Urteil des VG Münster vom 03.04.2003
VG Münster: anspruch auf bewilligung, erlass, hauptsache, sozialhilfe, kündigung, rente, rechtsschutz, gemeinde, ausnahme, gerichtsverfahren
Verwaltungsgericht Münster, 5 L 348/03
Datum:
03.04.2003
Gericht:
Verwaltungsgericht Münster
Spruchkörper:
5. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
5 L 348/03
Tenor:
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
G r ü n d e :
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Das Rubrum ist von Amts wegen geändert worden. Richtiger Antragsgegner ist nicht die
von den anwaltlich vertretenen Antragstellern angeführte Gemeinde, sondern der für die
Gemeinde als Behörde handelnde Bürgermeister (§ 78 Abs. 1 Nr. 2 VwGO i. V. m. § 5
Abs. 2 Satz 1 AG VwGO-NW).
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Der Antrag der Antragsteller,
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den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihnen
Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz und nach dem Grundsicherungsgesetz
zu erbringen,
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ist unbegründet.
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Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann eine einstweilige Anordnung zur Regelung
eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis unter anderem
dann erlassen werden, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile
für den jeweiligen Antragsteller nötig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen
Anordnung setzt im Einzelnen voraus, dass der geltend gemachte Hilfeanspruch und
die besonderen Gründe für die Notwendigkeit der Gewährung vorläufigen
Rechtsschutzes von dem jeweiligen Antragsteller dargelegt und glaubhaft gemacht
werden (vgl. § 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO). Diese
Voraussetzungen liegen im Falle der Antragsteller nicht vor, denn sie haben nicht
dargelegt und glaubhaft gemacht, dass es notwendig ist, den von ihnen geltend
gemachten Anspruch auf Bewilligung dieser Leistungen durch Erlass einer
einstweiligen Anordnung vorläufig zu sichern.
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Eine einstweilige Anordnung dient lediglich der Sicherung, nicht schon der Befriedigung
von (glaubhaft gemachten) Rechten. Sie darf die Entscheidung in der Hauptsache
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grundsätzlich nicht vorwegnehmen. Eine Ausnahme von dem Grundsatz der
Unzulässigkeit der Vorwegnahme der Hauptsache gilt nur dann, wenn es zur
Vermeidung schlechthin unzumutbarer Folgen für den betreffenden Antragsteller
notwendig ist, dass das Gericht die begehrte einstweilige Anordnung erlässt.
Anderenfalls würde in Abweichung von den Vorschriften der
Verwaltungsgerichtsordnung die Entscheidung im Hauptverfahren unzulässigerweise in
das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vorverlagert. In der Regel muss
deshalb Rechtsschutz im Hauptverfahren erstritten werden, es sei denn, dass nicht
wiedergutzumachende Nachteile für den jeweiligen Antragsteller entstehen, wenn der
von ihm begehrte vorläufige Rechtsschutz nicht gewährt wird. Maßgeblicher Zeitpunkt
für die Beurteilung der Frage, ob der jeweilige Antragsteller in diesem Sinne einen
Anordnungsgrund dargelegt hat, ist der Zeitpunkt der letzten Tatsachenentscheidung im
gerichtlichen Verfahren (ständige Rechtsprechung der mit sozialhilferechtlichen
Streitigkeiten befassten Senate des OVG NRW; vgl. statt aller den Beschluss vom 20.
April 2000 - 16 B 569/00 -).
Die Antragsteller haben nicht dargelegt, dass ihnen nicht wiedergutzumachende
Nachteile entstehen, wenn der Antragsgegner nicht vorläufig verpflichtet wird, die von
ihnen beantragten Leistungen zu bewilligen.
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Soweit das Antragsbegehren darauf gerichtet ist, laufende Hilfe zum Lebensunterhalt
nach den Vorschriften des Bundessozialhilfegesetzes für die Zeit ab Antragstellung bei
dem Antragsgegner am 23. Mai 2002 bis zum Inkrafttreten des
Grundsicherungsgesetzes am 1. Januar 2003 zu erstreiten, haben die Antragsteller das
Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen eines Anordnungsgrundes nicht
dargelegt. Das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung dient nämlich - wie
oben ausgeführt - nach seinem Sinn und Zweck lediglich dazu, gegenwärtig drohende
wesentliche Nachteile abzuwenden, und bietet deshalb Regelungsmöglichkeiten nur für
Notlagen, die unaufschiebbar sind und nicht bereits in der Vergangenheit liegen.
Dementsprechend ist nach der ständigen Rechtsprechung des OVG NRW das
Bestehen streitiger laufender Sozialhilfeansprüche, die sich auf einen Zeitraum vor
Stellung des Antrages auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erstrecken, regelmäßig
erst in einem Klageverfahren zu überprüfen (Beschlüsse vom 25. Oktober 1999 - 16 B
1694/99 - und vom 21. Mai 2001 - 16 B 525/01 -). Das Vorbringen der Antragsteller ist
nicht geeignet, in ihrem Fall von dieser Regelung eine Ausnahme zu machen und die
Notwendigkeit der vorläufigen Bewilligung von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt für
den Zeitraum vor Antragstellung bei Gericht im vorliegenden Verfahren zu prüfen.
