Urteil des VG Neustadt vom 01.06.2006

VG Neustadt: bundesamt für migration, klage auf unterlassung, provinz, genfer flüchtlingskonvention, politische verfolgung, anerkennung, auskunft, widerruf, gutachter, bevölkerung

VG
Neustadt/Wstr.
01.06.2006
4 K 493/06.NW
Verwaltungsgericht Neustadt/Wstr.
Urteil vom 01.06.06 - 4 K 493/06.NW
Asylrecht
Verkündet am: 01.06.2006
gez. ...
Justizangestellte als
Urkundsbeamtin der
Geschäftsstelle
Verwaltungsgericht Neustadt an der Weinstrasse
Urteil
Im Namen des Volkes
In dem Verwaltungsrechtsstreit
des Herrn C.
- Kläger -
Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte .............
gegen
die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch den Leiter des Bundesamtes für Migration und
Flüchtlinge, Dasbachstr. 15b, 54292 Trier,
- Beklagte -
wegen Asylrechts (Türkei)
hat die 4. Kammer des Verwaltungsgerichts Neustadt an der Weinstraße aufgrund der mündlichen
Verhandlung vom 1. Juni 2006 durch
den Richter am Verwaltungsgericht Kintz als Einzelrichter
für Recht erkannt:
Der Widerrufsbescheid vom 7. März 2006 wird aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung der festzusetzenden
Kosten abwenden, wenn nicht die Gegenseite vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe
leistet.
Tatbestand
Der 1979 geborene Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit und
yezidischer Religionszugehörigkeit, stammt aus Midyat. Er reiste Ende Juli/Anfang August 1994 auf dem
Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte seine Anerkennung als Asylberechtigter.
Zur Begründung führte er im Wesentlichen an, in seinem Heimatland aufgrund seiner Volkszugehörigkeit
unterdrückt worden zu sein. Er sei in der Schule diskriminiert und geschlagen worden. Die Eltern und
Geschwister seien von der Polizei mitgenommen und schikanösen Behandlungen ausgesetzt worden.
Politisch betätigt habe er sich nicht.
Mit Bescheid vom 31. März 1995 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge
seinen Asylantrag ab. Auf die hiergegen von dem Kläger erhobene Klage verpflichtete das
Verwaltungsgericht Gießen die Beklagte mit Urteil vom 6. August 1997 zu der Feststellung, dass der
Kläger aufgrund seiner yezidischen Religionszugehörigkeit und der damit zusammenhängenden
politischen Verfolgung durch den türkischen Staat die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG erfüllt.
Dieser Verpflichtung kam das Bundesamt mit Bescheid vom 6. Oktober 1997 nach.
Im November 2005 leitete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gegen den Kläger ein
Widerrufsverfahren ein und hörte ihn hierzu mit Schreiben vom 1. Dezember 2005 an. Mit Schriftsatz
seiner Prozessbevollmächtigten vom 9. Januar 2006 antwortete der Kläger daraufhin, ein Widerruf könne
nur erfolgen, wenn eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen mit
hinreichender Sicherheit ausgeschlossen sei. Hiervon könne angesichts des Umstandes, dass die
Islamisierung des türkischen Staates und der türkischen Bevölkerung in den vergangenen Jahren eher
zu- denn abgenommen habe, keinesfalls die Rede sein. Im Übrigen seien er und seine
Familienangehörigen vor der Ausreise auch Zielscheibe staatlicher Verfolgungsmaßnahmen geworden,
da sie im Verdacht gestanden hätten, die PKK zu unterstützen. Insbesondere der Vater des Klägers sei
prokurdischer Funktionär gewesen und habe als Separatist gegolten. Nach wie vor sei dieser
Personenkreis aber von staatlichen Verfolgungsmaßnahmen bis hin zur Folter betroffen.
