Urteil des VG Saarlouis vom 28.10.2010

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VG Saarlouis Urteil vom 28.10.2010, 10 K 5/10
Verlust des Rechts eines Unionsbürgers auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik
Deutschland
Leitsätze
1. Für den Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts nach § 4 a Abs. 1 FreizügG/EU genügt es,
dass sich der Unionsbürger irgendwann über 5 Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet
aufgehalten hat; nach Ablauf der geforderten 5 Jahre entsteht das Daueraufenthaltsrecht
kraft Gesetzes und erlischt lediglich in den gesetzlich geregelten Fällen nach §§ 4 a Abs. 7,
6 Abs. 1 FreizügigG/EU.
2. Schwerwiegende Gründe im Sinne des § 6 Abs. 4 FreizügG/EU liegen vor, wenn die
drohende Beeinträchtigung zu schweren Gefahren für die öffentliche Ordnung und
Sicherheit führt; dass der Unionsbürger wegen eines einzelnen Deliktes rechtskräftig zu
einer Freiheitsstrafe von mindestens 3 Jahren verurteilt worden und die Strafe nicht zur
Bewährung ausgesetzt worden ist, ist für die Annahme schwerwiegender Gründe im Sinne
von § 6 Abs. 4 FreizügG/EU nicht zwingend erforderlich.
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung eines
Betrages in Höhe der sich aus dem Kostenfestsetzungsbeschluss ergebenden
Kostenschuld abwenden, sofern nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in
derselben Höhe leistet.
Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger, ein italienischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen die Feststellung des
Verlusts seines Rechts auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland.
Der ledige und kinderlose Kläger wurde am … 1976 im Bundesgebiet geboren, wo auch
seine Eltern leben. Er erwarb den Realschulabschluss und besuchte anschließend die
Handelsschule. Danach begann er im August 1995 eine Ausbildung zum Kaufmann im
Groß- und Außenhandel, die er ebenso wie eine im August 2001 begonnene Ausbildung
zum Bürokaufmann wieder abbrach. Zuletzt bezog der Kläger vom 27.03.2007 bis
einschließlich 30.09.2009 Arbeitslosengeld II.
Der Kläger ist während seines Aufenthalts in Deutschland strafrechtlich unter anderem wie
folgt in Erscheinung getreten:
Durch Urteil des Amtsgerichts A-Stadt vom 14.04.1999, 4 Js 1012/98/40 VRs 197/99,
wurde der Kläger wegen Betruges in zehn Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit
Urkundenfälschung, in Tatmehrheit mit Diebstahl sowie Unterschlagung anvertrauter
Sachen zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt
wurde. Mit weiterem Urteil des Amtsgerichts A-Stadt vom 13.06.2000, 4 Js 1768/99/43
VRs 286/00, wurde der Kläger wegen Diebstahls in zwei Fällen zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten, ebenfalls ausgesetzt zur Bewährung, verurteilt.
Am 04.09.2001 folgte eine Verurteilung durch das Amtsgericht I-O wegen Diebstahls zu
einer Freiheitsstrafe von vier Monaten, 1007 Js 2648/01. Wegen erneuten Diebstahls in
drei Fällen in Tatmehrheit mit Computerbetrug in acht Fällen, begangen in Tatmehrheit mit
Betrug in drei Fällen, davon in zwei Fällen begangen in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren
ohne Fahrerlaubnis verhängte das Amtsgerichts A-Stadt mit Urteil vom 15.02.2002, 51
ohne Fahrerlaubnis verhängte das Amtsgerichts A-Stadt mit Urteil vom 15.02.2002, 51
VRs 4 Js 1555/01, gegen den Kläger eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und neun
Monaten.
Mit Schreiben vom 05.06.2002 teilte der Beklagte dem Kläger daraufhin mit, dass
beabsichtigt sei, ihn aus der Bundesrepublik Deutschland auszuweisen, und gab ihm
Gelegenheit zur Äußerung. Hierzu teilte der Kläger mit Schreiben vom 13.06.2002 mit,
dass er in Italien keine Verwandten und auch ansonsten keine Beziehungen zu seinem
Heimatland habe. Er lebe bereits seit eineinhalb Jahren mit seiner deutschen
Lebensgefährtin und deren minderjährigen Kind zusammen, für welches er die
Vaterfunktion übernommen habe. Dieses leide schon jetzt unter seiner Inhaftierung. Die
Straftaten seien außerdem zur Befriedigung einer noch vorhandenen Spielsucht begangen
worden. Er sei bemüht, diese durch eine geeignete Suchttherapie in den Griff zu
bekommen. Hierzu habe er bereits Kontakt zu einer Suchttherapiestelle aufgenommen.
Mit Schreiben vom 17.06.2002 teilte der Beklagte dem Kläger mit, dass zum jetzigen
Zeitpunkt noch einmal von einer Ausweisung abgesehen und stattdessen eine
ausländerbehördliche Verwarnung ausgesprochen werde; zugleich wurde der Kläger darauf
hingewiesen, dass bei neuen Straftaten die Ausweisung aus der Bundesrepublik
Deutschland die zwingende Folge sein werde.
Nach Verbüßung einer Teilstrafe wurde die Vollstreckung der Reststrafen des Klägers mit
Beschluss des Landgerichts A-Stadt vom 11.06.2003, III StVK 438/03, für die Dauer von
zwei Jahren zur Bewährung ausgesetzt und der Kläger am 25.07.2003 aus der Haft
entlassen.
Im Jahre 2004 trat der Kläger erneut strafrechtlich in Erscheinung. Durch Urteil des
Amtsgerichts A-Stadt vom 09.11.2005, 55 VRs 9 Js 2063/04, wurde er wegen Diebstahls
in drei Fällen, davon in einem Fall gemeinschaftlich handelnd, zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Den in dem Strafurteil enthaltenen
Strafzumessungserwägungen ist unter anderem zu entnehmen, dass aufgrund der
pathologischen Spielsucht des Klägers zwar nicht habe ausgeschlossen werden können,
dass er in seiner Steuerungsfähigkeit gemäß § 21 StGB erheblich beeinträchtigt gewesen
sei. Erheblich strafschärfend sei aber ins Gewicht gefallen, dass der Kläger bereits vielfach
und fast ausschließlich wegen gegen fremdes Vermögen und fremdes Eigentum
gerichteter Delikte strafrechtlich in Erscheinung getreten und der Wert des Diebesgutes in
allen Fällen ganz erheblich gewesen sei. Die Nichtaussetzung der Vollstreckung der
verhängten Gesamtfreiheitsstrafe durch das Gericht beruhte darauf, dass sich der Kläger
die gegen ihn verhängten und zum Teil empfindlichen Freiheitsstrafen nicht habe zur
Warnung dienen lassen, sondern erneut und zudem in laufender Bewährungszeit
einschlägig straffällig geworden sei. Da nach Auffassung des Strafgerichts nicht habe
erwartet werden können, dass der Kläger sich die bloße Verurteilung zur Warnung dienen
lassen werde, habe ihm keine günstige Sozialprognose gestellt werden können.
Zuletzt wurde der Kläger durch Urteil des Amtsgerichts A-Stadt vom 06.05.2009, 47 VRs
09(06) Js 1089/07, wegen gemeinschaftlichen Diebstahls in einem besonders schweren
Fall zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt.
Mit Schreiben vom 18.05.2009 wies der Beklagte den Kläger darauf hin, dass aufgrund
seiner bisherigen strafrechtlichen Verurteilungen die Feststellung gemäß § 6 FreizügG/EU
beabsichtigt sei, dass er das Recht auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik
Deutschland verloren habe, und gab ihm hierzu Gelegenheit zur Stellungnahme.
Unter dem 28.07.2009 bat der Kläger darum, von der Feststellung des Verlusts seines
Rechts auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland Abstand zu nehmen.