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Diese Erwägungen gelten gleichermaßen, soweit das Antragsbegehren darauf gerichtet
ist, laufende Leistungen der Grundsicherung für die Zeit vom 1. Januar 2003 bis zum
Eingang des Antrages auf Erlass einer einstweiligen Anordnung bei Gericht am 7. März
2003 zu erstreiten. Die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur
Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes bei der Bewilligung von laufenden Leistungen
der Sozialhilfe gelten insoweit auch für Leistungen nach dem Grundsicherungsgesetz,
weil diese Leistungen die bis zum 31. Dezember 2002 zu bewilligenden Leistungen
nach dem Bundessozialhilfegesetz ersetzen.
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Soweit das Antragsbegehren der Antragsteller darauf gerichtet ist, laufende Leistungen
nach dem Grundsicherungsgesetz für den Zeitraum nach dem Ende des Monats der
gerichtlichen Entscheidung im vorliegenden Verfahren zu erstreiten, haben die
Antragsteller ebenfalls das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen eines
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Anordnungsgrundes nicht dargelegt. In Verfahren auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung für die Bewilligung von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt geht die
Rechtsprechung des OVG NRW davon aus, dass der Träger der Sozialhilfe den Erlass
einer einstweiligen Anordnung, die sich nicht über den Monat der gerichtlichen
Entscheidung hinaus in die Zukunft erstreckt, zum Anlass nimmt, den Hilfefall für die
weitere Zeit unter Zugrundelegung dieser gerichtlichen Entscheidung zu regeln, so dass
keine Notwendigkeit für den Erlass einer einstweiligen Anordnung durch das Gericht für
die Zeit nach dem Ende des Monats seiner Entscheidung besteht (ständige
Rechtsprechung des OVG NRW; vgl. statt aller die Beschlüsse vom 27. August 1996 - 8
B 1646/96 -; vom 1. September 1999 - 22 B 829/99 - und vom 21. Mai 2001 - 16 B
525/00 -). Diese Erwägungen gelten auch für die Gewährung vorläufigen
Rechtsschutzes bei der Bewilligung von laufenden Leistungen nach dem
Grundsicherungsgesetz. Dies gilt unbeschadet der Regelung in § 6 Satz 1 GSiG, dass
die Leistung in der Regel für den Zeitraum vom 1. Juli bis zum 30. Juni des Folgejahres
bewilligt wird. Eine hiervon abweichende Regelung im Rahmen des vorläufigen
Rechtsschutzes rechtfertigt sich damit, dass der in einem Verfahren auf Gewährung
vorläufigen Rechtsschutzes unterliegende Träger der Grundsicherung bereit sein wird,
bei gleich bleibender Sach- und Rechtslage für Folgezeiträume auf der Grundlage des
stattgebenden gerichtlichen Beschlusses Leistungen zu erbringen.
Auch soweit es den Antragstellern im vorliegenden Verfahren darum gehen sollte, den
Antragsgegner vorläufig zu verpflichten, die Kosten der Unterkunft gemäß § 3 Abs. 1 Nr.
2 GSiG zu bewilligen, haben sie das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen
eines Anordnungsgrundes nicht dargelegt. Bei der Beanspruchung laufender
unterkunftsbezogener Sozialhilfeleistungen ist für die Gewährung vorläufigen
Rechtsschutzes nur Raum, wenn anderenfalls der Verlust der Unterkunft droht. Hierzu
ist erforderlich, dass ein Mietrückstand besteht, dessen weiteres Anwachsen den
Vermieter spätestens im nächstfolgenden Monat zur Kündigung des Mietverhältnisses
berechtigen würde (vgl. § 534 BGB), so dass mit einer Kündigung und Räumungsklage
zu rechnen ist (OVG NRW, Beschlüsse vom 12. Dezember 1994 - 8 B 2650/94 -,
NWVBl. 1995, 140; vom 16. März 2000 - 16 B 308/00 -, FEVS 52, 24 = NWVBL. 2000,
392 = NJW 2000, 2523 sowie vom 16. Dezember 2002 - 12 B 1904/02 - und vom 23.
Januar 2003 - 16 B 2113/02 -). Für die Bewilligung der Kosten der Unterkunft im
Rahmen des Grundsicherungsgesetzes gilt nichts anderes, denn die Leistungen nach
diesem Gesetz treten für die Antragsberechtigten des § 1 GSiG ab dem 1. Januar 2003
an die Stelle der im Rahmen des Bundessozialhilfegesetzes zu bewilligenden Kosten
der Unterkunft.