Mit Bescheid vom 7. März 2006 widerrief das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die mit Bescheid
vom 6. Oktober 1997 getroffene Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG a.F.
vorliegen. Ferner stellte das Bundesamt fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG sowie
Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen. Zur Begründung führte das
Bundesamt aus, mangels nachgewiesener aktueller Referenzfälle zur Verfolgung von Yeziden seitens der
muslimischen türkischen Bevölkerung lasse sich eine zuvor von der verwaltungsgerichtlichen
Rechtsprechung angenommene mittelbare regionale Gruppenverfolgung nach Art. 16a Abs. 1 GG bzw.
eine nichtstaatliche regionale Gruppenverfolgung nach § 60 Abs. 1 Satz 4c AufenthG inzwischen nicht
mehr bejahen. Im Hinblick auf die Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der Europäischen Union ständen
insbesondere Maßnahmen gegen Yeziden in besonderer Weise unter Beobachtung der europäischen
Öffentlichkeit. Da aber weder von dieser Seite noch von Seiten der Hilfsorganisationen und
Nichtregierungsorganisationen in Bezug auf die Yeziden kritische Äußerungen festzustellen seien, könne
davon ausgegangen werden, dass die durch das Gericht festgestellten Tatsachen zutreffend seien.
Soweit der Kläger ferner auf die politische Verfolgung seines Vaters abstelle, könne dies vorliegend keine
Berücksichtigung finden. Es bestünden keine Hinweise dafür, dass der Kläger elf Jahre, nachdem er die
Türkei als 15-Jähriger verlassen habe, Verfolgung seitens der türkischen Behörden zu gewärtigen hätte.
Das Vorbringen des Klägers verhelfe dem Antrag daher auch unter dem Aspekt der Sippenhaft nicht zum
Erfolg.
Gegen diesen ihm am 10. März 2006 zugestellten Bescheid hat der Kläger am 21. März 2006 Klage
erhoben. Er führt aus, es treffe nicht zu, dass Yeziden in der Türkei keiner Verfolgung mehr unterlägen.
Jedenfalls sei er vor erneuter Verfolgung nicht hinreichend sicher, da von einer Vorverfolgung
auszugehen sei.
Der Kläger beantragt,
den Widerrufsbescheid vom 7. März 2006 aufzuheben,
hilfsweise
festzustellen, dass in seinem Fall Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs.2 - 7 AufenthG gegeben sind.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie bezieht sich zur Begründung auf die Gründe des angefochtenen Bescheides.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf den Inhalt der Schriftsätze, der Verwaltungsakten und
der Niederschrift vom 1. Juni 2006 sowie der in das Verfahren eingeführten Auskünfte und
Stellungnahmen, die Gegenstand der Verhandlung waren, verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes für Migration und
Flüchtlinge vom 7. März 2006 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1
Satz 1 VwGO).
Rechtsgrundlage des Widerrufsbescheides vom 7. März 2006ist die Vorschrift des § 73 Abs. 1 Satz 1
AsylVfG in der seit dem In-Kaft-Treten des Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung
und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern vom 30. Juli
2004 (Zuwanderungsgesetz) ab 1. Januar 2005 geltenden Fassung (vgl. BVerwG, DVBl 2006, 511). Damit
ist das Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im
Bundesgebiet (AufenthG) in Geltung gesetzt worden; das bisherige Ausländergesetz vom 9. Juli 1990 -
AuslG a.F. - ist gleichzeitig außer Kraft getreten. Verbote der Abschiebung politisch Verfolgter werden
nunmehr in § 60 Abs. 1 AufenthG, Abschiebungshindernisse in § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG geregelt.
Gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG sind - vorbehaltlich des Satzes 3 - die Anerkennung als
Asylberechtigter und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (früher § 51
Abs. 1 AuslG) vorliegen, unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr
vorliegen. Diese Bestimmung ist verfassungsgemäß (vgl. BVerwG, DVBl 2006, 511).
Die Widerrufsentscheidung erweist sich in der Sache als rechtswidrig.
Für die Anwendbarkeit des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist es unerheblich, ob die Asyl- und
Flüchtlingsanerkennung rechtmäßig oder rechtswidrig gewesen ist (BVerwG, NVwZ 2005, 89).