Hierzu führt er an, dass er in Deutschland, wo auch seine Eltern lebten, geboren sei. Die
der Verurteilung durch das Amtsgericht A-Stadt am 06.05.2009 zugrunde liegende
Straftat sei bereits am 05.06.2007 begangen worden. Nach der Begehung dieser Tat
habe er keine weiteren Straftaten mehr verübt. Er habe seither ein straffreies Leben mit
seiner Freundin im benachbarten Frankreich geführt. Aus der Vergangenheit habe er die
notwendigen Lehren gezogen und es nunmehr geschafft, dass sein Leben ohne erneute
Straffälligkeit in geordneten Bahnen verlaufe. Eine Drogen- oder Alkoholproblematik bestehe
bei ihm nicht. Die Ausweisung eines Unionsbürgers aus dem Gebiet der Bundesrepublik
Deutschland sei nur gerechtfertigt, wenn von Seiten des Unionsbürgers eine konkrete
Gefahr der Begehung einer Straftat ausgehe, die die Grundinteressen der Gesellschaft in
qualifizierter Weise beeinträchtige. Eine strafrechtliche Verurteilung allein reiche nach § 6
Abs. 2 FreizügG/EU nicht aus, um den Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt in der
Bundesrepublik Deutschland zu begründen. Da er in der Bundesrepublik Deutschland
geboren und aufgewachsen sei und fast ausschließlich dort gelebt habe, dürfe sein
Aufenthalt im Bundesgebiet nach § 6 Abs. 3 FreizügG/EU nur aus besonders
schwerwiegenden Gründen beendet werden. Bei der konkret zu befürchtenden Straftat
müsse es sich entweder um ein Verbrechen oder eine Straftat handeln, die zwar als
Vergehen sanktioniert sei, die jedoch geeignet sei, über den einzelnen Fall hinaus negative
Folgen für die Gesellschaft herbeizuführen. Besonders schwerwiegende Gründe seien dabei
anzunehmen, wenn der Betroffene wegen eines einzelnen Delikts rechtskräftig zu einer
Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden sei und die Wiederholung von
Verbrechen oder besonders schweren Vergehen drohe. Die gegen ihn zuletzt verhängte
Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten liege aber deutlich unter der
Bemessungsgrenze von drei Jahren. In der von ihm begangenen Straftat könnten auch bei
Würdigung aller konkreten Umstände, insbesondere von Art, Schwere und Häufigkeit, keine
besonders schwerwiegenden Gründe im Sinne von § 6 Abs. 3 FreizügG/EU gesehen
werden. Überdies fehle es an der erforderlichen konkreten Gefahr der Begehung weiterer
Straftaten. Er sei seit Begehung der letzten Straftat nicht mehr erneut straffällig
geworden.
Mit Bescheid vom 04.08.2009 stellte der Beklagte gemäß § 6 Abs. 1 FreizügG/EU den
Verlust des Rechts des Klägers auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik
Deutschland fest und drohte dem Kläger zugleich gemäß § 7 Abs. 1 FreizügG/EU die
Abschiebung nach Italien oder in einen anderen Staat an, in den er einreisen dürfe oder der
zu seiner Rückübernahme verpflichtet sei. Zur Begründung wurde ausgeführt, gemäß § 6
Abs. 1 FreizügG/EU könne der Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt in der
Bundesrepublik Deutschland nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU nur aus Gründen der öffentlichen
Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit festgestellt werden. Die Tatsache einer
strafrechtlichen Verurteilung genüge für sich allein zwar nicht, um die Verlustfeststellung zu
begründen. Im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen
dürften auch nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zugrunde liegenden
Umstände ein persönliches Verhalten erkennen ließen, welches eine gegenwärtige
Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstelle. Es müsse eine tatsächliche und hinreichend
schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Die
Vielzahl der Verurteilungen des Klägers zeige aber, dass die verhängten Haftstrafen keine
Wirkung auf ihn gehabt hätten und nicht davon ausgegangen werden könne, dass er sich
zukünftig straffrei verhalte. Aufgrund seines bereits im Jahr 1996 begonnenen
strafrechtlichen Werdegangs stelle der Kläger eine gegenwärtige Gefährdung der
öffentlichen Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland dar. Es bestehe eine
erhebliche Wiederholungsgefahr. Das ständige Begehen von Eigentumsdelikten berühre ein
ureigenstes Interesse der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland. Insbesondere bei
Einbruchsdelikten werde nicht nur ein materieller Schaden, sondern bei den Opfern auch
ein psychischer Schaden verursacht. Deren Vertrauen in die Sicherheit der eigenen
Wohnung bzw. des eigenen Betriebes werde nachhaltig erschüttert. Nach Ausübung des in
§ 6 Abs. 1 FreizügG/EU eingeräumten Ermessens überwiege das Interesse der
Bundesrepublik Deutschland an einer Verlustfeststellung das persönliche Interesse des
Klägers an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet. Der Kläger habe seine maßgebliche
Sozialisationsphase zwar in Deutschland erlebt. Aufgrund des Kontakts zu seinen ebenfalls
im Bundesgebiet aufenthaltsamen Eltern sei ihm aber die Lebensweise in Italien bekannt.
Auch dürfte dem Kläger die italienische Sprache zumindest rudimentär geläufig sein. Er
habe zudem seit März 2007 Arbeitslosengeld II bezogen, obwohl er in Frankreich wohnhaft
gewesen und dort einer Erwerbstätigkeit nachgegangen sei, was ebenfalls einen
Straftatbestand darstelle. Aufgrund der von ihm begangenen Straftaten sei der Kläger
auch nicht sozial in die Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland integriert.
Anhaltspunkte, dass dem Kläger aus gesundheitlichen Gründen eine Ausreise nach Italien
nicht möglich sei, bestünden nicht. Die Schutzvorschrift des § 6 Abs. 4 FreizügG/EU, nach
der die Verlustfeststellung nach Erwerb des Daueraufenthaltsrechts nur aus
schwerwiegenden Gründen getroffen werden könne, finde auf den Kläger keine
Anwendung. Das Daueraufenthaltsrecht setze gemäß § 4 a Abs. 1 FreizügG/EU voraus,
dass der Unionsbürger, seine Familienangehörigen und Lebenspartner sich seit fünf Jahren
ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hätten. Dies sei bei dem Kläger nicht der
Fall, weil er sich die letzten fünf Jahre nicht durchgängig im Bundesgebiet aufgehalten habe,
sondern seinen eigenen Angaben zufolge seit 2007 im benachbarten Frankreich bei einer
Freundin wohnhaft gewesen sei. Aufgrund der Begründung eines gemeinsamen
Wohnsitzes in Frankreich könne auch nicht davon ausgegangen werden, dass die
Abwesenheit des Klägers nur vorübergehender Natur habe sein sollen. Ebensowenig
genieße der Kläger den besonderen Schutz vor der Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 5
FreizügG/EU. Dieser setze voraus, dass der Kläger seinen Aufenthalt in den letzten zehn
Jahren durchgängig im Bundesgebiet gehabt hätte. Weitergehende Rechte könne der
Kläger auch nicht aus Art. 2 des Deutsch-italienischen Freundschafts-, Handels- und
Schifffahrtsvertrages vom 21.11.1957 herleiten. Danach könnten italienische
Staatsangehörige unter Beachtung der einschlägigen Gesetzesvorschriften in die
Bundesrepublik Deutschland einreisen, sich niederlassen, darin reisen und das
Bundesgebiet durchreisen, es sei denn, dass im Einzelfall Gründe der öffentlichen Ordnung,
der öffentlichen Sicherheit, der Volksgesundheit oder der Sittlichkeit dem entgegenstünden.
Des Weiteren dürften italienische Staatsangehörige, die in der Bundesrepublik Deutschland
einen ordnungsgemäßen Aufenthalt hätten, nach Art. 2 Abs. 2 dieses Vertrages nur
ausgewiesen werden, wenn Gründe der Sicherheit des Staates, der öffentlichen Sicherheit
und Ordnung oder der Sittlichkeit dies erforderlich machten. Nach einem
ordnungsgemäßen Aufenthalt von mehr als fünf Jahren sei eine Ausweisung nur noch aus
Gründen der Sicherheit des Staates oder dann zulässig, wenn die genannten Gründe
besonders schwerwiegend seien. Da es dem Kläger in den letzten dreizehn Jahren nicht
gelungen sei, straffrei zu bleiben, und das Begehen weiterer Straftaten zu befürchten sei,
beeinträchtige seine weitere Anwesenheit die öffentliche Sicherheit und Ordnung der
Bundesrepublik Deutschland. Ein erhöhter Ausweisungsschutz nach dem Deutsch-
italienischen Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrag stehe dem Kläger ebenfalls
nicht zu, da er sich in den letzten fünf Jahren nicht ordnungsgemäß im Bundesgebiet
aufgehalten habe. Der Begriff der Ausweisung sei dabei aufgrund der Weiterentwicklung
des Aufenthaltsrechts der Bürger der Europäischen Union der Feststellung des Verlusts der
Freizügigkeitsrechte nach dem Freizügigkeitsgesetz gleichzusetzen.
