. wahllose Angriffe durch und wählten bewusst auch
Zivilpersonen als Ziele, indem sie Wohngebiete und Gesundheitseinrichtungen mit Artillerie, Mörsern,
Fassbomben und mutmaßlich chemischen Kampfmitteln bombardierten und rechtswidrig Menschen töteten.
Zu Fällen des Verschwindenlassens, Folter, Misshandlungen, willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen
führt der Bericht unter Anführung von Beispielsfällen aus:
73
„(…) Die staatlichen Sicherheitskräfte hielten nach wie vor Tausende Menschen ohne Anklageerhebung
über lange Zeit in Untersuchungshaft. Viele von ihnen waren unter Bedingungen inhaftiert, die den
Tatbestand des Verschwindenlassens erfüllten. Zehntausende Menschen, die seit Ausbruch des Konflikts
im Jahr 2011 inhaftiert worden waren, blieben "verschwunden". Unter ihnen befanden sich friedliche
Regierungskritiker und -gegner sowie Familienangehörige, die anstelle ihrer von den Behörden gesuchten
Angehörigen inhaftiert worden waren. (…)
74
Folter und andere Misshandlungen von Inhaftierten in Gefängnissen sowie durch den staatlichen
Sicherheitsdienst und die Geheimdienste waren auch 2015 weit verbreitet und wurden systematisch
angewendet, was erneut zu vielen Todesfällen in Gewahrsam führte. (…)
75
Zehntausende Zivilpersonen, darunter auch friedliche Aktivisten, wurden von Sicherheitskräften der
Regierung festgenommen. Viele von ihnen verbrachten lange Zeiträume in Untersuchungshaft, wo sie
gefoltert und anderweitig misshandelt wurden. Andere erhielten unfaire Prozesse vor dem Antiterror-
Gericht oder militärischen Feldgerichten. (…)“
76
In einem weiteren Bericht vom 18.08.2016 (‘It breaks the human - torture, disease and death in Syria´s
prison, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/) beschreibt
amnesty
international auf der Grundlage von Interviews mit 65 Betroffenen die Verhältnisse in syrischen
Gefängnissen, insbesondere die erniedrigenden Verhörpraktiken der syrischen Behörden. Amnesty
international schätzt, dass im Zeitraum zwischen 2011 und 2015 17.723 Menschen getötet worden seien,
wobei die tatsächlichen Zahlen unter Berücksichtigung entsprechender Dunkelziffern wohl noch höher
seien (die
Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, deren Angaben womöglich nicht immer
unbesehen übernommen werden können, beziffert die Zahl der in den Gefängnissen der syrischen
Regierung seit Ausbruch der Kampfhandlungen im Jahr 2011 getöteten auf mindestens 60.000, vgl.
Süddeutsche Zeitung vom 23.05.2016). Die meisten der 65 interviewten Inhaftierten hätten zumindest
einen Todesfall während des Gewahrsams miterlebt; alle seien gefoltert oder anderweitig misshandelt
worden.
77
In ähnlicher Weise dokumentiert auch
Human Rights Watch (If the Dead Could Speak - Mass Deaths and
Torture in Syria’s Detention Facilities, 16.12.2016, abrufbar unter
https://www.hrw.org/de/news/2015/12/16/syrien-die-geschichten-hinter-den-fotos-getoeteter-gefangener)
unter Mitwirkung forensischer Pathologen exemplarisch Fälle von Verhaftungen durch die syrischen
Geheimdienste und die Misshandlungen und Foltermaßnahmen in der Haft. Der Bericht untersucht mehr
als 28.000 von etwa 53.000 Fotos, die ein Überläufer mit dem Decknamen „Caesar“ aus Syrien
herausgeschmuggelt haben soll und die im Januar 2014 an die Öffentlichkeit gelangten. Auf diesen Bildern
seien allen verfügbaren Informationen zufolge mindestens 6.786 Gefangene abgebildet, die in Haft oder
nach ihrer Überstellung aus einem Gefängnis in ein Militärkrankenhaus verstorben seien. Die meisten
davon seien in fünf Zweigstellen des Geheimdienstes in Damaskus inhaftiert gewesen. Ihre Leichen seien
in mindestens zwei Militärkrankenhäuser in Damaskus überstellt worden. Pathologen hätten bei einzelnen
Bildern etwa eindeutige Zeichen gefunden für verschiedene Formen von Folter, Hungertod, Ersticken,
stumpfe Gewalteinwirkung und in einem Fall eine Kopfwunde, aus der ersichtlich sei, dass das Opfer aus
kurzer Entfernung erschossen worden sei. In diesen Einrichtungen Festgehaltene hätten auf Befragen z.B.
berichtet, dass sie in stark überbelegten Zellen gesessen, kaum Luft bekommen und so wenig Nahrung
erhalten hätten, dass sie deutlich geschwächt worden seien; oftmals hätten sie sich nicht waschen dürfen,
sodass sich Haut- und andere ansteckende Krankheiten verbreitet hätten, die nicht angemessen behandelt
worden seien. In den Augen von Human Rights Watch besteht kein Zweifel daran, dass die Menschen auf
den ‚Caesar‘-Fotos systematisch und in großem Umfang ausgehungert, geschlagen und gefoltert worden
sind.
78
Auch das
U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, passim,
abrufbar unter:
79
http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm?year=2015&dlid=252947) berichtet über
die von Human Rights Watch analysierten ‚Caesar‘-Fotos und beschreibt eindrücklich die Art und den -
zugenommenen - Umfang der in Syrien verbreiteten Menschenrechtsverstöße (vgl. insbes. S. 2, 5, 8, 14,
22 des Reports in der pdf-Version). Willkürliche und ungesetzliche Tötungen, Foltermaßnahmen und das
Verschwindenlassen von Personen (auch von Familienangehörigen) sind danach weit verbreitet.
Regierungskräfte würden einschlägigen Berichten zufolge in tausenden von glaubhaft geschilderten Fällen
weiterhin Folter und Vergewaltigungen - auch bei Kindern - einsetzen, v.a. in Gewahrsamszentren, an
Kontrollpunkten oder aber etwa in Einrichtungen der Luftwaffe, etwa im Militärflughafen Mezzeh in
Damaskus.
80
Bei der gebotenen Gesamtschau der vorstehend exemplarisch referierten und sonst verfügbaren
Erkenntnismittel gelangt die Kammer zu der Überzeugung, dass tatsächlichen oder vermeintlichen
Anhängern der syrischen Oppositionsbewegung sowie ihren Angehörigen mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit auch weiterhin konkret willkürliche Inhaftierungen zu menschenunwürdigen
Bedingungen, Misshandlungen, Folter und auch willkürliche Tötungen und damit relevante
Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a AsylG in extremer Ausprägung drohen. Diese richten sich gegen all
diejenigen, die seitens der syrischen Sicherheitskräfte - und sei es auch zu Unrecht - verdächtigt werden,
sich dem Regime gegenüber nicht loyal und treu zu verhalten oder gar oppositionellen Kräften in
irgendeiner Weise nahe zu stehen. Das syrische Regime hegt offenkundig ein beachtliches
Verfolgungsinteresse selbst gegenüber Personen, die sich im Zusammenhang mit den bewaffneten
Auseinandersetzungen im Land nicht positionieren (wollen) oder schlicht passiv verhalten. Das illustrieren
in eindrücklicher Weise beispielsweise Aussagen von Präsident Assad selbst, der in einer Rede im Juli 2015
deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass das Land denen vorbehalten sein solle, die es beschützten
(wiedergegeben im Fact-Finding Report des
Finnish Immigration Service vom 23.08.2016, Syria: Military
Service, National Defense Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition, S. 7,
abrufbar unter http://www.migri.fi/download/69645_Report_Military_Service_Final.pdf?a92be5b59febd388;
den Schlussfolgerungen im Bericht zufolge besteht deshalb - ggf. selbst nach Beendigung der kriegerischen
Auseinandersetzungen - für diejenigen, die das Land verlassen hätten, das Risiko, nicht mehr zurückkehren
zu können).