Entscheidend ist allein, dass die für die Anerkennungs- und Feststellungsentscheidung maßgebenden
Voraussetzungen nachträglich entfallen sind, die Asyl- und Flüchtlingsanerkennung nunmehr
ausgeschlossen ist. Dies ist der Fall, wenn sich die zum Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen
Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend so verändert haben, dass bei einer
Rückkehr des Ausländers in seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen
Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist und nicht
aus anderen Gründen erneut Verfolgung droht (BVerwG, DVBl 2006, 511; vgl. auch BVerwG, NVwZ 2005,
89 und OVG Rheinland-Pfalz, NVwZ 2001, Beilage Nr. 1 Seite 9 ff). Ändert sich demgegenüber
nachträglich lediglich die Beurteilung der Verfolgungslage, ist ein Widerruf nicht gerechtfertigt. Das gilt
selbst dann, wenn die andere Beurteilung auf erst im Nachhinein bekannt gewordenen oder neuen
Erkenntnissen beruht. Nicht zu prüfen beim Widerruf der Anerkennungsentscheidung ist, ob dem
Ausländer wegen allgemeiner Gefahren im Herkunftsstaat (z.B. auf Grund von Kriegen, Naturkatastrophen
oder einer schlechten Wirtschaftslage) eine Rückkehr unzumutbar ist (OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil
vom 4. April 2006 – 9 A 3538/05.A – m.w.N.). Schutz kann insoweit nach den allgemeinen Bestimmungen
des deutschen Ausländerrechts gewährt werden (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 2 und § 60 a Abs. 1 Satz 1
AufenthG ).
Nach diesen Grundsätzen sind unter Anwendung des herabgestuften Prognosemaßstabs die
Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG/§ 51 Abs. 1
AuslG a.F. im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 AsylVfG) nicht entfallen.
Gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer in Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention
nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse,
Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen
seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Die Voraussetzungen dieser Norm sind grundsätzlich -
abgesehen von hier nicht zu prüfenden Besonderheiten, die sich aus § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG
ergeben - deckungsgleich mit denjenigen des Asylanspruchs aus Art. 16 a Abs. 1 GG , soweit es die
Verfolgungshandlung, das geschützte Rechtsgut und den politischen Charakter der Verfolgung betrifft.
Die für eine Widerrufsentscheidung zu fordernde nachträgliche entscheidungserhebliche Veränderung
der maßgeblichen Verhältnisse im Vergleich zu denjenigen zum Zeitpunkt der
Anerkennungsentscheidung liegt hier nach Auffassung des Gerichts nicht vor. Das Bundesamt für die
Anerkennung ausländischer Flüchtlinge hatte den Kläger aufgrund des in Übereinstimmung mit der
damaligen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung (s. z.B. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 1. April
1992 - 13 A 11860/90 - ) ergangenen Verpflichtungsurteils des VG Gießen vom 6. August 1997 mit
Bescheid vom 6. Oktober 1997 als politisch Verfolgten anerkannt, weil er als Mitglied der ihren Glauben
praktizierenden Yeziden in deren angestammtem Siedlungsgebiet in der Türkei einer regional
begrenzten mittelbaren staatlichen Gruppenverfolgung wegen seiner Religionszugehörigkeit ausgesetzt
war und ihm keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung stand.
Nach erneuter Überprüfung kann zum jetzigen Zeitpunkt jedenfalls nicht mit hinreichender Sicherheit
ausgeschlossen werden, dass Yeziden nach wie vor einer asylerheblichen Gruppenverfolgung in der
Türkei ausgesetzt sind. Zwar haben sowohl das OVG Schleswig in seinem Urteil vom 29. September 2005
- 1 LB 38/04 - als auch das OVG Nordrhein-Westfalen in seinem Urteil vom 14. Februar 2006 - 15 A
2119/02.A - unter Aufgabe ihrer bisherigen Rechtsprechung ausgeführt, unter Auswertung des zur
Verfügung stehenden Erkenntnismaterials sei davon auszugehen, dass Yeziden im Falle einer Ausreise
in die Türkei nicht mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer mittelbar staatlichen Gruppenverfolgung
wegen ihrer Religionszugehörigkeit ausgesetzt wären. Vorliegend gilt aber hinsichtlich der Beurteilung,
ob sich in absehbarer Zeit eine zwischenzeitlich beendete Gruppenverfolgungssituation wiederholen
könnte, nicht der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, sondern der herabgeminderte
Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Denn der Kläger hat sich während der Verfolgungshandlungen im
Verfolgungsgebiet aufgehalten (vgl. BVerwG, NVwZ 1988, 635).