Mit Schreiben vom 01.09.2009 legte der Kläger hiergegen Widerspruch ein, zu dessen
Begründung er mit ergänzendem Schreiben vom 21.10.2009 weiter geltend machte, dass
er aufgrund seines rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet seit seiner Geburt im Jahre
1976 ein Daueraufenthaltsrecht gemäß § 4 a Abs. 1 FreizügG/EU erworben habe. Der
Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts nach § 4 a Abs. 1 FreizügG/EU setze nicht voraus,
dass er sich die letzten fünf Jahre ständig in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten
habe. Aus § 4 a Abs. 7 FreizügG/EU ergebe sich, dass erst eine Abwesenheit von mehr als
zwei aufeinanderfolgenden Jahren zum Verlust des Daueraufenthaltsrechts führe. Er habe
sich jedoch lediglich etwa ein Jahr und neun Monate in Frankreich aufgehalten. Dem
entsprechend könne die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt in
der Bundesrepublik Deutschland nach § 6 Abs. 4 FreizügG/EU nur aus schwerwiegenden
Gründen getroffen werden. Solche schwerwiegenden Gründe lägen jedoch nicht vor, da
bereits keine konkrete Gefahr der Begehung weiterer Straftaten bestehe. Er habe nach der
Begehung der letzten Straftat am 05.06.2007 in Frankreich gelebt und sich mit seiner
Lebensgefährtin ein neues Leben aufgebaut. Er habe regelmäßig seine Eltern besucht und
sei einer geregelten Arbeit nachgegangen. Erneut straffällig sei er nicht geworden. Auch
werde durch sein bisheriges vorbildliches Verhalten in der Justizvollzugsanstalt deutlich,
dass er die Vergangenheit hinter sich gelassen habe und nun straffrei leben möchte. Durch
seine Zustimmung zur Vollstreckung von weiteren Reststrafen habe er die Grundlage dafür
geschaffen, dass die Staatsanwaltschaft eine vorzeitige Entlassung befürworte. Habe er
danach sein Recht auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland nach § 2
Abs. 1 FreizügG/EU nicht verwirkt, erweise sich die gegenüber ihm weiter ausgesprochene
Abschiebungsandrohung ebenfalls als rechtswidrig.
Mit Widerspruchsbescheid vom 12.11.2009, den Prozessbevollmächtigten des Klägers am
03.12.2009 zugestellt, wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Zur
Begründung wurde ergänzend dargelegt, der von § 4 a Abs. 1 FreizügG/EU für ein
Daueraufenthaltsrecht vorausgesetzte fünfjährige rechtmäßige Aufenthalt im Bundesgebiet
müsse im Zeitpunkt des Erwerbs des Daueraufenthaltsrechts erfüllt sein. Da es hierbei um
müsse im Zeitpunkt des Erwerbs des Daueraufenthaltsrechts erfüllt sein. Da es hierbei um
die Sicherung der Kontinuität des Aufenthalts gehe, reiche es nicht aus, dass sich der
begünstigte Unionsbürger irgendwann einmal über fünf Jahre rechtmäßig in Deutschland
aufgehalten habe. Die Aufenthaltszeit von fünf Jahren müsse ununterbrochen unmittelbar
bis zum Erwerb des Daueraufenthaltsrechts erreicht werden. Überdies sei der Kläger
ausweislich des Strafurteils vom 09.11.2005 bereits zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung
in Frankreich wohnhaft gewesen. Da er damit bereits mehr als zwei Jahre abwesend
gewesen sei, hätte der Kläger ein etwaiges Daueraufenthaltsrecht auch nach § 4 a Abs. 7
FreizügG/EU verloren. Dass der Kläger aus einem nicht nur vorübergehenden Grund
abwesend gewesen sei, sei nicht ersichtlich.
Mit seiner am 04.01.2010 bei Gericht eingegangenen Klage verfolgt der Kläger sein
Begehren weiter.
Der Kläger hält an seiner Auffassung fest, dass er ein Daueraufenthaltsrecht gemäß § 4 a
Abs. 1 FreizügG/EU erworben habe und demzufolge die Feststellung des Verlusts seines
Rechts auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland nach § 6 Abs. 4
FreizügG/EU nur aus schwerwiegenden Gründen getroffen werden könne. Zu Unrecht gehe
der Beklagte davon aus, dass der Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts nach § 4 a Abs. 1
FreizügG/EU voraussetze, dass sich der Unionsbürger die letzten fünf Jahre ständig in der
Bundesrepublik Deutschland aufgehalten habe. Zwar sehe diese Vorschrift einen ständigen
fünfjährigen Aufenthalt vor. Ein Daueraufenthaltsrecht werde aber bereits dann erworben,
wenn sich der Unionsbürger irgendwann über fünf Jahre ständig rechtmäßig im
Bundesgebiet aufgehalten habe. Nach einem fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalt im
Bundesgebiet entstehe das Daueraufenthaltsrecht kraft Gesetzes und erlösche nur in den
gesetzlich geregelten Fällen. Gemäß § 4 a Abs. 7 FreizügG/EU führe erst eine Abwesenheit
von mehr als zwei aufeinanderfolgenden Jahren zum Verlust des Daueraufenthaltsrechts.
Kürzere Abwesenheitszeiten ließen das Daueraufenthaltsrecht dagegen unberührt. Danach
habe er das von ihm erworbene Daueraufenthaltsrecht nicht verloren, weil er zu keiner Zeit
zwei aufeinanderfolgende Jahre abwesend gewesen sei. Dass er bereits im April 2007 in
Frankreich wohnhaft gewesen sei, treffe überdies nicht zu. Seine diesbezüglichen Angaben
im Widerspruchsverfahren beruhten auf einem Missverständnis. Er habe lediglich vom
01.05.2008 bis zu seiner Verhaftung am 18.01.2009 in Frankreich gewohnt. In der
davorliegenden Zeit habe er in Deutschland gelebt. Besonders schwerwiegende Gründe im
Sinne des § 6 Abs. 4 FreizügG/EU, die allein die Feststellung des Verlusts seines Rechts auf
Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland rechtfertigten, lägen nicht vor.
Da er seit der Begehung der letzten Straftat am 05.06.2007 nicht erneut straffällig
geworden sei, drohe auch nicht die konkrete Gefahr der Begehung eines Verbrechens oder
eines besonders schweren Vergehens. Nach seiner Haftentlassung habe er zudem eine
Arbeitsstelle als Koch in Aussicht, so dass er in der Lage sein werde, seinen
Lebensunterhalt ohne öffentliche Mittel sicherzustellen. Seine Abschiebung nach Italien
würde eine unbillige Härte darstellen. Er sei in Deutschland geboren und dort
aufgewachsen. Mit Ausnahme seines etwa 7 ½-monatigen Aufenthalts in Frankreich habe
er ausschließlich in der Bundesrepublik Deutschland gelebt. Zu Italien als dem Land seiner
Staatsangehörigkeit habe er keinen Bezug. Er verfüge weder über ausreichende
Sprachkenntnisse, um in Italien eine Arbeitsstelle zu finden, noch habe er dort Verwandte,
die ihn unterstützen könnten. Da auch seine Eltern keinen Besitz in Italien hätten, stünde er
dort als Obdachloser vor dem Nichts.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 04.08.2009 in Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 12.11.2009
aufzuheben und die Hinzuziehung seines
Prozessbevollmächtigten im Vorverfahren für notwendig
zu erklären.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte beruft sich zur Begründung auf die Ausführungen in den angefochtenen
Bescheiden und weist ergänzend darauf hin, dass der Kläger, obwohl er in Frankreich
wohnhaft und dort berufstätig gewesen sei, weiterhin Sozialleistungen bezogen habe. Dies
stelle eine Straftat dar, da er die ARGE über seinen wahren Aufenthaltsort getäuscht habe.