81
bb) Die Kammer ist auf der Grundlage der verfügbaren Erkenntnismittel auch der Überzeugung, dass nicht
nur solchen Syrern seitens des syrischen Regimes im Falle einer Rückkehr Verfolgungshandlungen der
vorstehend beschriebenen Art und Intensität drohen, bei denen konkrete Anhaltspunkte für eine
individuelle oppositionelle Haltung erkennbar sind (oder die bereits vorverfolgt waren), sondern dass - von
Einzelfällen offensichtlicher Unterstützer des Assad-Regimes abgesehen - nach wie vor alle Syrer, die illegal
aus Syrien ausgereist sind und (jedenfalls) in Deutschland um Schutz nachgesucht - und diesen schließlich
in Gestalt von subsidiärem Schutz auch zugesprochen bekommen - sowie sich dort länger aufgehalten
haben, bei Rückkehr grundsätzlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit derartige Verfolgungshandlungen in
Gestalt einer Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit zu gewärtigen haben. Dieser Einschätzung
liegt die auf die nachfolgenden Erkenntnisse gestützte Prämisse zugrunde, dass die syrische Regierung
weiterhin ein ausgeprägtes Interesse an Aktivitäten der Exilopposition im Ausland hegt und diese
ausforscht und überwacht (dazu (1)), dass eine Rückkehr nach Syrien ohne Kenntniserlangung der
syrischen Behörden für die rechtliche Würdigung nicht unterstellt werden kann (dazu (2)) und dass es bei
einer solchen Rückkehr verdachtsunabhängig zu Befragungen zur Abschöpfung von Informationen u.a.
über die Exilszene mit der beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter
sowie zu willkürlichen und rechtsstaatswidrigen exekutiven Strafmaßnahmen kommen wird (dazu (3)).
82
(1) Noch immer - z.T. sogar verstärkt - ist davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste
syrische Oppositionelle im Ausland als Bedrohung ansehen und nach ihren Möglichkeiten beobachten. Das
hat das Verwaltungsgericht Trier in seinem den Beteiligten bekannten Urteil vom 07.10.2016 - 1 K
5093/16.TR - (Asylmagazin 2016, 383), auf dessen Begründung insoweit ergänzend verwiesen wird, unter
Auswertung der hierzu verfügbaren Erkenntnisse aus den aktuellen Verfassungsschutzberichten des
Bundes und einzelner Länder umfänglich dargestellt. Danach verfügen die syrischen Nachrichtendienste
ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des
Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen; ihr Aufgabenschwerpunkt ist die
Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen auch die breit gefächerte säkulare und
kurdische Opposition zählen (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263
f.). Sie haben augenscheinlich ein starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und an deren
Rolle im syrischen Bürgerkrieg. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen
spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden (vgl. Sächsisches
Staatsministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 236). Dabei können der Einschätzung
der hessischen Behörden zufolge (Hessisches Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutz in
Hessen, Bericht 2015, S. 162) insbesondere Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat ausgespäht
werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen;
darüber hinaus sei nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert seien,
Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern
verbliebenen Opposition zu erhalten.
83
Auch der vom Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration herausgegebene
Verfassungsschutzbericht 2015 des Landes Baden-Württemberg (dort S. 268 und 271) betont, dass u.a.
Syrien im Jahr 2015 insbesondere durch die geheimdienstliche Überwachung (ehemaliger) Landsleute, die
im deutschen Exil leben, in Erscheinung getreten sei; die syrischen Dienste seien gezielt auch zur
Überwachung tatsächlicher oder vermuteter regimekritischer Bestrebungen im Ausland eingesetzt worden.
84
(2) Bei der anzustellenden Prognose einer Verfolgungsgefahr für den Fall einer Rückkehr sind Szenarien
zugrunde zu legen, die - sofern man davon im hier zu diskutierenden Zusammenhang überhaupt sprechen
kann - von „zumutbaren“ Heimreiserouten ausgehen (vgl. in ähnlichem Zusammenhang bei der Frage
internen Schutzes § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, wo vorausgesetzt wird, dass der Ausländer sicher und legal in
einen sicheren Teil seines Herkunftslandes reisen kann). Solche (legale) Rückkehrmöglichkeiten existieren
faktisch nur über von der Regierung kontrollierte Flughäfen oder offizielle Grenzstationen (ebenso etwa
das österreichische Bundesverwaltungsgericht, statt vieler: BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170
2013874-1/5E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at), sodass eine Einreise nach Syrien für Rückkehrer aus
Westeuropa ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden nicht möglich ist. Dabei ist für die
Grenzbeamten aus den mitzuführenden Dokumenten in jedem Fall ersichtlich, dass sich die Betroffenen
zuvor im westlichen Ausland, insbes. in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten haben (so schon VGH
Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris).
85
Keinesfalls können Geflüchtete darauf verwiesen werden, womöglich wie schon bei ihrer Flucht abermals
ggf. über unwegsame Regionen im Grenzgebiet zu den Nachbarstaaten Syriens möglichst unbemerkt - und
ggf. illegal - in Landesteile zurückzukehren, über die die syrische Regierung (derzeit) keine Kontrolle
ausübt, auch wenn dort die Wahrscheinlichkeit von Befragungen und die daran anknüpfende
Gefährdungslage geringer ausgeprägt sein mag (vgl. hierzu die nicht näher datierte Auskunft des
Deutschen Orient-Instituts vom November 2016 an das OVG Schleswig zum Verfahren 3 LB 17/16).
Ungeachtet des Umstands, dass dies schon die (legale) Einreisemöglichkeit in einen entsprechenden
ausländischen Nachbarstaat Syriens voraussetzen würde (vgl. - negativ - zu Jordanien diesbezüglich etwa
die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 25.07.2016 -
Gz. 508-516.80/48834), könnten auch dazu ggf. erforderliche Reisedokumente von den die Kontrolle über
diese Landesteile ausübenden Organisationen nicht anerkannt oder ausgestellt werden (vgl. dazu etwa VG
Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 - 2 A 5162/16 -, Juris).
86
Mithin ist (wegen des seitens des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge landesweit zugesprochenen
subsidiären Schutzes: hypothetisch) näher zu betrachten, wie sich eine Ankunft und die Einreisekontrollen
primär auf einem internationalen Flughafen Syriens - in Betracht kommt mit Blick auf die derzeitigen
Verhältnisse in Aleppo derzeit wohl allenfalls Damaskus, ohne dass dies allerdings zu unterschiedlichen
Ergebnissen führen würde - oder aber an einem sonstigen offiziellen Grenzübertrittspunkt näher gestalten
würden.
87
(3) Für den Fall einer solchen Rückkehr etwa über den Flughafen Damaskus ist mit der erforderlichen
Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es verdachtsunabhängig zu obligatorischen Befragungen
kommen wird. Diese Annahme stützt sich auf den Befund, dass eine Gemengelage ganz unterschiedlicher
Motive ein Informationsinteresse der syrischen Sicherheitskräfte begründet, das sich bei einer Rückkehr
aus Westeuropa, insbesondere Deutschland, realisieren wird. U.a. mit Blick auf die derartigen Rückkehrern
jeweils vorzuhaltende illegale Ausreise, den längeren Aufenthalt in einem Exilstaat für Oppositionelle und
auch vor dem Hintergrund der weiteren extremen Eskalation des Konflikts in Syrien und dem damit
einhergehenden „Freibrief“ zu einer - straflosen - skrupellosen Behandlung auch nur potenziell
Verdächtiger, ist davon auszugehen, dass Rückkehrern sehr pauschal eine ggf. nur vermeintliche Untreue
zum Regime oder gar eine Regimegegnerschaft bzw. die Nähe zu einer solchen unterstellt wird.