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Die Antragsteller haben auch nicht dargelegt, dass ihnen nicht wiedergutzumachende
Nachteile entstehen, wenn der Antragsgegner nicht vorläufig verpflichtet wird, in der Zeit
ab Eingang ihres Antrages bei Gericht bis zum Ende des Monats der gerichtlichen
Entscheidung die von ihnen beantragten Grundsicherungsleistungen zu bewilligen.
Dem Antragsberechtigten des Grundsicherungsgesetzes ist es grundsätzlich
zuzumuten, sich bis zur Entscheidung in der Hauptsache auf Mittel in Höhe des für ihn
maßgeblichen Regelsatzes verweisen zu lassen. Die Regelsatzleistungen des
Bundessozialhilfegesetzes gewährleisten, dass der Antragsberechtigte ein
menschenwürdiges Leben führen kann, bis über seinen Antrag auf Bewilligung von
Leistungen nach dem Grundsicherungsgesetz bestands- bzw. rechtskräftig entschieden
worden ist. Es ist deshalb grundsätzlich in Verfahren auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung wegen Gewährung laufender Leistungen der Grundsicherung nicht
notwendig, die Hauptsache vorwegzunehmen und den Träger der Grundsicherung zur
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Bewilligung der Leistungen in voller Höhe zu verpflichten.
Beide Antragsteller verfügen im streitgegenständlichen Zeitraum über Geldmittel
mindestens in Höhe des für sie jeweils maßgeblichen Regelsatzes. Für den
Antragsteller zu 1. beträgt der Regelsatz 293 EUR (vgl. § 1 der Verordnung über die
Regelsätze der Sozialhilfe vom 11. Juni 2002, GV NRW 2002, 172). Dem steht
Einkommen in Höhe von 469,83 EUR gegenüber. Dieses Einkommen setzt sich aus der
Rente in Höhe von 269,83 EUR und der Miete der im Hause der Antragsteller
wohnenden Tochter in Höhe eines von den Antragstellern angegebenen Betrages von
200 EUR zusammen. Das Einkommen des Antragstellers zu 1. übersteigt den
Regelsatz um 176,83 EUR.
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Der Regelsatz für die Antragstellerin zu 2. beläuft sich auf 234 EUR. Sie verfügt über
eine Rente in Höhe von 117,63 EUR, so dass bei ihr noch ein offener Bedarf von 117,37
EUR vorliegt. Dieser Betrag kann aus dem „überschießenden" Einkommen des
Antragstellers zu 1. in Höhe von 176,83 EUR aufgebracht werden (vgl. § 2 Abs. 1 Satz 2
GSiG). Mithin verfügen beide Antragsteller im Zeitraum ab Eingang des Antrages bei
Gericht bis zum Ende des Monats der gerichtlichen Entscheidung über Mittel in Höhe
der für sie maßgeblichen Regelsatzleistungen.
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Die Antragsteller haben nicht dargelegt, dass ihnen nicht wiedergutzumachende
Nachteile entstehen, wenn ihnen die weiteren Grundsicherungsleistungen nicht
bewilligt werden. Die Antragsteller haben nicht vorgetragen, dass sie auf den Zuschlag
von 15 % des Regelsatzes eines Haushaltsvorstandes angewiesen sind (§ 3 Abs. 1 Nr.
1 Halbsatz 2 GSiG). Auch ist ihrem Vorbringen nicht zu entnehmen, dass im
vorgenannten Zeitraum der Krankenversicherungsschutz verloren geht. Sollte der
Antragsteller zu 1. auf Grund seiner Schwerbehinderung überhaupt einen Anspruch auf
den Mehrbedarf nach § 3 Abs. 1 Nr. 4 GSiG haben, hat er jedenfalls nicht dargelegt,
dass ihm bis zur Entscheidung in der Hauptsache nicht wiedergutzumachende
Nachteile entstehen, wenn der Antragsgegner nicht verpflichtet wird, diesen Mehrbedarf
sofort zu bewilligen.
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Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 188 Satz 2, 154 Abs. 1, 159 Satz 1 VwGO i. V. m.
§ 100 ZPO. Gerichtsverfahren nach dem Grundsicherungsgesetz sind gemäß § 188
Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei. Dies ergibt sich zum einen daraus, dass das
Grundsicherungsgesetz Teil des Sozialgesetzbuches ist (§§ 28 a und 68 SGB I). Zum
anderen ergibt sich die Gerichtskostenfreiheit nach Sinn und Zweck des § 188 Satz 2
VwGO daraus, in Verfahren der Sachgebiete des § 188 Satz 1 VwGO deshalb
Gerichtskostenfreiheit zu gewähren, weil dort mittellose oder minderbemittelte
Antragsteller häufiger vorkommen und es um Leistungen geht, die Fürsorgemaßnahmen
zum Gegenstand haben (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Oktober 1993 - 5 C 10.91 -, FEVS
44, 397, 403 zu Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz).
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