Dass der Kläger nach seiner Haftentlassung eine Arbeitsstelle in Aussicht habe, rechtfertige
nicht die Annahme, dass von ihm keine weiteren Straftaten mehr zu befürchten seien. Eine
Rückkehr nach Italien stelle für den Kläger auch keine unbillige Härte dar. Im Falle seiner
Abschiebung nach Italien teile der Kläger das Schicksal anderer italienischer
Staatsangehöriger, die in ihr Heimatland zurückkehren müssten. Es sei davon auszugehen,
dass dem Kläger die italienische Sprache zumindest rudimentär geläufig sei. Im Übrigen
existiere in Italien ein Sozialsystem, dessen Leistungen der Kläger in Anspruch nehmen
könne, so dass ihm zumindest ein bescheidenes Leben möglich sei. Aufgrund der
Mitgliedschaft Italiens in der Europäischen Union bestünden für den Kläger keine
Eingewöhnungsschwierigkeiten vor Ort. Dass er in der Lage sei, sich in einem anderen Land
eine Existenz aufzubauen, habe er durch seinen Aufenthalt in Frankreich bewiesen.
Mit Beschluss der erkennenden Kammer vom 11.06.2010 wurde dem Kläger zur
Durchführung des erstinstanzlichen Verfahrens Prozesskostenhilfe bewilligt.
Die Kammer hat hinsichtlich der Dauer des Aufenthalts des Klägers im Bundesgebiet in den
letzten zehn Jahren Beweis durch Vernehmung der Eltern des Klägers als Zeugen erhoben.
Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom
28.10.2010 verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird Bezug genommen auf die
Gerichtsakten sowie die beigezogenen Verfahrensakten der Staatsanwaltschaft 55 VRS 09
Js 2063/04, 55 VRs 09 Js 2062/04, 55 VRs 09 Js 1374/04, 43 VRs 286/00 – 4 Js
1768/99, 02 (06) Js 8/09, 36 (11) Js 993/08, 40 VRs 197/99 04 Js 1012/98, 22 Js
1434/96, 51 VRs 4 Js 1555/01 und 47 VRs 09 (06) Js 1098/07 und die Verwaltungsakten
des Beklagten, deren Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung war.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage hat keinen Erfolg.
Der Bescheid des Beklagten vom 04.08.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
12.11.2009 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger daher nicht in seinen Rechten (§ 113
Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Rechtsgrundlage für die in Ziff. 1. des Bescheides des Beklagten vom 04.08.2009
ausgesprochene Feststellung des Verlusts des Rechts des Klägers auf Einreise und
Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland ist § 6 FreizügG/EU. Danach kann der Verlust
des Rechts freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger auf Einreise nach und Aufenthalt in
Deutschland i.S.v. § 2 Abs. 1 FreizügG/EU unbeschadet des § 5 Abs. 5 FreizügG/EU nur
aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit (Art. 39 Abs. 3, Art. 46
Abs. 1 Vertrag über die Europäische Gemeinschaft -EGV-) festgestellt und die
Bescheinigung über das gemeinschaftsrechtliche Aufenthaltsrecht oder über den
Daueraufenthalt eingezogen und die Aufenthaltskarte oder Daueraufenthaltskarte
widerrufen werden (§ 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU). Die Tatsache einer strafrechtlichen
Verurteilung genügt für sich allein nicht und kann wegen der besonderen Rechtsstellung der
vom Gemeinschaftsrecht privilegierten Personen sowie der Bedeutung des Grundsatzes
auf Freizügigkeit eine solche Feststellung nur rechtfertigen, wenn die ihr zu Grunde
liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige
Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt (vgl. § 6 Abs. 2 Satz 1 und 2 FreizügG/EU).
Nicht jeder Verstoß gegen innerstaatliche Rechtsvorschriften, der zunächst einmal eine
Störung der öffentlichen Ordnung darstellt, führt dazu, dass Gründe der öffentlichen
Ordnung vorliegen, die eine Beschränkung des Freizügigkeitsrechts erlauben würden. Nach
§ 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU muss eine tatsächliche und hinreichend schwere
Gefährdung der öffentlichen Ordnung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft
berührt. Anhaltspunkte hierfür können sich insbesondere auch aus einer Verurteilung
wegen in §§ 53, 54 AufenthG aufgeführter Straftaten ergeben.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 03.08.2004, 1 C 30.02,
BVerwGE 121, 297; ferner
BVerwGE 121, 297; ferner
Storr/Wenger/Eberle/Albrecht/Harms,
Zuwanderungsrecht, 2. Auflage 2008, § 6 FreizügG/EU
Rdnr. 9, sowie Hoppe, HTK-AuslR, § 6 FreizügG/EU, die
Verlustfeststellung 03/2008 Nr. 5.1, wonach ein
Grundinteresse der Gesellschaft nur dann berührt sei,
wenn von einem Freizügigkeitsberechtigten die Begehung
von Straftaten, die der mittelschweren oder schweren
Kriminalität zuzurechnen sind, drohe
Dies ist indessen nicht im Sinne einer Regelvermutung zu verstehen. Erforderlich und
ausschlaggebend ist vielmehr in jedem Fall die unter Berücksichtigung der konkreten
Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Bewertung des persönlichen Verhaltens des
Unionsbürgers und die insoweit anzustellende aktuelle Gefährdungsprognose.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 03.08.2004, a. a. O.
Für eine solche Gefährdungsprognose ist bedeutsam, ob eine hinreichende – unter
Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit nach dem Ausmaß des möglichen Schadens und
dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts differenzierende –
Wahrscheinlichkeit besteht, dass der Unionsbürger künftig die öffentliche Ordnung im Sinne
des Art. 39 Abs. 3 EGV beeinträchtigen wird. Soweit in diesem Zusammenhang die
einschlägigen strafrichterlichen Entscheidungen heranzuziehen sind, ist auch zu prüfen,
inwieweit die Verbüßung der Strafe erwarten lässt, dass der Unionsbürger künftig keine die
öffentliche Ordnung gefährdende Straftaten mehr begehen wird, und welche Folgerungen
gegebenenfalls aus einer Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56 StGB) zu ziehen sind.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 03.08.2004, a. a. O., m. w. N.;
ferner Hailbronner, AuslR, Stand: August 2010, § 6
FreizügG/EU Rdnr. 33 ff.
§ 6 Abs. 4 FreizügG/EU erhöht die Anforderungen an die Verlustfeststellung nach § 6 Abs.
1 FreizügG/EU in den Fällen, in denen der Unionsbürger bereits ein Daueraufenthaltsrecht
nach § 4 a FreizügG/EU erworben hat, zusätzlich dahingehend, dass diese nur aus
schwerwiegenden Gründen getroffen werden darf. Bei Unionsbürgern und deren
Familienangehörigen, die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet
hatten, und bei Minderjährigen darf die Verlustfeststellung darüber hinaus gemäß § 6 Abs.
5 Satz 1 FreizügG/EU nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit getroffen
werden.
Davon ausgehend liegen die Voraussetzungen für die Feststellung des Verlusts des Rechts
auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland im Fall des Klägers vor.
Der besondere Schutz vor einer Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU
kommt dem Kläger nicht zugute, weil diese Vorschrift voraussetzt, dass der
freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger seinen Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im
Bundesgebiet hatte. Der geforderte Zehnjahres-Zeitraum muss dabei der
Verlustfeststellungsentscheidung unmittelbar vorausgehen. Insoweit lassen in
entsprechender Anwendung von § 4 a Abs. 6 Nr. 1 FreizügG/EU allenfalls vorübergehende
Abwesenheiten von bis zu insgesamt sechs Monaten im Jahr den von § 6 Abs. 5 Satz 1
FreizügG/EU vorausgesetzten zehnjährigen Aufenthalt unberührt.