88
Die Art und Weise, wie die syrischen Regierungskräfte die militärischen Auseinandersetzungen im Land
führen, wie sie dabei wahllos, willkürlich und großteils völkerrechtswidrig insbesondere Zivilpersonen - z.T.
unter Einsatz geächteter Kriegswaffen - töten (vgl. dazu zusammenfassend etwa nur VG Meiningen, Urteil
vom 01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me -, InfAuslR 2016, 402) und welche Ziele sie dabei auswählen (vgl.
dazu nur die Berichterstattung über gezielte Angriffe auch auf Kliniken, exemplarisch statt vieler nur
die
tageszeitung vom 21.11.2016, „Kliniken von Aleppo im Visier“, S. 10; Nr. IV der Auskunft der Botschaft
Beirut vom 03.02.2016 zum - teilweise gezielten - Einsatz von Fassbomben gegenüber Zivilisten), zeigt
eine Haltung der syrischen Machthaber auf, die auch Rückschlüsse auf die Behandlung von Rückkehrern
zulässt. Offenkundiges Ziel aller Bemühungen ist es danach, jede Gegnerschaft zum Regime bereits von
vorneherein und ohne nähere Differenzierung unerbittlich im Keim zu ersticken. Das VG Meiningen (a.a.O.;
im Erg. ebenso z.B. VG Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -, Juris) führt in diesem
Zusammenhang aus:
89
„(…) Dass gerade Rückkehrern eine Regimegegnerschaft bzw. eine Nähe zu einer solchen höchst
wahrscheinlich unterstellt werden wird, ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Aufgrund der Einstellung
des syrischen Regimes gegenüber dem westlichen Ausland, welches sich deutlich in der
Staatengemeinschaft gegen das Regime Assad ausgesprochen hat und daher als zutiefst feindlich
empfunden wird, wird dieses aller Voraussicht nach Syrern, die in dieses feindliche Ausland geflüchtet
sind, per se eine feindliche Gesinnung unterstellen. Die Tatsache, dass syrische Flüchtende diese Reise ins
westliche Ausland auf sich nehmen, dürfte der syrischen Staatsspitze zeigen, dass diese zum syrischen
Staat und seinem Einfluss deutlichen Abstand gewinnen wollen, was für diesen gleichbedeutend mit
Regimegegnerschaft sein dürfte. Nachdem viele oppositionelle Gruppierungen sich zunächst im Ausland
formiert haben, so vor allem der Syrische Nationalkongress (SNC - vgl. hierzu Kristin Hellberg,
"Brennpunkt Syrien: Einblicke in ein verschlossenes Land", Herder 2012, S. 96 ff.) und vom Ausland
gesteuert erscheinen oder der syrische Staat zumindest diesen Verdacht hegen muss und ihn auch auf das
westliche Ausland erstreckt, ist es nur sehr wahrscheinlich und aus Sicht der syrischen Machthaber
konsequent, die mit der Flucht ins westliche Ausland gezeigte zumindest regimekritische, jedenfalls aus
Sicht des syrischen Regimes nicht staats-treue Haltung zu ahnden und gleichzeitig das abzuschöpfen, was
von der rückkehrenden Person abgeschöpft werden kann, nämlich Informationsgewinnung über Syrer mit
regimegegnerischem Auftreten oder Unterstützungshandlungen im westlichen Ausland. Zudem erzeugt
der syrische Staat mit solcher Machtdemonstration auch abschreckende Wirkung und verhindert den
vermuteten Informationsfluss von westlichen Unterstützern des Aufstandes zu den im Inland
Verbliebenen. (…)
90
Für eine erhöhte Gefährdung der Rückkehrer spricht auch die Tatsache, dass das syrische Regime gerade
das westliche Ausland für die Unruhen im Land verantwortlich macht bzw. dies offiziell so darstellt
(Spiegel online - 05.02.2013, Interview mit Syriens Vize-Außenminister). Ein Aufenthalt im westlichen
Ausland wird in den Augen der syrischen Sicherheitskräfte bereits auch wegen des Erlebens westlicher
bzw. unabhängigerer Medienberichterstattung über das Geschehen in Syrien und der Gefahr des
Kontaktes mit regimegegnerischen Bestrebungen und Ansichten zudem ein Sicherheitsrisiko darstellen,
das ein Eingreifen erfordert. Denn erkennbar beharrt der syrische Machtapparat auf dem
Meinungsmonopol und steuert entsprechend die Berichterstattung über die Ereignisse im Land.
Rückkehrer stellen bereits aus diesem Grund ein Risiko der Unterwanderung der Absichten des syrischen
Regimes im Hinblick auf ein gesteuertes Bild von der Lage im Land und in der Welt dar.“
91
Das hält auch die Kammer insgesamt - bei allen Unwägbarkeiten der zugrunde zu legenden Hypothesen
und anzustellenden Prognosen - für nahe liegend, plausibel und überzeugend. Die bereits geschilderte
nachrichtendienstliche Aktivität bestätigt diese Annahme und das unvermindert anhaltende bzw.
gestiegene Interesse an der Abschöpfung von Informationen über jegliche oppositionelle Betätigung.
Ausführlich beschäftigt sich auch das Research Directorate des
Immigration and Refugee Board of Canada
in einem auf die Jahre 2014 und 2015 bezogenen Bericht vom 19.01.2016 mit der diesbezüglichen
Gefährdungslage für Rückkehrer nach Syrien („Treatment of returnees upon arrival at Damascus
International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants,
people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors
affecting treatment, including age, ethnicity and religion“, abrufbar unter
http://www.ecoi.net/local_link/320204/459448_de.html). Darin werden die - wenigen - Fälle zwangsweiser
Rückführungen wie auch die Umstände von „freiwillig“ (aus Nachbarstaaten und der dort z.T. prekären
Situation) z.T. nur vorübergehend zurückkehrenden Syrern unter Auswertung dazu vorliegender Berichte
betrachtet. Demzufolge scheint es eine sehr sorgfältig durchgeführte Standardprozedur am Flughafen
(gleichermaßen aber auch bei anderen Grenzübertrittspunkten) zu geben, die eine Analyse sowie einen
Abgleich der Identitätsdokumente mit Computerdatenbanken - auch bezüglich der Daten von
Familienangehörigen - vorsieht, um herauszufinden, ob es sich um gesuchte Personen - sei es wegen
begangener Straftaten, sei es wegen Beziehungen zur Opposition oder Nichtregierungsorganisationen -
handelt. Vielfach sei Personen, v.a. Ausländern, dabei die Einreise auch verweigert worden. Bei den
Einreisekontrollen, für deren Ablauf keine festen Regeln feststellbar seien, könnten etwa auch Handys oder
andere persönliche Gegenstände auf irgendwie geartete Hinweise zu Kontakten oder dissidenten
Einstellungen näher untersucht werden. Weiter wird betont, dass die Sicherheitskräfte am Flughafen und
an Grenzübertrittspunkten nach wie vor eine „carte blanche“ hätten, um mit Verdächtigen anlasslos zu
tun, was auch immer sie wollten, und dass in diesem Zusammenhang alles passieren könne,
Schutzmechanismen gebe es nicht. Wenn eine Person von einem Sicherheitsbeamten verdächtigt werde,
könne sie sofort in Gewahrsam genommen werden, verschwinden und gefoltert werden; ebenso könne die
Erlaubnis der Einreise mit der Verpflichtung verbunden werden, zu einem späteren Zeitpunkt erneut zu
erscheinen, um Auskünfte zu geben; auch dabei könne es zu Fällen von „Verschwinden“ kommen. Die
Quellen des IRB betonen explizit, dass nicht nur bei behördlich gesuchten Personen schon die bloße
Abneigung gegenüber Rückkehrern ohne jeglichen sachlichen Grund zu Misshandlungen führen kann, das
System sei insoweit in hohem Maße unvorhersehbar. Auch Einreisende, die nichts mit der Revolution zu
tun hätten, würden zuweilen festgehalten und verhaftet. Bei alledem würden auch bewusst
Familienangehörige instrumentalisiert. Mehrere sachverständige Quellen des IRB äußerten die
Einschätzung, dass ein abgelehnter Asylbewerber mit Sicherheit verhaftet und festgehalten würde; die
Person würde mit dem Vorwurf konfrontiert werden, im Ausland falsche Informationen über das Land
verbreitet und sich in die Nähe der Opposition begeben zu haben. Es würde zu Foltermaßnahmen und ggf.
lang andauernden Gefängnisaufenthalten kommen, auch um die Gründe für die Ausreise zu hinterfragen
und Informationen über andere Flüchtlinge oder die Opposition zu erlangen.
92
In gleicher Weise geht auch das
U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for
2015, Syria, S. 34) davon aus, dass Personen, die (erfolglos) um Asyl in anderen Ländern nachgesucht
hätten, bei Rückkehr Verfolgungsmaßnahmen zu gewärtigen hätten. Das sehe bereits - aus strafrechtlicher
Perspektive - das innerstaatliche Recht vor. Die Regierung habe routineartig Dissidenten und frühere
Staatsbürger mit keiner bestimmten politischen Zugehörigkeit bei Rückkehrversuchen verhaftet, selbst
nach Jahren oder sogar Jahrzehnten des selbstgewählten Exils.