Diese gesteigerten Voraussetzungen an die Rechtmäßigkeit eines Widerrufs wären vorliegend nur erfüllt,
wenn sich unter Berücksichtigung der verfügbaren Erkenntnisquellen eine weitgehend einheitliche
Auskunftslage dahin ergäbe, dass sich die Situation für yezidische Glaubensangehörige im Südosten der
Türkei derart entspannt und stabilisiert hat, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei als Mitglied
der yezidischen Glaubensgemeinschaft mit hinreichender Sicherheit keine Verfolgung droht. Daran fehlt
es hier jedoch; denn jedenfalls die aktuelle Stellungnahme des Gutachters Azad Baris vom 17. April 2006
an das OVG Sachsen-Anhalt kommt unter sachlicher und differenzierter Schilderung einer Vielzahl von
Einzelfällen zu dem Ergebnis, dass sich die Sicherheitslage der Yeziden nicht nachhaltig verbessert hat.
Im Einzelnen:
Das Gericht geht davon aus, dass in der Türkei gegenwärtig nur noch knapp 400 Yeziden wohnen. Zwar
hat das Auswärtige Amt im Lagebericht vom 11. November 2005 von noch rund 2000 in der Türkei
lebenden yezidischen Glaubensangehörigen gesprochen. Dagegen ist das Yezidische Forum e.V. in
seiner Stellungnahme vom 5. Februar 2006 zur Situation der Yeziden in der Türkei von nur noch 363
Personen ausgegangen. In Übereinstimmung damit kommt der Gutachter Azad Baris auf Grund einer
demographischen Datenerhebung und eigener Recherche vor Ort in seiner Stellungnahme vom 17. April
2006 an das OVG Sachsen-Anhalt zu dem Ergebnis, dass im April 2006 noch annähernd 400 Yeziden in
ihren Ansiedlungsdörfern oder in den Kreisstädten im Osten der Türkei lebten. Diese Zahl gliedert er wie
folgt auf: Provinz Batman 51 Personen, Provinz Diyarbakir 11 Personen, Provinz Mardin 72 Personen,
Provinz Urfa 243 Personen, Provinz Siirt unbekannt. Das Gericht sieht keine Veranlassung, an der
Verlässlichkeit dieser detailliert erhobenen Daten zu zweifeln.
Auch die allgemeine Lage der Yeziden in der Türkei wird in aktuellen Erkenntnismitteln uneinheitlich
beschrieben. Aus einigen Berichten ergeben sich Anhaltspunkte dafür, dass sich die Situation der
Yeziden im Vergleich zu den Jahren zwischen 1980 und 2000 beruhigt hat (s. u.a. Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge, Einzelentscheiderbriefe vom Juli 2004 und März 2005; NZZ vom 22. November
2004: „Neubeginn in assyrischen Dörfern der Südosttürkei“). Nach den Auskünften des Auswärtigen
Amtes sind in den traditionellen Siedlungsgebieten der Yeziden im Südosten der Türkei seit mehreren
Jahren keine religiös motivierten Übergriffe von Moslems gegen Yeziden bekannt geworden (vgl. die
Lageberichte vom 11. November 2005 , Seite 20 f. und vom 3. Mai 2005 Seite 16 sowie die Auskunft vom
20. Januar 2006 an OVG Sachsen-Anhalt). Diese Angaben stützen sich u.a. auf Befragungen einzelner
Yeziden im Südosten der Türkei. So hat ein Dorfältester aus einem Dorf in der Provinz Batman bei einem
am 27. Juli 2003 durchgeführten Besuch von Vertretern der Deutschen Botschaft in Ankara diesen
gegenüber angegeben, dass es dort seit der Rückkehr von aus Deutschland zurückgekommenen
Yeziden keine Schwierigkeiten mit den in den Nachbardörfern lebenden Moslems gegeben hat und
Yeziden vor Gericht erfolgreich die Rückgabe der nach ihrem Wegzug von Moslems in Besitz
genommenen Häusern erstritten hätten (s. Auskunft des Auswärtigen Amtes an VG Braunschweig vom 3.
Februar 2004). Ferner haben am 19. September 2001 fünf der yezidischen Glaubensgemeinschaft
angehörende Kläger aus dem Dorf Yolveren in der Provinz Batman Klage auf „Unterlassung von
rechtswidrigen Störungen und eine angemessene Vergütung“ vor dem erstinstanzlichen Zivilgericht
Batman erhoben. Mit Urteil vom 24. Dezember 2001 hat das genannte Gericht unter Hinweis auf
Grundbucheintragungen die Rechtmäßigkeit des Immobilieneigentums der Kläger bestätigt. Die
Beklagten erklärten daraufhin, dass sie die besetzten Immobilien bis zum 31. Dezember 2001 räumen
würden, woraufhin die Klage auf Zahlung einer angemessenen Vergütung zurückgenommen wurde.
