Urteil des VG Saarlouis vom 30.09.2010
VG Saarlouis: vorzeitige entlassung, besondere härte, zivildienst, wartezeit, zdg, dienstzeit, universität, hauptsache, dringlichkeit, dienstleistender
VG Saarlouis Beschluß vom 30.9.2010, 2 L 1038/10
Entlassung aus dem Zivildienst aufgrund einer besonderen Härte; Aufnahme eines
Medizinstudiums
Tenor
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den
Antragsteller ab dem 04. Oktober 2010 aus dem Zivildienst zu entlassen.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5.000 EUR festgesetzt.
Gründe
Der Antrag des Antragstellers, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung
zu verpflichten, ihn ab 01.10.2010 von der Verpflichtung zur Dienstleistung im Zivildienst
freizustellen, hat nach Maßgabe des Beschlusstenors Erfolg.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur
Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen,
wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche
Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen
nötig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung in diesem Sinne setzt voraus,
dass der geltend gemachte Anspruch und die besonderen Gründe für die Dringlichkeit der
Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes dargelegt und glaubhaft gemacht werden (§ 123
Abs. 3 VwGO i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO). Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
Der Antragsteller hat zunächst einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Gemäß §
43 Abs. 2 Nr. 1 ZDG kann ein Dienstleistender auf seinen Antrag entlassen werden, wenn
das Verbleiben im Zivildienst für ihn wegen persönlicher, insbesondere häuslicher,
beruflicher oder wirtschaftlicher Gründe, die nach dem für den Diensteintritt festgesetzten
Zeitpunkt oder nach der Umwandlung nach § 19 Abs. 2 entstanden oder zu früher
entstandenen hinzugetreten sind, eine besondere Härte bedeuten würde.
Der Antragsteller, der einen entsprechenden Entlassungsantrag gestellt hat, beabsichtigt,
ab Oktober 2010 ein Medizinstudium an der Universität des Saarlandes aufzunehmen. Den
ihm mit Zulassungsbescheid im Auswahlverfahren der Hochschulen vom 02.09.2010
zugewiesenen Studienplatz hat er angenommen und sich eingeschrieben. Da das
Medizinstudium an der Universität des Saarlandes nur zum Wintersemester begonnen
werden kann, könnte sich der Antragsteller bei weiterer Ableistung seines am 09.08.2010
begonnenen Zivildienstes erst zum Wintersemester 2011 erneut für dieses Studium
bewerben, wobei er als Dienstleistender ausweislich des Zulassungsbescheides Anspruch
darauf hat, innerhalb der nächsten zwei Vergabeverfahren nach Dienstende, in denen der
Studiengang angeboten wird, erneut für einen Studienplatz an der Universität des
Saarlandes ausgewählt zu werden. Zwar geht der Studienplatz dem Antragsteller
demnach nicht verloren; allerdings ist der für den Antragsteller eintretende Zeitverlust als
besondere Härte im Sinne des § 43 Abs. 2 Nr. 1 ZDG zu werten.
In dem die Entlassung versagenden Bescheid vom 13.09.2010, gegen den der
Antragsteller Widerspruch eingelegt hat, geht die Antragsgegnerin selbst davon aus, dass
die für die vorzeitige Entlassung notwendige besondere Härte dann vorliege, wenn
aufgrund des Zivildienstes ein Studium erst nach einem zusätzlichen und unverhältnismäßig
langen Zeitverlust aufgenommen werden könne, was nach der Rechtsprechung
grundsätzlich bei einem Zeitraum von mehr als sechs Monaten der Fall sei. Diesen Ansatz
relativiert die Antragsgegnerin dahingehend, dass bei einer Wartezeit von sechs Monaten
im Regelfall eine vorzeitige Entlassung erst nach einer - abgeleisteten – Dienstzeit von
sechs Monaten möglich sei. Letzteres sei bei dem Antragsteller, der seit dem 09.08.2010
und damit erst seit knapp zwei Monaten Dienst leiste, nicht der Fall. Anderenfalls würde
der Antragsteller gegenüber anderen Dienstleistenden erheblich bevorzugt werden. Die
Beeinträchtigung des Antragstellers aufgrund der Wartezeit gehe über das in
durchschnittlichen Fällen übliche und zu erwartende Maß im Vergleich zu anderen
Dienstleistenden nicht hinaus. Die Wartezeit sei so zu berechnen, dass von dem Zeitraum
zwischen dem angestrebten und dem nächstmöglichen Studienbeginn die Dauer des
Zivildienstes abzuziehen sei. Der Zeitverlust, der regelmäßig mit der Heranziehung zum
Zivildienst verbunden sei, stelle lediglich eine allgemeine Härte dar.
Das Gericht folgt dieser Betrachtungsweise nicht; es setzt vielmehr die den Antragsteller
treffende Wartezeit in Relation zu der Gesamtdauer seines Dienstes und der restlichen
Dienstzeit.