93
Auch die - wenigen und kaum aussagekräftigen - Berichte über (nur vereinzelt stattfindende) zwangsweise
Rückführungen nach Syrien bestätigen die vorstehenden Einschätzungen eher.
Menschenrechtsorganisationen haben solche Fälle, die sich allerdings auf Rückführungen oder
Zurückweisungen aus Nachbarstaaten (Libanon, Jordanien, Ägypten) beschränken und z.T. auch schon
längere Zeit zurückliegen, sowie dabei z.T. auch Festnahmen am Flughafen dokumentiert und von
Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Tötung Einzelner berichtet (
Human Rights Watch, Lebanon: Stop
Forcible Returns to Syria, 11.01.2016, https://www.hrw.org/news/2016/01/11/lebanon-stop-forcible-
returns-syria; Lebanon: Syrian Forcibly Returned to Syria, 07.11.2014,
https://www.hrw.org/news/2014/11/07/lebanon-syrian-forcibly-returned-syria; Letter to Lebanese Officials
Regarding Deportation of Syrians, 04.08.2012, https://www.hrw.org/news/2012/08/04/letter-lebanese-
officials-regarding-deportation-syrians; Lebanon: Palestinians Barred, Sent to Syria, 05.05.2014,
https://www.hrw.org/news/2014/05/05/lebanon-palestinians-barred-sent-syria; Jordan: Obama Should
Press King on Asylum Seeker Pushbacks, 21.03.2013, https://www.hrw.org/news/2013/03/21/jordan-
obama-should-press-king-asylum-seeker-pushbacks; Egypt: Syria Refugees Detained, Coerced to Return,
10.11.2013, https://www.hrw.org/news/2013/11/10/egypt-syria-refugees-detained-coerced-return; vgl.
auch
amnesty international, Syria: 'Between prison and the grave': Enforced disappearances in Syria,
05.11.2015, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/2579/2015/en/; vgl. ebenso die
Berichterstattung über die Abschiebung von 36 Personen - hauptsächlich Palästinensern - von Ägypten
nach Syrien, die nunmehr zu einem Großteil in der gefürchteten „Palästina-Abteilung“ des syrischen
Militärnachrichtendienstes festgehalten werden sollen, wiedergegeben in: österr. BVwG, Erkenntnis vom
29.07.2015 - W224 2102645-1/14E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at).
94
Ein weiteres - wenn auch nicht tragendes - Indiz für die Annahme einer beachtlichen Gefahr
menschenrechtswidriger Behandlung bei Rückkehr mit der erforderlichen Gefahrdichte für Angehörige der
hier untersuchten Personengruppe sieht die Kammer in der subjektiven Sichtweise der im Bundesgebiet
aufhältigen syrischen Flüchtlinge selbst, die zwar als solche rechtlich keinesfalls maßgeblich ist, aber mit
Blick auf die in § 3 Abs. 1 AsylG in Bezug genommene „Furcht“ vor Verfolgung immerhin einen (zu
objektivierenden) Anhaltspunkt bietet. Schließlich ist aus der Sicht des Schutzsuchenden zu prüfen, ob
seine Furcht vor Verfolgung nach der objektiven Zielgerichtetheit der Verfolgungsmaßnahme unter
Berücksichtigung seiner individuellen Lage und seiner persönlichen Verhältnisse begründet ist; das
Merkmal der „begründeten Furcht“ enthält damit ein subjektives, an den persönlichen Hintergrund des
Betroffenen einschließlich seiner Selbsteinschätzung der Lage anknüpfendes und ein objektives, auf die
gefahrbegründenden Verhältnisse im Herkunftsland bezogenes Element (vgl. nur Zeitler, HTK-AuslR / § 3
AsylG - zu Abs. 1, Rn. 8 ff.). Trotz aller Vorbehalte hinsichtlich der Repräsentativität von Stichproben und
der Validität entsprechender Erhebungen sind in diesem Zusammenhang etwa die Ergebnisse einer
Befragung syrischer Flüchtlinge zu ihren Fluchtgründen und etwaigen Rückkehrhindernissen jedenfalls in
Ansätzen durchaus aufschlussreich. So hat die Kampagne
adopt a revolution unter wissenschaftlicher
Begleitung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) im Herbst 2015 Angaben von
insgesamt 889 Flüchtlingen in Deutschland mit standardisierten Fragebögen erhoben (Perabo / Haid /
Giebler, Fluchtgründe und Zukunftsperspektiven - Rückkehr nach Syrien?, 07.10.2015, abrufbar unter
https://www.adoptrevolution.org/wp-content/uploads/2015/10/pm-adopt-a-revolution-fluchtumfrage.pdf).
Bemerkenswerterweise haben dabei 86 % der Befragten als zweiten zentralen Fluchtgrund (neben den in
Syrien herrschenden bewaffneten Auseinandersetzungen) die Angst vor Verhaftungen bzw. Entführungen
genannt, ein Anteil von 77 % hiervon explizit bezogen auf eine Festnahme seitens des Assad-Regimes. Vor
dem Hintergrund der - in anderem Zusammenhang auch vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
argumentativ bemühten - beträchtlichen Zahlen von Geflohenen kann nicht davon ausgegangen werden,
dass es sich hierbei überwiegend um aktive Oppositionelle oder sonst exponierte Personen mit erhöhtem
Risikoprofil oder gar individuellem Vorverfolgungsschicksal handelt; vielmehr dürfte sich auch die befragte
Personengruppe zu einem Großteil aus Bürgerkriegsflüchtlingen zusammensetzen, die (aus subjektiver
Sicht) jedermann drohende Gefahren fürchtet. Vor dem Hintergrund, dass diese Befürchtungen - wie
dargelegt - auch auf objektiven tatsächlichen Feststellungen beruhen, sieht sich die Kammer berechtigt,
derartige subjektive Einschätzungen - bestätigend - für die Analyse der Gefahrendichte für eine
Personengruppe und die Einzelgefährdung von Gruppenangehörigen heranzuziehen, ohne damit die
Rechtsfindung gleichsam demoskopisch ausgestalten zu wollen. Hinzu kommt, dass etwa auch die
Erkenntnisse des
Immigration and Refugee Board of Canada (a.a.O.) ähnliche Schlüsse zulassen, wenn es
dort unter Heranziehung sachverständiger Quellen heißt, Flüchtlinge aus Syrien würden mit Blick auf die
daraus folgenden Gefahren bei einer Rückkehr z.T. nur zögerlich um Flüchtlingsschutz nachsuchen.
95
Auf der Grundlage und unter Ausschöpfung all dieser Erkenntnisse und Einschätzungen erscheint der
Kammer eine Rückkehr in den Heimatstaat für Angehörige der vorstehend näher umrissenen
Personengruppe - und damit auch für den Kläger - aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig
denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände
unzumutbar. Es drohen mit überwiegender und damit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im dargelegten Sinn
nicht nur vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder eine Vielzahl einzelner Übergriffe. Vielmehr stellt
sich die Gefahrenlage mit Blick auf die in quantitativer Hinsicht zu erwartenden Eingriffshandlungen so
dar, dass für jeden aus Deutschland nach Syrien zurückkehrenden Asylbewerber mit den genannten
Eigenschaften nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres auch die aktuelle Gefahr eigener
Betroffenheit besteht.
96
Selbst wenn man - entgegen der vorstehenden Bewertung - die Wahrscheinlichkeit von
Verfolgungsmaßnahmen mathematisch ausgedrückt bei weniger als 50 % verorten wollte (und könnte),
wäre nach Auffassung der Kammer noch immer von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit im erforderlichen
Maße auszugehen. Schließlich sind bei der Anwendung der einschlägigen Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe
nach den eingangs dargelegten Grundsätzen auch Umfang und Ausmaß ggf. drohender
Rechtsgutsbeeinträchtigungen zu berücksichtigen. Dabei kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch
dann unzumutbar sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine
politische Verfolgung gegeben ist (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -,
EzAR-NF 62 Nr. 34). In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung
nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die
Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird
auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein
verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des
befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei
quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine
Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnen Menschen bei der Überlegung, ob er in
seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z.B. lediglich
eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (so BVerwG,
Urteile vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 -, NVwZ 1992, 582, und vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ
2013, 936). Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie
bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten
zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt
auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete
Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden
könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z. B.
eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen,
sind allgemeine Prognosetatsachen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.11.1990 - 9 C 72.90 -, NVwZ 1991, 384
sowie zusammenfassend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, EzAR-NF 62
Nr. 34).