Vgl. Kloesel/Christ/Häußer, Deutsches Aufenthalts- und
Ausländerrecht, Stand: Juni 2010, § 6 Rdnr. 157 f.; ferner
Storr/Wenger/Eberle/Albrecht/Harms, a. a. O., § 6
FreizügG/EU Rdnr. 19
Ein in diesem Sinne ununterbrochener Aufenthalt im Bundesgebiet in den letzten zehn
Jahren lässt sich im Fall des Klägers indes nicht mit der erforderlichen
Überzeugungsgewissheit feststellen. Den Einlassungen des Klägers selbst ist zu
entnehmen, dass er sich in den letzten zehn Jahren nicht ausschließlich im Bundesgebiet
aufgehalten hat. Seinen Angaben im Widerspruchsverfahren zufolge hat er bereits seit der
Begehung der zuletzt mit Urteil des Amtsgerichts A-Stadt vom 06.05.2009 abgeurteilten
Straftat am 05.06.2007 in Frankreich gelebt und sich dort mit seiner damaligen
Lebensgefährtin ein neues Leben aufgebaut. Zwar hat der Kläger demgegenüber im
vorliegenden Klageverfahren unter Berufung auf ein angebliches Missverständnis
vorgetragen, er sei entgegen seinen Angaben im Widerspruchsverfahren lediglich in der
Zeit vom 01.05.2008 bis zu seiner am 18.01.2009 erfolgten Verhaftung, mithin nur
etwas mehr als sieben Monate, in Frankreich wohnhaft gewesen, und sich in der
mündlichen Verhandlung nochmals abweichend davon dahingehend eingelassen, er habe
während dieses Zeitraumes nur ein- bis zweimal pro Woche bei seiner damaligen
Lebensgefährtin in Frankreich übernachtet und ansonsten bei seinen Eltern in A-Stadt, wo
er auch mit seinem Hauptwohnsitz gemeldet gewesen sei, gewohnt. Eine plausible
Erklärung für dieses von seinen bisherigen Angaben erheblich abweichende Vorbringen ist
der Kläger indes schuldig geblieben. Seine jetzige Einlassung ist zudem offensichtlich vom
Prozessverlauf beeinflusst und erscheint vor dem Hintergrund, dass der Kläger mit
europäischem Haftbefehl gesucht wurde und er davon ausgehen musste, dass auch die
Wohnung seiner Eltern polizeilich überwacht wird, nicht nachvollziehbar. Die daraus
resultierenden Zweifel an der Glaubhaftigkeit der klägerischen Angaben haben auch die in
der mündlichen Verhandlung als Zeugen einvernommenen Eltern des Klägers nicht
auszuräumen vermocht. Die Mutter des Klägers hat sich bei ihrer Vernehmung im
Wesentlichen darauf beschränkt, die wenig plausiblen Angaben des Klägers in der
mündlichen Verhandlung zu bestätigen, und darüber hinaus lediglich erklärt, dass der
Kläger sich auch während der Zeit, als er wegen der von ihm begangenen Straftaten
gesucht worden sei, nicht versteckt habe. Gerade diese in Anbetracht der dem Kläger im
Falle seines Aufgreifens drohenden empfindlichen Freiheitsstrafe in hohem Maße
unrealistisch anmutende Aussage seiner Mutter spricht mit Gewicht für eine reine
Gefälligkeitsaussage, zumal sie in der mündlichen Verhandlung insgesamt den Eindruck
vermittelt hat, dass sie -ohne Weiteres nachvollziehbar- ein eigenes Interesse an einem
positiven Ausgang des Klageverfahrens für den Kläger hat.
Entsprechendes gilt für die wenig überzeugenden Bekundungen des Vaters des Klägers,
der bei seiner Einvernahme als Zeuge zunächst lediglich anzugeben vermochte, dass der
Kläger in der Zeit, in welcher er vor seiner Verhaftung in Frankreich eine Lebensgefährtin
gehabt habe, jede Woche bzw. alle zwei Wochen zu Hause in A-Stadt gewesen sei, und
erst auf wiederholte Nachfrage von Seiten des Gerichts angab, dass der Kläger zwei- bis
dreimal pro Woche bei ihnen in A-Stadt geschlafen habe.
Verbleiben danach aber auch bei verständiger Würdigung der Aussagen der Eltern des
Klägers begründete Zweifel an einem im Sinne von § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU
ununterbrochenen Aufenthalt des Klägers in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet,
gehen diese Zweifel zu Lasten des Klägers, der die materielle Beweislast für diese ihm
günstige, den besonderen Schutz vor einer Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU
auslösende Tatsache trägt.
Der Kläger erfüllt allerdings die Anforderungen für das Bestehen eines
Daueraufenthaltsrechts nach § 4 a Abs. 1 FreizügG/EU mit der Folge, dass er sich auf den
besonderen Schutz nach § 6 Abs. 4 FreizügG/EU berufen kann.
Ein Unionsbürger erwirbt nach § 4 a Abs. 1 FreizügG/EU das Daueraufenthaltsrecht
unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU,
wenn er sich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat. Dies
trifft entgegen der Auffassung des Beklagten auf den Kläger zu, der im Bundesgebiet
geboren und dort aufgewachsen ist. Die Regelung des § 4 a Abs. 1 FreizügG/EU bringt zum
Ausdruck, dass ein Unionsbürger über den Zeitraum von fünf Jahren ständig
freizügigkeitsberechtigt gewesen sein muss, um ein Daueraufenthaltsrecht zu erwerben,
und dass dieses nach seiner Entstehung nicht mehr vom weiteren Vorliegen der
Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU abhängig ist. Insoweit genügt es, dass sich
ein Unionsbürger irgendwann über fünf Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat.
Nach Ablauf der geforderten fünf Jahre entsteht das Daueraufenthaltsrecht kraft Gesetzes
und erlischt lediglich in den gesetzlich geregelten Fällen nach §§ 4 a Abs. 7, 6 Abs. 1
FreizügG/EU.
So ausdrücklich OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom
28.04.2009, 2 B 23/07, zitiert nach juris; a.A. offenbar
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 14.03.2006,
13 S 220/06, AuAS 2006, 218
Dementsprechend käme der Kläger nur dann nicht in den Genuss der Privilegierung nach §
6 Abs. 4 FreizügG/EU, wenn sein nach § 4 a Abs. 1 FreizügG/EU erworbenes und nach § 6
Abs. 4 FreizügG/EU vorausgesetztes Daueraufenthaltsrecht zwischenzeitlich erloschen
wäre. Dies ist ungeachtet der zwischen den Beteiligten umstrittenen Frage, ob sich der
Kläger aus einem seiner Natur nach nicht nur vorübergehenden Grund mehr als zwei
aufeinander folgende Jahre außerhalb des Bundesgebietes aufgehalten hat, was nach § 4 a
Abs. 7 FreizügG/EU zum Verlust des Daueraufenthaltsrechts führt, indes nicht der Fall. Der
Verlust des Daueraufenthaltsrechts tritt nämlich selbst bei Vorliegen der Voraussetzungen
des § 4 a Abs. 7 FreizügG/EU nicht automatisch ein. Vielmehr bedarf der Verlust bei einem
Unionsbürger gemäß § 5 Abs. 7 i. V. m. Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU einer eigenen, von der
Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU zu unterscheidenden ausdrücklichen
Feststellung.
Vgl. Kloesel/Christ/Häußer, a. a. O., § 4 a FreizügG Rdnr.
52 und § 5 FreizügG Rdnr. 161; ferner Hailbronner, a. a.
O., § 5 FreizügG Rdnr. 27, 34 f.
Der dem Kläger danach zukommende besondere Schutz nach § 6 Abs. 4 FreizügG/EU
steht der Feststellung des Verlusts seines Rechts auf Einreise und Aufenthalt in der
Bundesrepublik Deutschland gleichwohl nicht entgegen, weil schwerwiegende Gründe der
öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorliegen, die eine solche Verlustfeststellung
rechtfertigen.
Vgl. Calliess/Ruffert, EUV-EGV, 3. Auflage 2007, Art. 39
EGV Rdn. 96 f.