Nach der vorgenannten Auskunft des Auswärtigen Amtes hat des Weiteren ein „maßgeblicher
Yezidenführer" in Besiri/Batman Vertretern der Deutschen Botschaft erklärt, in der Region um Batman
gebe es noch ca. 17 bis 18 Yezidendörfer, bei denen es sich sowohl um Dörfer mit reiner
Yezidenbevölkerung als auch um Dörfer mit gemischt muslimisch-yezidischer Bevökerung handele. In
den letzten Jahren habe sich das Verhältnis zwischen den Religionsgruppen erheblich verbessert. In den
Kreisen Besiri, Batman und Bismil habe es in jüngerer Zeit keine Übergriffe gegen Yeziden gegeben.
Gleichlautend gab der Dorfvorsteher des Yezidendorfs Burc im Kreis Viransehir/Provinz Sanliurfa am
22.Juli 2003 gegenüber Vertretern der Deutschen Botschaft an, eine Vertreibung der in dieser Region
lebenden Yeziden bzw. Übergriffe seitens muslimischer Dorfbewohner habe es nicht gegeben. Es gebe
auch keine Schwierigkeiten mit den muslimischen Nachbarn (Auskunft des Auswärtigen Amtes an VG
Braunschweig vom 3. Februar 2004).
Dagegen wird in anderen Quellen von erheblichen Übergriffen gegenüber yezidischen
Glaubensangehörigen auch in den letzten Jahren berichtet. So hat das Yezidische Forum in seiner
Stellungnahme vom 5. Februar 2006 zur Situation der Yeziden in der Türkei vier konkrete Übergriffe
beschrieben. Der Sachverständige Azad Baris hat in seinem Gutachten vom 17. April 2006 an das OVG
Sachsen-Anhalt, zu dessen Erstellung er vor Ort recherchiert und Betroffene aufgesucht hat, zahlreiche
Einzelfälle detailliert geschildert, in denen es zu massiven Drohungen und zum Teil schweren
Verletzungen gegenüber Yeziden, zu gewaltsamen Wegnahmen ihrer Ernten und zur Zerstörung
yezidischer Religionsstätten gekommen sein soll. Beispielhaft sind die nachfolgenden Vorfälle im
Zeitraum Oktober 2004 bis März 2006:
Im Oktober 2004 seien der Onkel des Gutachters sowie fünf weitere Yeziden von muslimischen Arabern in
der Kreisstadt Viransehir auf offener Straße unter Jubel von mehreren hundert Schaulustigen
niedergeschlagen worden. Als Folge des Überfalls habe Firat Deniz eine lebensgefährliche Verletzung
am Kopf erlitten und habe mehrere Wochen im Krankenhaus von Urfa verbringen müssen, während zwei
weitere Yeziden mit Arm- und Kopfverletzungen davongekommen seien.
Ende des Jahres 2004 sei die Heilige Städte der Yeziden namens Kolibaba im Distrikt Besiri durch
„Unbekannte“ völlig zerstört worden. Auch seien die geweihten Bäume dabei verbrannt worden.
Anfang 2005 sei das 1.000 Jahre alte Heilige Grabmal der Heiligen Jungfrau in der Weiler Kubeldor im
Landkreis Besiri geplündert und zerstört worden. Die Heilige Städte Scheiche Vind sowie zwei weitere
heilige Begräbnisstädten seien im März 2005 geöffnet und geplündert worden.
Im Dorf Zizex seien Halef Ferho und seine Ehefrau im Januar 2005 durch Unbekannte ermordet worden.
Das Dorf Bacin im Kreis Midyat, in dem ursprünglich über 300 yezidische Familien gelebt hätten, sei heute
völlig leer und niemand könne sich dort niederlassen, da Dorfschützer und die türkische Armee dort
stationiert seien. Als einige ehemalige yezidische Bewohner des Dorfes versucht hätten, die Ortschaft zu
besuchen, um herauszufinden, ob eine Rückkehrmöglichkeit bestehe, seien sie vehement bedrängt und
aus dem Rayon verjagt worden.