97
Mit Blick auf die mit Todesgefahren verbundene menschenverachtende Behandlung, die missliebigen
Rückkehrern ohne jegliche Differenzierung droht, hielte es die Kammer vor diesem Hintergrund für
angezeigt und geboten, bei der Subsumtion des „real risk“ jedenfalls auch eine bei allen Unwägbarkeiten
nur schwer zu prognostizierende und womöglich geringer ausgeprägte mathematische Wahrscheinlichkeit
für eine Verfolgung ausreichen zu lassen; dies muss jedenfalls dann gelten, wenn - wie hier - feststeht,
dass das die Staatsgewalt ausübende Regime in der Vergangenheit Rückkehrer in skrupelloser Weise und
mit größter Brutalität Verfolgungshandlungen unterworfen hat und nunmehr - einer Widerrufssituation
vergleichbar - die Frage zu beantworten ist, ob sich daran Entscheidungserhebliches geändert haben
könnte, obwohl valide Erkenntnisse hierfür in Ermangelung von Referenzfällen nicht zu gewinnen sind (vgl.
dazu OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, Juris).
98
Demgegenüber vermag die Kammer bei alledem keine validen Rückschlüsse für die hier zu beurteilende
Gefährdungslage aus dem Umstand zu ziehen, dass tatsächlich „freiwillige“ und z.T. wohl unkontrollierte
Rückkehrbewegungen zu verzeichnen sind. Nicht zu verkennen ist zwar, dass syrische Staatsangehörige in
substanzieller Zahl täglich die Grenze passieren. Aus Jordanien kehrten etwa im Juli 2015 offenbar knapp
2.000 Syrer in ihre Heimatland zurück, im August 2015 dürften es sogar mehr als 3.800 gewesen sein (so
die Angaben des UNHCR, Operational Update zu Jordanien, August 2015, abrufbar unter
http://www.unhcr.org/news/updates/2015/8/54d87b279/jordan-operational-update.html, wo allerdings
zugleich mitgeteilt wird, dass sich in Jordanien knapp 630.000 Syrer aufhalten und täglich etwa 40 bis 50
Syrer nach Jordanien fliehen); für den Oktober 2015 wird eine tägliche Rückkehrrate von 160 Personen
angegeben (Koehler-Schindler / Oehring, Syrische Flüchtlinge in Jordanien, Länderbericht der Konrad-
Adenauer-Stiftung, Oktober 2015, abrufbar unter www.kas.de/amman). Auch aus den kurdischen Regionen
des Irak kehrten im Jahr 2015 tausende Syrer zurück (UNHCR, Despite war at home, more Syrian refugees
return from Iraq, 08.02.2016, http://www.unhcr.org/news/latest/2016/2/56b85b3d6/despite-war-home-
syrian-refugees-return-iraq.html). Vergleichbare Erkenntnisse lagen auch dem
Immigration and Refugee
Board of Canada in seinem Bericht vom 19.01.2016 (a.a.O.) vor.
99
Diese Rückkehrfälle sind jedoch nicht mit dem der rechtlichen Beurteilung zugrunde zu legenden Szenario
einer offenen Heimreise (primär) über einen internationalen Flughafen zu vergleichen. Vielmehr sind
insoweit nahezu ausschließlich Fälle von Grenzübertritten aus angrenzenden Nachbarstaaten
dokumentiert, ohne dass durchgehend ersichtlich ist, ob es sich dabei jeweils um registrierte Einreisen
handelt (UNHCR, Despite war at home…, a.a.O., beschreibt z.B. eine Rückkehr auf einem Boot über den
Tigris). Überdies betonen die zitierten Quellen das mit der Rückkehr verbundene klare Risiko, das lediglich
wegen der düsteren, prekären und perspektivlosen Verhältnisse in den Flüchtlingslagern der benachbarten
Aufnahmestaaten in Kauf genommen werde. Auch der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat in
seinem insoweit bereits auszugsweise wiedergegebenen Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -
(a.a.O.) auf die fehlende Vergleichbarkeit von überwiegend in Flüchtlingslagern und somit wohl ganz
überwiegend ohne relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition lebenden
Flüchtlingen einerseits und solchen, die in Deutschland und Europa um Schutz nachgesucht haben,
verwiesen und dabei insbesondere auch herausgestellt, dass hinsichtlich letzterer ohnehin nicht von einer
massenhaften gleichzeitigen Rückkehr ausgegangen werden könne. Das Gefährdungsprofil der beiden
Vergleichsgruppen unterscheidet sich wesentlich bereits dadurch, dass das Risiko, einer Befragung zur
Regimetreue und zur Abschöpfung von Informationen unterworfen zu werden, für Rückkehrer aus dem
seitens des Regime verhassten westlichen Auslands ungleich höher einzustufen ist; insoweit ist es nahe
liegend und plausibel, dass bei Rückkehrern aus Flüchtlingscamps in den Nachbarstaaten beim Passieren
der Grenze auf dem Landweg von den syrischen Sicherheitskräften noch eher eine allein
bürgerkriegsbedingte Motivation ohne damit verbundene Parteinahme für eine Seite unterstellt wird.
100 Auch der Umstand, dass die syrische Regierung seit April 2015 wieder vermehrt Pässe ausstellt und damit
Ausreisen erleichtert, rechtfertigt keine abweichende Beurteilung und insbesondere nicht den
(spekulativen) Schluss, deshalb sei zugleich das Maß einer etwaigen Rückkehrgefährdung entscheidend
relativiert.
101 Die Auskunft der Deutschen Botschaft in Beirut an das Bundesamt vom 03.02.2016 gibt hierzu über
Nachrichtenagenturen verbreitete Mitteilung der syrischen Botschaft in Jordanien wieder, wonach allein
dort jeden Monat 10.000 syrische Pässe neu ausgestellt oder verlängert würden; einen solchen Pass
erhalte bei Bezahlung grundsätzlich jeder Syrer. Die syrische Botschaft in Berlin habe dem Auswärtigen
Amt mitgeteilt, im Jahr 2015 insgesamt 6.314 Pässe verlängert und knapp 2.000 neu ausgestellt zu haben
(Vergleichszahl für 2010: 1.894 neue Pässe und 1.365 Verlängerungen). Ergänzend und „unbestätigt zu
möglichen Motiven“ heißt es in der Auskunft der Botschaft Beirut weiter:
102 „Die wirtschaftliche Lage des syrischen Regimes hatte sich im ersten Quartal 2015 vermutlich weiter
verschlechtert, worauf damalige intensive Verhandlungen über neue Kreditlinien mit RUS und IRN,
steigende Inflation, Verfall von Infrastruktur, Verluste von Wirtschaftsräumen (Grenzübergangs Nassib,
Ölfelder) hindeuten. Letztlich liegen der Botschaft Beirut aber keine konkreten Erkenntnisse zur
Verwendung syrischer, staatlicher Einnahmen vor. Es ist zu vermuten, dass speziell Einnahmen aus
Passgebühren dem allgemeinen, syrischen Staatshaushalt zu Gute kommen.“
103 Auch entsprechenden Presseberichten lassen sich Informationen zur Passausstellungspraxis der syrische
Behörden entnehmen (zusammengefasst wiedergegeben in einem im Verfahren 3 K 368/16 an das
Verwaltungsgericht des Saarlandes gerichteten Schriftsatz des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge
vom 16.09.2016, abrufbar über die Datenbank MILO). Dem Tagesspiegel vom 26.10.2015 und vom
05.11.2015 zufolge würden etwa 3.000 Pässe täglich ausgestellt, 829.000 seit Jahresbeginn 2015. Die
gleichzeitig stark gestiegenen Passgebühren für Syrer im Ausland hätten der Staatskasse in Damaskus
seither mehr als eine halbe Milliarde Dollar eingebracht; die syrische Regierung nutze die Ausstellung der
Pässe als wichtige Einnahmequelle. Ein in diesem Bericht zitierter türkischer Migrationsforscher ordnete die
neue Praxis als „politischen Schritt“ ein, um die Flüchtlingskrise in Europa weiter anzuheizen.