Vgl. ebenso VG Münster, Beschlüsse vom 20.08.2010 – 5
L 441/10 und 5 L 442/10 -; VG Koblenz, Beschluss vom
30.08.2010 – 7 L 1010/10.KO – und VG Oldenburg,
Beschluss vom 01.09.2010 – 7 B 2151/10 – alle juris;
a.A. VG Düsseldorf, Beschlüsse vom 30.07.2010 und
11.08.2010 – 11 L 1187/10 und 11 L 1192/10 - und VG
Potsdam, Beschluss vom 25.08.2010 – 7 L 113/10 -; zur
Unverhältnismäßigkeit des Zeitverlustes, der außer
Verhältnis zu der Dauer des Dienstes steht, BVerwG,
Urteil vom 24.10.1997 – 8 C 21/97 – juris.
Aus Sicht der Kammer ist entscheidend zu berücksichtigen, dass die Gesamtdienstzeit mit
dem bevorstehenden Inkrafttreten des Wehrrechtsänderungsgesetzes am 01.12.2010
statt neun Monate nur noch sechs Monate beträgt und sich aufgrund des künftigen § 81
Abs. 2 ZDG - Übergangsvorschrift aus Anlass des Wehrrechtsänderungsgesetzes 2010 -
auch der von dem Antragsteller angetretene Zivildienst um drei Monate verkürzt und damit
am 08.02.2011 enden wird. Bei diesen Gegebenheiten ist von einer effektiven Wartezeit
von ca. acht Monaten für den Antragsteller auszugehen, die zudem die von ihm noch zu
leistende Restdienstzeit von ca. vier Monaten um das Doppelte übersteigt. Vor diesem
Hintergrund kann es nicht darauf ankommen, dass der Antragsteller gegenwärtig erst
knapp zwei Monate Dienst geleistet hat, zumal § 43 Abs. 2 Nr. 1 ZDG auf nach dem
Diensteintritt entstandene Umstände abstellt – was hier mit der nachträglichen Zuteilung
eines Studienplatzes der Fall ist – und die im Dienst zurückgelegte Zeit insoweit nicht allein
entscheidend ist.
Aufgrund dieser fallbezogenen Betrachtung trifft den Antragsteller die aufgrund des
Umstands, dass ein Medizinstudium an der Universität des Saarlandes nicht zum
Sommersemester aufgenommen werden kann, eintretende Wartezeit härter als andere
Dienstleistende und ist ihm dieser Zeitverlust nicht zuzumuten, zumal er ihn nach den
gegenwärtigen Erkenntnismöglichkeiten anderweitig nicht sinnvoll nutzen kann. Das
Verbleiben im Zivildienst für weitere ca. vier Monate stellt damit für den Antragsteller nicht
lediglich eine allgemeine, sondern eine besondere Härte im Sinne des § 43 Abs. 2 Nr. 1
ZDG dar, wobei das Ermessen der Antragsgegnerin mangels anderweitiger Anhaltspunkte
in Richtung einer Entlassung des Antragstellers reduziert ist.
Das Gericht vermag auch nicht zu erkennen, dass der Antragsteller, wie die
Antragsgegnerin meint, wegen seiner nur relativ kurzen Dienstzeit gegenüber anderen
Dienstleistenden „erheblich bevorzugt“ würde. Sofern Dienstleistende aufgrund der
gesetzlichen Regelung im Wehrrechtsänderungsgesetz zum 31.12.2010 nach mindestens
sechsmonatiger Dienstzeit entlassen werden, handelt es sich dabei – im Gegensatz zu der
Situation des Antragstellers – um Regelfälle. Soweit die Antragsgegnerin offenbar die
vorzeitige Entlassung einer Vielzahl von Dienstleistenden befürchtet, ist dem
entgegenzuhalten, dass jeweils eine Prüfung des Einzelfalls gefordert ist und die
Antragsgegnerin durch entsprechende Planung der Einberufungstermine im Jahr 2011
Entlassungsanträgen vorbeugen kann.
Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsgrund im Sinne besonderer Dringlichkeit
glaubhaft gemacht, weil ihm ohne die vorläufige Regelung die Aufnahme des Studiums –
die Lehrveranstaltungen beginnen nach seiner Darlegung am 11.10.2010 – verwehrt wird.
Zu berücksichtigen ist ferner, dass die Dienststelle, der der Antragsteller zugewiesen ist,
mitgeteilt hat, dass seinem Antrag auf vorzeitige Entlassung dienstliche Gründe nicht
entgegenstehen.
Die mit der gerichtlichen Anordnung verbundene Vorwegnahme einer Entscheidung in der
Hauptsache ist gerechtfertigt, weil die Anordnung zur Gewährung effektiven
Rechtsschutzes notwendig ist. Die dem Antragsteller drohenden Nachteile – erheblicher
Zeitverlust bis zur Aufnahme eines seinerseits zeitintensiven Studiums mit einer
Regelstudienzeit von 12 Semestern - könnten bei einem Obsiegen in der Hauptsache, für
das eine hohe Wahrscheinlichkeit spricht, nicht mehr ausgeglichen werden, was dem
Antragsteller nicht zumutbar ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 52 Abs. 2 GKG, wobei die Kammer aufgrund der
Vorwegnahme der Hauptsache den Regelstreitwert nicht halbiert.