Schwerwiegende Gründe im Sinne des § 6 Abs. 4 FreizügG/EU liegen vor, wenn die
drohende Beeinträchtigung zu schweren Gefahren für die öffentliche Ordnung und
Sicherheit führt. Erforderlich ist die erhebliche Gefahr mindestens mittlerer oder schwerer
Straftaten oder Gefährdung der inneren Sicherheit.
Vgl. dazu Hailbronner, a. a. O., § 6 FreizügG/EU Rdnr. 55
Von einer solchen Gefahr ist angesichts der bestehenden hohen Wahrscheinlichkeit einer
erneuten Begehung schwerwiegender Straftaten im Fall des Klägers auszugehen.
Der Kläger ist, wie sich aus der vom Beklagten eingeholten Auskunft aus dem
Bundeszentralregister vom 13.05.2009 ergibt, seit 1998 immer wieder strafrechtlich
einschlägig in Erscheinung getreten. Insgesamt wurde er in dem Zeitraum von 1999 bis
zum Jahr 2009 sechsmal wegen Eigentums- bzw. Vermögensdelikten, zuletzt durch Urteil
des Amtsgerichts A-Stadt vom 06.05.2009, 47 VRs 09 (06) Js 1089/07, wegen
gemeinschaftlichen Diebstahls in einem besonders schweren Fall zu einer Freiheitsstrafe
von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt. Dass seine Straftaten schwerwiegend sind,
macht schon die Höhe sowohl der mit dem vorgenannten Strafurteil verhängten
Freiheitsstrafe als auch die Höhe der bereits zuvor mit Urteil des Amtsgerichts A-Stadt vom
09.11.2005, 55 VRs 9 Js 2063/04, wegen besonders schweren Diebstahls in drei Fällen,
davon in einem Fall gemeinschaftlich handelnd, ausgeworfenen Gesamtfreiheitsstrafe von
zwei Jahren deutlich. Der erhebliche Unrechtsgehalt der von dem Kläger begangenen
Straftaten kommt dabei insbesondere auch in den Feststellungen des letztgenannten
Strafurteils deutlich zum Ausdruck, ausweislich derer der Wert des Diebesgutes in allen
Fällen, vor allem jedoch in dem Fall, in dem der Kläger aus einer Tankstelle einen Tresor mit
den Einnahmen des Wochenendes in Höhe von 31.816,35 Euro, den Grundbestand an
Rollengeld in Höhe von 1.095,00 Euro sowie einen weiteren Betrag in Höhe von 5.198,14
Euro entwendet hat, ganz erheblich gewesen ist und der Kläger die Tatbegehung in allen
Fällen dadurch vorbereit hat, dass er sich als Mitarbeiter in den jeweiligen Tankstellen, wo
er die Diebstähle verübt hat, hat einstellen lassen und damit das ihm als Mitarbeiter von
er die Diebstähle verübt hat, hat einstellen lassen und damit das ihm als Mitarbeiter von
den jeweiligen Tankstelleninhabern entgegengebrachte Vertrauen missbraucht hat. Dies
weist ebenso wie auch der weitere Tatumstand, dass der Kläger dadurch, dass er in einem
der Fälle den Tresor mitsamt der Einnahmen entwendet hat, eine Sache gestohlen hat, die
durch ein verschlossenes Behältnis gegen Wegnahme besonders gesichert war und damit
einen Diebstahl in einem besonders schweren Fall gemäß § 243 Abs. 1 Nr. 2 StGB
begangen hat, auf eine erhebliche kriminelle Energie hin. Dass es sich vorliegend um
Straftaten handelt, die eine schwerwiegende, das Grundinteresse der Gesellschaft
berührende Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung darstellen, zeigt sich
überdies darin, dass der Kläger ausweislich der weiteren Feststellungen in dem Strafurteil
des Amtsgerichts A-Stadt vom 09.11.2005 in allen Fällen gehandelt hat, um sich aus der
wiederholten Tatbegehung eine nicht unerhebliche Einnahmequelle zur Finanzierung seines
Lebensunterhalts und seiner Spielsucht zu verschaffen. Insoweit besteht aber ein großes
öffentliches Interesse daran, solche fremdes Vermögen und Eigentum in erheblichem Maße
schädigende Straftaten zu unterbinden.
Das Gericht ist auch davon überzeugt, dass die ernsthafte Gefahr vergleichbarer Straftaten
durch den Kläger nach seiner Haftentlassung besteht. Obwohl der Kläger infolge seiner
Verurteilung durch das Amtsgerichts A-Stadt vom 15.02.2002 wegen Diebstahls in drei
Fällen in Tatmehrheit mit Computerbetrug in acht Fällen, begangen in Tatmehrheit mit
Betrug in drei Fällen, davon in zwei Fällen begangen in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren
ohne Fahrerlaubnis zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten
unter dem 17.06.2002 ausländerbehördlich verwarnt und zugleich darauf hingewiesen
worden war, dass er bei Begehung weiterer Straftaten aus der Bundesrepublik
Deutschland ausgewiesen werde, hat er sich hiervon unbeeindruckt gezeigt und ist im Jahre
2004 erneut einschlägig straffällig geworden. Auch von der insoweit erfolgen Verurteilung
durch das Amtsgericht A-Stadt vom 09.11.2005 wegen Diebstahls in drei Fällen und der
erneuten teilweisen Verbüßung der mit ihr verhängten Gesamtfreiheitsstrafe von zwei
Jahren hat sich der Kläger indes nicht von der Begehung einer weiteren Straftat abhalten
lassen. Bereits kurze Zeit, nachdem der Kläger aufgrund der mit Beschluss des
Landgerichts A-Stadt vom 11.06.2003, III StVK 438/03, erfolgten Aussetzung der
Vollstreckung der Reststrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts A-Stadt vom 09.11.2005
zur Bewährung am 15.12.2006 aus der Haft entlassen worden war, fiel er in sein altes
kriminogenes Verhaltensmuster zurück und verübte am 05.06.2007 gemeinschaftlich
handelnd einen weiteren Diebstahl in einem besonders schweren Fall, indem er wiederum
unter Ausnutzung seiner Mitarbeiterstellung bei einer Tankstelle aus einem gewaltsam
aufgehebelten Tresorfach etwa 11.000,00 Euro Bargeld entnahm sowie des Weiteren aus
der Tankstelle selbst Zigaretten im Wert von etwa 3.900,00 Euro, ein Gutscheinbuch, eine
Digitalkamera und eine Videokassette aus der Überwachungskamera entwendete. Gerade
diese neuerliche, durch Urteil des Amtsgerichts A-Stadt vom 06.05.2009 mit einer
Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten geahndete Straftat und die mit ihr
verbundene hohe Rückfallgeschwindigkeit unter Beibehalt eines aus Sicht des Klägers
„bewährten“ Musters für die Begehung der Tat zeigen aber, dass alle vorangegangenen
Verurteilungen keine Wirkungen im Sinne einer Verhaltensänderung auf den Kläger hatten.
Sie bestätigt nachdrücklich, dass es dem Kläger an einer grundsätzlichen Einsichtsfähigkeit
in sein bisheriges Fehlverhalten fehlt und er nicht willens oder fähig ist, das Vermögen oder
Eigentum anderer zu respektieren und sich dauerhaft, ohne erhebliche Straftaten zu
begehen, in der Bundesrepublik Deutschland aufzuhalten.