104 Wenn aber sämtliche Schlussfolgerungen aus der Passausstellungspraxis der syrischen Behörden
zwangsläufig spekulativ bleiben müssen und wenn selbst die Botschaft in Beirut hierbei primär - plausible
und nachvollziehbare - fiskalische Erwägungen und Motive als möglich ansieht oder gar vermutet, kann
diesen Umständen keine valide Aussagekraft für eine abweichende Beurteilung der Rückkehrgefährdung
beigemessen werden (ebenso etwa VG Köln, Urteil vom 25.10.2016 - 20 K 2890/16.A -; VG Münster, Urteil
vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -; VG Düsseldorf, Urteil vom 22.11.2016 - 3 K 7501/16.A -; VG Schleswig,
Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -; VG Regensburg, Urteil vom 29.06.2016 - RN 11 K 16.30666 -,
jeweils Juris). Bemerkenswerterweise hat das Auswärtige Amt auch in seiner Auskunft an das VG Augsburg
vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) noch die Auffassung vertreten, u.a. wegen fehlender
Erfahrungswerte in Bezug auf aktuelle - bereits damals ausgesetzte - Rückführungen sei es derzeit nicht
möglich zu beurteilen, ob die Ausstellung eines Reisepasses ein Indiz für oder gegen ein
Verfolgungsinteresse sei.
105 Die Kammer sieht auch keine Anhaltspunkte im Tatsächlichen für die - gleichfalls spekulative - Annahme,
dem syrischen Staat ermangele es zwischenzeitlich an den erforderlichen Ressourcen und Kapazitäten für
(systematische) Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Rückkehrern. Zum Einen deuten schon die derzeitigen
militärischen Erfolge der von Russland unterstützten und z.T. „entlasteten“ Regierungskräfte darauf nicht
hin (vgl. hierzu die ausführlichen Darlegungen des VG Trier in seinem bereits mehrfach zitierten Urteil vom
07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, a.a.O., die sich die Kammer insoweit zu eigen macht), wobei hinzu kommt,
dass es für Befragungen der hier in Rede stehenden Art keiner großen Ressourcen bedarf (VG Saarland,
Urteil vom 11.11.2016 - 3 K 583/16 -, Juris; vgl. im Übrigen auch VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2016 - 1
K 20205/16 Me -, a.a.O.). Zum Anderen würde eine solche Annahme in unzulässiger Weise auf der
Hypothese aufbauen (müssen), die nach Europa geflüchteten Syrer würden massenhaft gleichzeitig
zurückkehren und die Einreisekontrollen (ggf. am Flughafen) durchlaufen (vgl. hierzu abermals bereits VGH
Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, a.a.O.).
106 Auch soweit ansatzweise Einschätzungen des Auswärtigen Amtes zur Rückkehrgefährdung Asylsuchender
bzw. subsidiär Schutzberechtigter verfügbar sind, fehlt diesen die Aussagekraft, um darauf gestützt
„vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen“ einen Heimreiseversuch
(hypothetisch) anzusinnen. Die hierzu vorliegenden Äußerungen des Auswärtigen Amtes sind bloße
Negativ-Auskünfte ohne verlässlichen und weiterführenden Gehalt. Dem Auswärtigen Amt war es wegen
der Lage in Syrien nicht mehr möglich, seine Lageberichte - wie sonst üblich - in regelmäßigen
Zeitabständen zu aktualisieren; der letzte reguläre Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage
in der Arabischen Republik Syrien vom 27.09.2010 datiert aus der Zeit vor den im Frühjahr 2011
aufgeflammten Unruhen, seither hat das Auswärtige Amt nur einen einzigen „Ad hoc-Bericht“ (vom
17.02.2012) veröffentlicht. Die Deutsche Botschaft Damaskus hat den operativen Dienstbetrieb auf
unbestimmte Zeit eingestellt (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge vom 08.03.2012). In der Auskunft der Botschaft in Beirut vom 03.02.2016 heißt es, dem
Auswärtigen Amt lägen keine Erkenntnisse dazu vor, dass Rückkehrer ausschließlich aufgrund des
vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Übergriffe bzw. Sanktionen zu erleiden hätten. Abgesehen von
dem Umstand, dass hierbei allein auf den Auslandsaufenthalt abgestellt und nicht - wie geboten - weiter
differenziert wird, ergibt sich daraus nur, dass Erkenntnisse - sei es mangels Referenzfällen, sei es wegen
der lagebedingten Einschränkungen Tätigkeit der diplomatischen Vertretung vor Ort - schlicht nicht zu
erlangen sind. Ergänzend heißt es nur, es seien Fälle bekannt, bei denen Rückkehrer nach Syrien befragt
worden, zeitweilig inhaftiert worden oder dauerhaft verschwunden seien, was „überwiegend“ in einem
Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten oder
Menschenrechtsverteidigern) oder in Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst stehe. Die
aktuelle Auskunft des Auswärtigen Amts an das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein vom
07.11.2016 verhält sich hierzu noch knapper, wenn es dort nur noch heißt, das Auswärtige Amt habe
„keine Kenntnisse zu systematischen Befragungen von unverfolgt ausgereisten Asylbewerbern nach
Rückkehr nach Syrien“, und wenn dort wiederholt wird, dass keine Erkenntnisse dazu vorlägen, dass
„ausschließlich aufgrund eines vorausgegangenen Auslandsaufenthalts“ Rückkehrer nach Syrien
Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt seien.
107 Die vorstehend konturierte Auskunftslage des Auswärtigen Amtes entspricht im Wesentlichen noch immer
seinen Einschätzungen zu Beginn der Unruhen in Syrien und stellt mithin keine tragfähige Grundlage für
eine nunmehr abweichende Lagebeurteilung dar. Schon in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom
02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) hatte es mitgeteilt, eine Asylantragstellung oder der längerfristige
Auslandsaufenthalt seien nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes
bislang
[
Hervorhebung im
Original] für sich allein genommen kein Grund für Verhaftung oder Repressalien gewesen; es werde aber
darauf hingewiesen, dass wegen fehlender Rückführungen keine aktuellen Erfahrungswerte bezüglich
eines etwaigen Verhaltens der syrischen Sicherheitsbehörden gegenüber zurückgeführten abgelehnten
Asylbewerbern vorlägen (vgl. dazu bereits OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -,
Juris).
108 Die Kammer hält die Grundlagen im Tatsächlichen für die anzustellende Gefährdungsprognose nach den
gesamten vorstehenden Darlegungen derzeit auch für hinreichend aufgeklärt bzw. nicht zielführend weiter
aufklärbar und sieht daher von einer eigenen Beweisaufnahme ab. Auch sieht sie keine Veranlassung, mit
einer Entscheidung zuzuwarten, bis Antworten auf die Auskunftsersuchen vorliegen, die das VG Düsseldorf
am 23.06.2016 bzw. 18.07.2016 in den Verfahren 5 K 7480/16.A bzw. 5 K 7221/16.A an den UNHCR und
das Auswärtige Amt gerichtet hat (vgl. ebenso das zusätzlich auch an EASO gerichtete Auskunftsersuchen
des VG Halle vom 21.07.2016 im Verfahren 2 A 205/16 HAL). Hier sind zwar womöglich wertvolle und in
der Sache zu würdigende Einschätzungen und Bewertungen von (weiteren) relevanten Quellen (vgl. § 3e
Abs. 2 Satz 2 AsylG) zu erwarten, nicht aber neue Erkenntnisse zur Sachlage selbst. Zudem ist in diesem
Zusammenhang in Erinnerung zu rufen, dass es dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge selbst offen
stand - und es ggf. auch gehalten gewesen wäre -, zur Begr&muml;ndung seiner geänderten
Entscheidungspraxis bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zuvor oder begleitend entsprechende
Anfragen an relevante Quellen zu richten, zumal das Auswärtige Amt - wie dargelegt - seit längerer Zeit
hierzu keine Erkenntnisse mitzuteilen vermag.