Im Dorf Fistek sei der Yezide Halef Deniz, der sich überwiegend in der Kreisstadt Viransehir aufgehalten
habe, im April 2005 von Muslimen überfallen worden. Man habe ihm gesagt, dass er nicht mehr seine
Felder bestellen dürfe. Im September 2005 seien Halef Deniz und Übid Göcmen aus dem Dorf Fistek auf
ihren Feldern von arabischen Muslimen aus dem Nachbardorf zusammengeschlagen und aufgefordert
worden, umgehend das Areal zu verlassen.
Im Mai 2005 sei Sabri Yildiz, der mit seiner Großfamilie in der Bundesrepublik lebe, im Dorf Yaban
während seines damaligen Aufenthalts bei der Feldarbeit von arabischen Muslimen angegriffen und
willkürlich geschlagen worden, wonach er seitdem seine Ländereien nicht mehr bestellen dürfe.
Im Juni 2005 sei Soro Baris ehemals aus dem Dorf Zewra von Dorfschützern des Stammes Türkan
zusammengeschlagen und erpresst worden. Ein Teil seiner Ernte sei in Brand gesteckt und
Bewässerungsanlagen durch Sprengstoff demoliert worden.
In Viransehir sei der deutsche Staatsangehörige Tahir Özgür im Sommer 2005 von den türkischen
Sicherheitskräften festgenommen und einen Tag zum Militärverhör gebracht worden. Dem Gutachter
gegenüber habe Herr Özgür von Misshandlungen und Diskriminierung in Bezug auf seine
Glaubenszugehörigkeit berichtet. Freigelassen worden sei er nur unter der Auflage einer Ausreise aus
dem Gebiet.
Im Sommer 2005 sei Herr Ibrahim Burc seitens fanatischer Muslime aus der Umgebung angegriffen und
blutig zusammengeschlagen worden. Grund für den Überfall sein Landentzug im Dorf Burc gewesen.
Im August 2005 sei der ansonsten im Bundesgebiet lebende Bisar Ayaz während seines dortigen
Aufenthaltes von kurdischen Muslimen in der Stadt Viransehir angegriffen und zusammengeschlagen
worden, wobei er mehrere Knochenbrüche an Arm und Beinen davongetragen habe.
Im Dezember 2005 sei Ibrahim Dur aus dem Dorf Hacizede von Dorfschützern des Stammes Dodikan
zusammengeschossen und erpresst worden.
Im Dezember 2005 seien Timo Deniz und sein Sohn Firat Deniz von konvertierten Yeziden und
muslimisch-kurdischen Dorfschützern im Dorf Gede Osmin angeschossen worden, ihr Fahrzeug sei
enteignet worden.
Im Dorf Kiwex, das die staatlich beauftragten Dorfschützer des Dorfes per Anordnung des lokalen Gerichts
hätten verlassen müssen, seien einige yezidische Männer überwiegend aus Deutschland im Jahre 2005
in die Ortschaft zurückgekehrt, um sich nach Rückkehrmöglichkeiten zu erkundigen. Laut Aussagen von
Herrn Agirman und Herrn Coban seien sie seitens der islamischen Dorfschützer aus den umliegenden
Dörfern und der Kreisgendarmerie aufgefordert worden, das Dorf binnen kurzer Zeit zu verlassen, um den
Ruf der Türkei nach außen nicht zu beeinträchtigen. Ferner sei im März 2006 die einzige Straße des
Dorfes durch Unbekannte nachts vermint worden. Als am nächsten Morgen die zurückgekehrten
Bewohner in die Kreisstadt unterwegs gewesen seien, seien die Sprengköpfe explodiert, so dass die
Bewohner um Haaresbreite dem Tod entkommen seien. Daraufhin seien einige von ihnen wieder ins
Bundesgebiet zurückgekehrt. In der Provinz Diyarbakir im Distrikt Cinar lebten gegenwärtig keine Yeziden
mehr. Dennoch seien im Dorf Davudi das Heilige Grab „Ziyareta Pir Davud“ durch „Unbekannte“
geplündert und zerstört worden.
In den letzten zwei Jahren seien die yezidischen Religionskultstätten Scheich Brahim, Tulik, Kani und
Mezel durch Moslems mit Unterstützung der türkischen lokalen Behörden zerstört worden.