Dass der Kläger seit der letzten Tatbegehung am 05.06.2007 nicht mehr straffällig
geworden sein will, spricht ebenso wenig wie sein angeblich vorbildliches Verhalten in der
JVA A-Stadt gegen das Vorliegen einer fortbestehenden – und wie zu betonen ist –
erheblichen Wiederholungsgefahr. Davon abgesehen, dass gegen den Kläger weitere
staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren sowohl wegen des Verdachts eines am
12.01.2008 begangenen Leistungsbetruges, 02 (06) Js 8/09, als auch wegen des
Verdachts eines am 23.01.2008 begangenen Diebstahls geringwertiger Sachen, 36 (11) Js
993/08, anhängig waren, die im Hinblick auf seine Verurteilung durch das Amtsgericht A-
Stadt vom 06.05.2009 als unwesentliche Nebenstraftaten eingeschätzt und jeweils gemäß
§ 154 Abs. 1 StPO vorläufig eingestellt wurden, lässt sich weder aufgrund des bloßen
Zeitablaufs von etwa anderthalb Jahren seit der zuletzt abgeurteilten Straftat bis zu der am
18.01.2009 erfolgten Verhaftung des Klägers eine Wiederholungsgefahr ausschließen,
noch steht eine etwaige beanstandungsfreie Führung des Klägers im Strafvollzug der
Annahme einer Wiederholungsgefahr entgegen. Hierfür wäre vielmehr Voraussetzung, dass
es durch den derzeitigen Strafvollzug zu einem grundlegenden und nachhaltigen Wandel in
der Einstellung des Klägers gekommen ist. Durchschlagende Anhaltspunkte dafür, dass sich
der Kläger ernsthaft mit seinen Straftaten auseinandergesetzt und aus Schuldeinsicht
heraus eine neue Orientierung gewonnen hätte, sind indes nicht erkennbar geworden.
Auch die bloße Behauptung des Klägers, nach seiner Haftentlassung eine Arbeitsstelle als
Koch in Aussicht zu haben, wodurch er in die Lage versetzt werde, seinen Lebensunterhalt
ohne öffentliche Leistungen sicherstellen zu können, rechtfertigt es angesichts der
grundsätzlich fehlenden Bereitschaft des Klägers, sich rechtstreu zu verhalten, nicht, von
einem Wegfall der Wiederholungsgefahr auszugehen, zumal der Kläger gerade in den Fällen
der gravierendsten der von ihm begangenen Straftaten zu deren Begehung zuvor
Arbeitsverhältnisse eingegangen ist und die jeweiligen Arbeitgeber geschädigt hat.
Sind danach von dem Kläger auch künftig weiterhin Straftaten von erheblichem Gewicht zu
erwarten, steht der Annahme „schwerwiegender Gründe“ im Sinne von § 6 Abs. 4
FreizügG/EU nicht entgegen, dass der Kläger nicht wegen einer einzelnen Straftat zu einer
Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist.
Zwar ist nach Nr. 6.4.1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum
Freizügigkeitsgesetz/EU des Bundesministeriums des Innern vom 26.10.2009 (GMBl.
2009, 1270) die Annahme schwerwiegender Gründe, die nach Erwerb des
Daueraufenthaltsrechts gemäß § 4 a FreizügG/EU zum Verlust des Aufenthaltsrechts
führen können, insbesondere bei drohender Wiederholung von Verbrechen und besonders
schweren Vergehen gerechtfertigt, wenn der Betroffene wegen eines einzelnen Deliktes
rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden und die
Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist.
Ebenso die Gesetzesbegründung zu § 6 Abs. 3
FreizügG/EU a. F., der eine Verlustfeststellung nach
Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts nur aus „besonders
schwerwiegenden Gründen“ vorsah, BT-Drucks. 15-240
(105) zu Abs. 3
Hierbei handelt es sich indes lediglich um ein Regelbeispiel, welches es nicht ausschließt, im
Einzelfall nach Verurteilung wegen schwerwiegender Straftaten aufgrund des abgeurteilten
Verhaltens des Unionsbürgers und der insoweit anzustellenden aktuellen
Gefährdungsprognose gleichwohl eine schwerwiegende, das Grundinteresse der
Gesellschaft berührende Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung
anzunehmen. Hierfür spricht auch, dass der von § 6 Abs. 4 FreizügG/EU verwandte Begriff
der „schwerwiegenden Gründe“ identisch ist mit dem in § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG
verwandten Begriff, der eine Ausweisung bei Vorliegen besonderen Ausweisungsschutzes
ebenfalls nur bei Vorliegen schwerwiegender Gründe der öffentlichen Sicherheit und
Ordnung zulässt.
Vgl. Kloesel/Christ/Häußer, a.a.O., § 6 FreizügG Rdnr. 141
f.
Schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinne von § 56 Abs. 1
Satz 2 AufenthG liegen aber gemäß § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG in der Regel in den Fällen
des § 53 und 54 Nr. 5, Nr. 5 a und 7 AufenthG, mithin gerade auch in den Fällen, in denen
der Ausländer -wie vorliegend der Kläger- wegen vorsätzlicher Straftaten innerhalb von fünf
Jahren zu mehreren Freiheitsstrafen von zusammen mindestens drei Jahren rechtskräftig
verurteilt worden ist (vgl. § 53 Nr. 1 AufenthG).
In Anbetracht der soweit fortbestehenden gegenwärtigen Gefahr, dass der Kläger nach
seiner Haftentlassung hinsichtlich der Begehung weiterer schwerwiegender Straftaten
wieder rückfällig wird, geht auch das staatliche Interesse des Schutzes der öffentlichen
Sicherheit und Ordnung dem klägerischen Interesse an einem Fortbestehen seines Rechts
auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland eindeutig vor.
Bei der im Rahmen der gebotenen Ermessensentscheidung vorzunehmenden Abwägung,
vgl. BVerwG, Urteil vom 03.08.2004, a.a.O., zitiert nach
juris, insb. Rdn. 26 f.; EuGH, Urteil vom 29.04.2004, C-
482/01 (Orfanopoulos und Oliveri) - zitiert nach juris, und
vom 27.10.1977, Rechtssache 30/77 (Gouchereau),
EuGH-Slg-1977, 1999, 2012; Richtlinie 2004/38/EG vom
29.04.2004, Erwägungsgründe 23 f.
ob das staatliche Interesse am Schutz der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit im Sinne
des Art. 39 Abs. 3 EG das private Interesse des Unionsbürgers an seinem Verbleib im
Bundesgebiet deutlich überwiegt, ist die besondere Rechtsstellung der vom
Gemeinschaftsrecht privilegierten Personen und die besondere Bedeutung des
Grundsatzes der Freizügigkeit zu berücksichtigen. Neben dem verfassungsrechtlich
gewährleisteten Grundrecht des Art. 6 GG und dem in Art. 8 EMRK verbürgten Recht auf
Achtung des Familien- und Privatlebens kommt dabei dem gemeinschaftsrechtlichen
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besondere Bedeutung zu. Bei der Beurteilung, ob der
beabsichtigte Eingriff in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Ziel, dem
Schutz der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit, steht, sind neben der Art und Schwere
der begangenen Straftat sowie der Zeit, die seit der Begehung der Straftat verstrichen ist,
zugunsten des Unionsbürgers insbesondere auch die Dauer seines Aufenthalts in
Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage,
seine soziale und kulturelle Integration sowie das Ausmaß seiner Bindungen zum
Herkunftsstaat zu berücksichtigen (vgl. § 6 Abs. 3 FreizügG/EU).
Vgl. dazu auch BVerwG, Urteil vom 03.08.2004, a. a. O.;
ferner EuGH, Urteil vom 29.04.2004, C-482/01 und C-
493/01, DVBl. 2004, 876; Callies/Ruffert, a.a.O.,
Gemessen an den so zu beachtenden hohen Anforderungen erweist sich die getroffene
Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik
Deutschland unter Berücksichtigung des vom Kläger erworbenen Rechts auf
Daueraufenthalt im Sinne von Kapitel IV; Art. 16 ff. Richtlinie 2004/38/EG vom 29.04.2004
weder als unverhältnismäßig noch begegnet sie mit Blick auf Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK
rechtlichen Bedenken.