109 cc) Die nach dem Vorstehenden zu befürchtenden Verfolgungsmaßnahmen bei Rückkehr knüpfen auch an
in § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG aufgezählte asylerhebliche Merkmale an, sodass die nach § 3a Abs. 3 AsylG
erforderliche Verknüpfung besteht; jedenfalls würden die syrischen Sicherheitskräfte bei den im Fall einer
Rückkehr anstehenden Befragungen den Betroffenen - wie dargelegt - eine Nähe zur
Oppositionsbewegung unterstellen oder darauf zumindest aufbauen und diesen damit entsprechende
Merkmale zuschreiben (§ 3b Abs. 2 AsylG); dies legt schon die extreme Intensität der zu befürchtenden
Eingriffe nahe, ein anderes realistisches Erklärungsmuster ist für die Kammer nicht ersichtlich. Es besteht
keinerlei Veranlassung, von der diesbezüglichen (oben bereits wiedergegebenen) Sichtweise des
Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, Juris;
Beschluss vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -, Juris) abzuweichen. Nach wie vor gilt, dass zum Komplex der
erforderlichen Gerichtetheit keine weiteren Erfolg versprechenden Ermittlungsmöglichkeiten bestehen,
vielmehr keine nahe liegenden Deutungsmöglichkeiten vorhanden sind, die auf das Fehlen dieser
Gerichtetheit führen würden.
110 dd) Internen Schutz im Sinne von § 3e AsylG kann der Kläger nicht erlangen. Bereits aus der Gewährung
subsidiären Schutzes durch die Beklagte folgt mit Blick auf § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG,
dass vom Kläger vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, sich in irgendeinem Landesteil Syriens
aufzuhalten. Dies stimmt auch mit der aktuellen Erkenntnislage weiterhin überein (vgl. nur die Auskunft
der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). Ohnehin droht die
vorstehend bezeichnete Verfolgungsgefahr aber auch bereits bei der Einreise.
111 c) Für den Kläger kommt über die vorstehenden allgemeinen Erwägungen hinaus individuell dazu, dass er
als 1995 geborener, wehrdienstfähiger Mann ein besonderes Gefährdungsprofil aufweist, das für ihn
konkret die Gefahrendichte nochmals in einer Weise erhöht, dass die - wie dargelegt ohnehin schon
anzunehmende - beachtliche Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen zur Überzeugung der
Kammer für seine Person nicht mehr in Abrede gestellt werden kann (vgl. zum besonderen Risikoprofil von
Wehrdienstverweigerern auch UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der
Arabischen Republik Syrien fliehen, HCR/PC/SYR/01, S. 25 f.). Für ihn erhöht sich im Fall einer Rückkehr
zum Einen in beträchtlicher Weise das Risiko, Befragungen mit menschenrechtswidriger Behandlung
unterworfen zu werden; ferner treten eigenständige Verfolgungsgründe hinzu, weil der Kläger womöglich
auch wegen Wehrdienstentziehung belangt werden könnte oder sich aber an militärischen Handlungen
beteiligen müsste, die gegen den Frieden gerichtet wären, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen
die Menschlichkeit darstellen würden (§ 3a Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 3 Abs. 2 AsylG).
112 Seit Herbst 2014 hat die syrische Armee Mobilisierungsmaßnahmen für Rekruten und Reservisten auf der
Grundlage einer allgemeinen Wehrpflicht für Männer im Alter von 18 bis 42 Jahren verstärkt. Syrischen
Männern im wehrfähigen Alter der Jahrgänge 1985 - 1991 ist seit dem 20.10.2014 durch ein Verbot der
General Mobilisation Administration des Verteidigungsministeriums die Ausreise verboten, so dass diese
seither nicht mehr die Möglichkeit der legalen Ausreise haben (SFH / Alexandra Geiser, Syrien:
Mobilisierung in die syrische Armee, S. 4; SFH / Alexandra Geiser, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische
Armee, S. 1). Der Fact-Finding Report des
Finnish Immigration Service vom 23.08.2016 (Syria: Military
Service, National Defense Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition, a.a.O.),
dass das syrische Militär gegenwärtig aufgrund von Todesfällen, Abtrünnigkeit und Desertion einen
enormen Bedarf an Personal hat (vgl. S. 5) und Soldaten auf der Straße, an den Universitäten und oft auch
an Kontrollpunkten rekrutiert (S. 6), nach der Massenemigration im Jahr 2015 sogar in verstärktem Maße
(zur Rekrutierung durch die 2014 neu geschaffene Mushtarka vgl. auch SFH, Schnellrecherche vom
26.10.2015 zu Syrien: Geheimdienst). Danach werden alle Männer bis zu einem Alter von 42 Jahren nach
Ableistung ihres Grundwehrdienstes aufgrund eines Gesetzes von 2007 als Reservisten geführt; teilweise
wird auch berichtet, dass das Alter für den Dienst als Reservist mittlerweile wegen der angespannten
Personalsituation auf 45 Jahre oder älter (52 bzw. 54 Jahre) angehoben wurde. Wehrdienstverweigerung
wird bestraft, Deserteure werden vielfach erschossen (vgl. zu alledem auch Danish Refugee Council, „Syria
- Update on Military Service, Mandatory SelfDefence Duty and Recruitment to the YPG“, September 2015,
abrufbar unter www.ecoi.net; die vorgenannte Studie wird auch vom Auswärtigen Amt als verlässlich
eingeschätzt, vgl. Auskunft der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 an das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge).
113 Das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl beurteilt die diesbezügliche Sachlage in seiner
Entscheidungspraxis wie folgt (hier wiedergegeben in der Darstellung des österr. BVwG, Erkenntnis vom
16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at):
114 „Zur Lage in Syrien wurde unter anderem ausgeführt, dass alle männlichen Staatsbürger Syriens
zwischen 18 und 40 Jahren für den verpflichtenden Militärdienst infrage kämen, ausgenommen Juden und
staatenlose Kurden (…). Ausnahmen vom Militärdienst seien möglich, da es sich bei diesen aber um "Kann-
Bestimmungen" handle, sei eine Befreiung in Krisenzeiten unwahrscheinlich (…). Das syrische
Verteidigungsministerium habe begonnen, zusätzliche Wehrpflichtige einzuziehen und auf Grund der
Schwierigkeiten bei der Aushebung neuer Rekruten die Einberufungen auf jene auszuweiten, die ihren
Militärdienst bereits abgeleistet hätten (…). Die Strafen für Wehrdienstverweigerung würden von den
Umständen abhängen und von einem Monat bis zu fünf Jahren Haft reichen, in Kriegszeiten sei für
Desertion eine Haftstrafe von zwischen drei und fünf Jahren vorgesehen bzw. wenn der Deserteur das
Land verlassen habe, eine Haftstrafe zwischen fünf und zehn Jahren. Das Überlaufen zum Feind sei mit
der Exekution strafbar (…). De facto komme Desertion einem Todesurteil gleich, das oftmals unmittelbar
vollstreckt werde (…). Grundwehrdiener würden mit Zwangsmaßnahmen zum Einsatz gezwungen,
syrischen Soldaten drohe bei der Weigerung gegen die Protestierenden vorzugehen, Haft und Folter (…).
Desertierte syrische Soldaten würden berichten, dass sie gezwungen worden seien, auf unbewaffnete
Zivilisten und Protestierende, darunter Frauen und Kinder, zu schießen. Eine große Anzahl von Soldaten
sei getötet worden, als sie sich geweigert hätten auf Zivilisten zu schießen (…).“
115 Das schweizerische Bundesverwaltungsgericht führt in seinem Urteil vom 18.02.2015 - D-5553/2013 -
(BVGE 2015/3) hierzu aus:
116 „6.7.2 Diesbezüglich stellt sich gestützt auf die geltende Praxis (vgl. E. 5.7 5.9) die Frage, welche
Behandlung Dienstverweigerer und Deserteure seitens der staatlichen syrischen Behörden zu erwarten
haben. Wie bereits ausgeführt wurde (E. 6.2.1), geht aus einer Vielzahl von Berichten hervor, dass die
staatlichen syrischen Sicherheitskräfte seit dem Ausbruch des Konflikts im März 2011 gegen tatsächliche
oder vermeintliche Regimegegner mit grösster Brutalität und Rücksichtslosigkeit vorgehen. Das syrische
Militärstrafrecht sieht nach Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichts für verschiedene Abstufungen
der Entziehung von der militärischen Dienstpflicht unterschiedliche Strafmasse vor. Diese variieren
zwischen kürzeren Freiheitsstrafen (beispielsweise zwei Monate bis ein Jahr bei Nichterscheinen nach
einem militärischen Aufgebot in Friedenszeiten, wenn der Dienstpflichtige innerhalb von 15 Tagen nach
dem festgesetzten Termin bei seiner Einheit erscheint; Art. 102 Abs. 1 des syrischen Gesetzes über den
Militärdienst vom 3. Mai 2007, vgl. < http://parliament.sy/forms/uploads/laws/Law/2007/kk_30_2007.htm
>, abgerufen am 12.12.2014) über lange Haft (so etwa von fünf bis zehn Jahren bei Desertion ins
Ausland; Art. 101 Abs. 2 des syrischen Militärstrafgesetzes [syrMStG] vom 13. März 1950 in der Fassung
vom 17. Juli 1979, vgl. < http://parliament.sy/forms/uploads/laws/Decree/00002365.tif >, abgerufen am
12.12.2014) bis zur Todesstrafe (bei Desertion mit Überlaufen zum Feind; Art. 102 Abs. 1 syrMStG).