Der Sachverständige Azad Baris führt in dem Gutachten weiter aus, die türkische Regierung mache den
Rücksiedlern zwar Versprechungen. In der Praxis würden aber vielfach Baugenehmigungen verzögert,
ebenso die Rückgabe von Grundstücken und der Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur. In
Neuauflagen der amtlichen türkischen Schulbücher seien außerdem die nicht muslimischen
Volksgruppen der Armenier, der Pontos-Griechen und der syrisch-orthodoxen Christen als „Yezid“,
„Spione“, „Verräter“ und „Barbaren“ bezeichnet und Synagogen, Kirchen und Minderheitenschulen als
schädliche Einrichtungen dargestellt. Von einer Verbesserung der Religionsfreiheit könne danach keine
Rede sein. Ein religiöses Existenzminimum der yezidischen Glaubensgemeinde sei gegenwärtig nicht
gewährleistet. Ein Ausweichen in andere Gebiete der Türkei sei weder den einzelnen Yeziden noch dem
Religionsfamilienverband zumutbar, weil sie gegenwärtig kontinuierlich mit Billigung und tendenzieller
Zustimmung des türkischen Staates seitens der moslemischen Mehrheitsbevölkerung, sowohl ethnisch als
auch wegen ihrer religiösen Sonderstellung, verfolgt würden. Die Gefährdung der Mitglieder der
yezidischen Religionsgemeinschaft durch Verfolgung bestehe fast überall in der Türkei.
In Auswertung dieser Quellen kann das Gericht nicht feststellen, dass für Yeziden nunmehr eine
hinreichende Sicherheit vor einer landesweiten Verfolgung als Religionsgemeinschaft besteht. Zwar ist
davon auszugehen, dass der türkische Staat - auch im Hinblick auf die angestrebte EU-Mitgliedschaft –
sich offiziell für eine Rückkehr der Yeziden in ihre angestammten Siedlungsgebiete stark macht und den
ehemaligen Bewohnern in Einzelfällen auch zur Rückgabe ihrer Grundstücke verholfen hat. Die von dem
Gutachter Baris geschilderten Zerstörungen zahlreicher yezidischer Religionsstätten allein in den letzten
beiden Jahren rechtfertigen aber nicht den Rückschluss, dass die Yeziden derzeit ungehindert ihrem
Glauben nachgehen können. Auch die weiteren allgemeinen Ausführungen in diesem Gutachten lassen
nicht auf eine nachhaltig verbesserte Situation der Yeziden in der Türkei schließen. Bei den von Baris
geschilderten Einzelfällen handelt es sich nicht nur um vereinzelte Übergriffe sondern um eine Vielzahl
von Vorfällen, die jeden in seinem Siedlungsgebiet in der Türkei verbliebenen Yeziden aktuell treffen
können. Die erforderliche Verfolgungsdichte sieht das Gericht daher als nach wie vor gegeben an. Auch
sind die Übergriffe der muslimischen Bevölkerung weiterhin dem türkischen Staat zuzurechen; denn trotz
politischer Initiativen haben bisher weder die Verwaltungspraxis noch die Tätigkeit der
Sicherheitsbehörden zu einer nachhaltigen Verbesserung der allgemeinen Lage der Yeziden in ihren
Siedlungsgebieten geführt.
Das Gericht sieht keinen Anlass, die Verlässlichkeit der Angaben des Sachverständigen Baris
anzuzweifeln. Er hat seit 1998 in zahlreichen Asylverfahren Gutachten erstattet und darin bezüglich der
betroffenen Personen und der jeweiligen örtlichen Situation differenziert und kritisch Stellung genommen.
Eine Voreingenommenheit des Gutachters, der selbst zur Religionsgemeinschaft der Yeziden gehört, zu
deren Gunsten lässt sich daraus in keiner Weise ableiten.
Besteht daher im Ergebnis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung keine weitgehend einheitliche
Auskunftslage zur Lage der Yeziden in der Türkei, so erweist sich der Widerruf des dem Kläger gewährten
Abschiebungsschutzes nach § 51 Abs. 1 AuslG a.F. als rechtswidrig. Daneben waren auch die in Ziffer 2
und 3 des Bescheids getroffenen Feststellungen, dass Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 1 bzw. 2
– 7 AufenthG nicht vorliegen, aufzuheben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Der Ausspruch der vorläufigen Vollstreckbarkeit des Urteils wegen der Kosten beruht auf § 167 VwGO.
Rechtsmittelbelehrung ...
gez. Kintz