Zwar hat der Beklagte verkannt, dass der Kläger sich aufgrund eines rechtmäßigen
Aufenthalts im Bundesgebiet von mehr als fünf Jahren auf ein Daueraufenthaltsrecht nach §
4 a Abs. 1 FreizügG/EU berufen kann. Der Erwerb des Daueraufenthaltsrechts hat indes
lediglich zur Folge, dass die Feststellung des Verlustes des Rechts auf Einreise und
Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland nach § 6 Abs. 4 Freizüg/EU nur aus
schwerwiegenden Gründen getroffen werden kann. Für die Frage der Rechtmäßigkeit der
auch im Falle des Vorliegens schwerwiegender Gründe im Sinne von § 6 Abs. 4
FreizügG/EU gebotenen Ermessensentscheidung ist dagegen entscheidend, ob die Dauer
des rechtmäßigen Aufenthaltes des Unionsbürgers im Bundesgebiet, die allein
Anknüpfungspunkt für den Erwerb des Daueraufenthaltsrechts nach § 4 a Abs. 1
FreizügG/EU ist, berücksichtigt worden ist. Daran bestehen vorliegend indes keine
Bedenken. Der Beklagte hat in seine Abwägung ersichtlich den Umstand eingestellt, dass
der Kläger im Bundesgebiet geboren und hier den Großteil seines bisherigen Lebens,
insbesondere auch die prägenden Jahre seiner Kindheit und Jugend, verbracht hat, diesen
Umstand gleichwohl nicht als ausschlaggebend angesehen, um von einer
Verlustfeststellung abzusehen. Darin kann eine Fehlgewichtung nicht gesehen werden.
Insoweit konnte nämlich nicht unberücksichtigt bleiben, dass die letzten Jahre des
Aufenthalts des Klägers in Deutschland im Wesentlichen geprägt sind durch eine Vielzahl
von zum Teil gemeinschaftlich sowie unter Ausnutzung ihm entgegengebrachten
Vertrauens durch seine Arbeitgeber und gewerbsmäßig begangener schwerer Diebstähle,
die zuletzt zur Verhängung hoher Freiheitsstrafen geführt haben und deren Verbüßung
auch derzeit noch andauert. Auch wiegt die bestehende Gefahr der Begehung weiterer
Straftaten durch den Kläger mit Blick auf die damit zu befürchtenden Beeinträchtigungen
fremder Eigentums- und Vermögensinteressen schwer. Demgegenüber fallen die
Interessen des kinderlosen und ledigen Klägers an einem Fortbestehen seines Rechts auf
Freizügigkeit deutlich weniger ins Gewicht. Ungeachtet dessen, dass der Kläger seine
wesentliche Sozialisation in Deutschland erfahren hat, ist der Grad seiner Integration in die
hiesigen Lebensverhältnisse nicht besonders ausgeprägt. Der Kläger verfügt nicht über eine
abgeschlossene Berufsausbildung und konnte in Deutschland auch ansonsten wirtschaftlich
nicht Fuß fassen. Ebenso wenig ist es ihm gelungen, sich in das soziale und
gesellschaftliche Leben im Bundesgebiet zu integrieren. Eine Rückkehr in das Land seiner
Staatsangehörigkeit ist dem Kläger auch unter Berücksichtigung der familiären Bindungen
zu seinen im Bundesgebiet lebenden Eltern demgegenüber nicht schlechterdings
unzumutbar. Auch wenn der Kläger, wie er vorgibt, über keine verwandtschaftlichen
Beziehungen zu in Italien lebenden Angehörigen verfügt und auch ansonsten keinen Bezug
zu Italien hat, ist doch zu sehen, dass Italien, worauf der Beklagte zu Recht hingewiesen
hat, als Mitgliedsstaat der Europäischen Union dem westlich geprägten Kulturraum
zuzuordnen ist und sich die dortigen Lebensverhältnisse nicht grundlegend von denen in
Deutschland unterscheiden. Etwaige Anfangsschwierigkeiten, mit denen der 34-jährige
Kläger im Falle seiner Rückkehr dorthin konfrontiert würde, stellten sich für ihn nicht als
unüberwindbar dar; sie sind ihm als Mann im arbeitsfähigen Alter ohne Weiteres
zuzumuten. Dass er grundsätzlich in der Lage ist, sich außerhalb von Deutschland eine
Existenz aufzubauen, hat er bereits durch seinen Aufenthalt in Frankreich, wo er vor seiner
Verhaftung und Auslieferung nach Deutschland wohnhaft und seinen Angaben in der
mündlichen Verhandlung zufolge ein Praktikum in einem Restaurant begonnen hatte, unter
Beweis gestellt. Dass der Kläger im Falle einer Rückkehr nach Italien dort „als Obdachloser
vor dem Nichts stünde“, ist danach nicht annehmbar. Im Übrigen ist es dem Kläger, sofern
er, wie von ihm weiter geltend gemacht wird, nicht über hinreichende italienische
Sprachkenntnisse verfügen sollte, zuzumuten, diese gegebenenfalls zu vervollständigen.
Dies alles berücksichtigend hat der Beklagte bei Abwägung insbesondere auch der
bestehenden familiären Bindungen des Klägers sowie der Dauer seines bisherigen
Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland einerseits und andererseits der Schwere
seiner Straftaten und der insoweit bestehenden erheblichen Wiederholungsgefahr dem
Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und der Verhütung weiterer durch den
Kläger drohender Straftaten gegenüber dem Interesse des Klägers an einem Fortbestehen
seines Rechts auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland zu Recht den
Vorrang eingeräumt.
Die getroffene Feststellung des Verlusts des Rechts des Klägers auf Einreise und Aufenthalt
in der Bundesrepublik Deutschland erweist sich des Weiteren auch nicht deshalb
unverhältnismäßig, weil das aus § 6 Abs. 1 FreizügG/EU ergebende Einreiseverbot ohne
Befristung gemäß § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU ausgesprochen worden ist. Angesichts
der Vielzahl und Schwere der von dem Kläger begangenen Straftaten, der bei ihm auch
weiterhin zu erwartenden Strafrückfälligkeit sowie der Bedeutung der betroffenen
Rechtsgüter war es auch unter Berücksichtigung der familiären Situation des Klägers bisher
nicht geboten, das Einreiseverbot zeitlich zu befristen.
Der Verlustfeststellung steht letztlich auch nicht Art. 2 Abs. 2 Satz 2 des Freundschafts-,
Handels- und Schifffahrtsvertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der
Italienischen Republik vom 27.11.1957 (BGBl. 1959, II, S. 949) entgegen. Danach ist die
Ausweisung von Staatsangehörigen des einen Vertragsstaates, die im Gebiet des anderen
Vertragsstaates seit mehr als fünf Jahren einen ordnungsgemäßen Aufenthalt haben, nur
aus Gründen der Sicherheit des Staates oder dann zulässig, wenn besonders
schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder der Sittlichkeit es
erforderlich machen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
u. a. in den Urteilen vom 16.11.1999, 1 C 11.99, DVBl.
2000, 425 und vom 11.06.1996, 1 C 24.94, InfAuslR
1997, 8,
besteht zwischen den in bilateralen völkerrechtlichen Abkommen der Bundesrepublik
Deutschland wie auch in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 des Deutsch-Italienischen Freundschafts-,
Handels- und Schifffahrtsvertrages vom 21.11.1957 vorausgesetzten „besonders
schwerwiegenden“ Ausweisungsgründen und den „schwerwiegenden Gründen“ des
nationalen Rechts kein qualitativer Unterschied. Da fallbezogen „schwerwiegende Gründe“
im Sinne von § 6 Abs. 4 FreizügG/EU vorliegen, die, wie dargelegt, mit den
„schwerwiegenden Gründen“ im Sinne von § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG identisch sind,
sind auch die Ausweisungsvoraussetzungen nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 des Deutsch-
Italienischen Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrages vom 21.11.1957 erfüllt.
Erweist sich nach alledem die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und
Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland gemäß § 6 Abs. 1 FreizügG/EU als
rechtmäßig, ist auch die hierauf gründende, in Ziff. 2. des angefochtenen Bescheides des
Beklagten vom 04.08.2009 gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU weiter ausgesprochene
Abschiebungsandrohung aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
Die Klage ist daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Eines
Ausspruchs über die Notwendigkeit der Zuziehung des Prozessbevollmächtigten des
Klägers für das Vorverfahren bedurfte es angesichts der getroffenen Kostenentscheidung
nicht.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 167 VwGO, 708
Nr. 11, 711 ZPO.
Die Zulassung der Berufung beruht auf §§ 124 a Abs. 1 Satz 1, 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO.
Beschluss
Der Streitwert wird gemäß §§ 63 Abs. 2, 62 Abs. 2 GKG auf 5.000,-- Euro festgesetzt.