Abgesehen von diesem gesetzlichen Strafrahmen geht allerdings aus zahlreichen Berichten hervor, dass
Personen, die sich dem Dienst in der staatlichen syrischen Armee entzogen haben etwa, weil sie sich den
Aufständischen anschliessen wollten oder in der gegebenen Bürgerkriegssituation als Staatsfeinde und als
potenzielle gegnerische Kombattanten aufgefasst werden seit dem Jahr 2011 in grosser Zahl nicht nur von
Inhaftierung, sondern auch von Folter und aussergerichtlicher Hinrichtung betroffen sind (vgl.
Davis/Taylor/Murphy, Gender, conscription and protection, and the war in Syria, in: Forced Migration
Review Nr. 47/2014, S. 35 ff.; HRW, « By All Means Necessary ». Individual and Command Responsibility
for Crimes against Humanity in Syria, Dezember 2011, S. 62 ff.; Schweizerische Flüchtlingshilfe [SFH],
Syrien: Rekrutierung durch die syrische Armee, Bern 2014, S. 3 f.; UK Home Office, Operational Guidance
Note: Syria, vom 21. Februar 2014, Ziff. 3.20.4 ff. mit weiteren Nachweisen). (…)“
117 Der Kläger müsste für den Fall einer Rückkehr - wie von ihm selbst in seiner persönlichen Anhörung vor
dem Bundesamt auch geltend gemacht - damit rechnen, zum Wehrdienst herangezogen bzw. zumindest
mit diesem Begehren konfrontiert zu werden, ohne sich dabei auf Ausnahmeregelungen berufen zu
können. Die Regelungen über eine Freistellung als „einziger Sohn“ greifen für ihn schon tatbestandlich
nicht; gleiches gilt für sonstige Freistellungsmöglichkeiten, die ohnehin nach der verfügbaren Auskunftslage
willkürlich gehandhabt werden (vgl. zu alledem nur SFH, Schnellrecherche vom 20.10.2015, „Syrien:
Umsetzung der Freistellung vom Militärdienst als ´einziger Sohn`“;
Finnish Immigration Service, Fact-
Finding Report vom 23.08.2016, S. 9 f.). Der Auskunft des Deutschen Orient-Instituts an das OVG
Schleswig-Holstein vom November 2016 zufolge sehen sich besonders männliche syrische
Staatsangehörige nach einer Wiedereinreise in das durch die syrische Regierung kontrollierte Gebiet der
Einberufung in den - nach aktueller Lage sehr gefährlichen - Wehrdienst gegenüber, wenn sie älter als 18
Jahre sind. Wurde der Wehrdienst (wie im Fall des Klägers) nicht vor der Ausreise geleistet - und im Übrigen
auch unabhängig davon -, könne dies seitens der syrischen Regierung verlangt werden. Habe die Ausreise
unter anderem dem Zweck gedient, sich dem Wehrdienst zu entziehen, so habe dies eine harte Bestrafung
bis hin zur Todesstrafe, oft aber auch Folter zur Folge.
118 Vor dem Hintergrund der geschilderten Sachlage müsste der Kläger ferner bei der Einreise, aber auch sonst
an jedem Kontrollpunkt in seinem Heimatland, damit rechnen, seine (illegale) Ausreise nach Westeuropa als
Wehrdienstentziehung und/oder als Ausdruck einer Untreue und Illoyalität zum Regime vorgehalten zu
bekommen (vgl.
amnesty international, Syria: 'Between prison and the grave': Enforced disappearances in
Syria, 05.11.2015, a.a.O., S. 44). Dabei drohen ihm in gesteigerter Form Verfolgungshandlungen der
bereits allgemein beschriebenen Art und Intensität. Das
Immigration and Refugee Board of Canada beruft
sich in seinem Bericht vom 19.01.2016 (a.a.O.) insoweit eindrücklich auf Quellen, die berichten, dass
Männer im wehrdienstfähigen Alter in herausgehobener Weise gefährdet seien, am Flughafen oder
anderen Grenzübertrittspunkten misshandelt zu werden, besonders wenn sie noch keinen Dienst geleistet
hätten („most vulnerable group“).
119 Dass allein die Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung nicht ohne Weiteres eine Asylerheblichkeit
begründet (vgl. hierzu BVerfG, Urteil vom 11.12.1985 - 2 BvR 361/83, 2 BvR 449/83 -; BVerwG, Urteil vom
31.03.1981 - C 6.80 -, jeweils Juris), steht der flüchtlingsrechtlichen Relevanz der zu befürchtenden
Behandlung hier nicht entgegen. Zum Einen ist die Wehrdienstentziehung oder -verweigerung in Gestalt
der Ausreise hier zunächst als gefahrerhöhender Umstand bei der ohnehin obligatorischen
Rückkehrerbefragung einzuordnen. Zum Anderen würden daran anknüpfende Maßnahmen nicht allein der
asylrechtlich neutral zu bewertenden und bei Einhaltung rechtsstaatlicher und völkerrechtskonformer
Rahmenbedingungen grundsätzlich als legitim anzusehenden Sicherstellung der Wehrpflicht dienen. Die
politische Verfolgungstendenz ist hier darin zu sehen, dass zugleich eine politische Disziplinierung und
Einschüchterung von politischen Gegnern bezweckt wird und dass Verweigerer seitens des syrischen
Regimes als Verräter an der gemeinsamen Sache angesehen und deswegen menschenrechtswidrig
behandelt werden (so etwa auch VG Magdeburg, Urteil vom 12.10.2016 - 9 A 175/16 -, Juris; VG
Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 - 2 A 5162/16 -, Juris; schweiz. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom
18.02.2015 - D-5553/2013 -, a.a.O.).
120 Darüber hinaus würden an die Entziehung vom Militärdienst anknüpfende Maßnahmen, wie sie der Kläger
bei einer hypothetischen Rückkehr zu befürchten hätte, auch Verfolgungshandlungen nach § 3a Abs. 2 Nr.
5 AsylG darstellen. Nach dieser Bestimmung ist eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung
des Militärdienstes in einem Konflikt dann als Verfolgungshandlung zu qualifizieren, wenn der Militärdienst
Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklausel des § 3 Abs. 2 AsylG fallen,
sich also als Verbrechen gegen den Frieden, als ein Kriegsverbrechen oder als ein Verbrechen gegen die
Menschlichkeit darstellen würden. Mit dieser Vorschrift wird die generelle asylrechtliche Unbeachtlichkeit
einer staatlichen Sanktionierung von Fahnenflucht und Desertion aufgehoben, weil mit ihr unabhängig
vom Inhalt und der Anwendung eines nationalen Wehrstrafrechts die Bestrafung dann Verfolgung im
asylrechtlichen Sinn ist, wenn sich der Militärdienst, welchem sich der Ausländer entzogen hat, als
Teilnahme an Kriegsverbrechen und anderen völkerrechtswidrigen Handlungen darstellt. Unter diesen
Umständen entfällt die Legitimität einer strafrechtlichen Sanktionierung des Wehrdienstentzuges, weil
dem Wehrdienstentzug kein kriminelles Unrecht zugrunde liegt (VG Magdeburg, Urteil vom 12.10.2016 - 9
A 175/16 -, a.a.O.).
121 Dass der Dienst in der syrischen Armee derzeit mit dem Zwang zu derartigen völkerrechtswidrigen
Handlungen verbunden ist, lässt sich vor dem Hintergrund der vorliegenden und bereits dargelegten
Erkenntnisse nicht bestreiten (vgl. hierzu abermals BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-
1/5E -, a.a.O., sowie ausführlich VG Magdeburg, Urteil vom 12.10.2016 - 9 A 175/16 -, a.a.O.).
122 Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.