Urteil des VG Münster vom 15.05.2009

VG Münster: lex specialis derogat legi generali, aufschiebende wirkung, schutz der gesundheit, erlass, verwaltungsverfahren, verwaltungsakt, anwendungsbereich, republik, rechtsverordnung, erforschung

Verwaltungsgericht Münster, 1 L 164/09
Datum:
15.05.2009
Gericht:
Verwaltungsgericht Münster
Spruchkörper:
1. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
1 L 164/09
Tenor:
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens. Die
außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.
Der Streitwert wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.
G r ü n d e
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Der Antrag der Antragstellerin,
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die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs vom 3. Februar 2009 gegen die der
Beigeladenen erteilte Standortbescheinigung der Antragsgegnerin vom 6. Januar 2009
wiederherzustellen,
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ist gemäß §§ 80a Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3 S. 2, 80 Abs. 5 VwGO zulässig. Der von der
Antragstellerin mit Telefax vom 3. Februar 2009 erhobene Widerspruch ist statthaft.
Zwar bedarf es eines Vorverfahrens nach § 68 VwGO, welches mit der Erhebung des
Widerspruchs nach § 69 VwGO beginnt, gemäß § 6 Abs. 1 AGVwGO abweichend von §
68 Abs. 2 VwGO nicht, wenn der Verwaltungsakt während des Zeitraums vom 1.
November 2007 bis zum 31. Oktober 2012 bekannt gegeben worden ist. Dass die
Standortbescheinigung von einer Bundesoberbehörde erlassen worden ist, die insoweit
Bundesrecht anwendet, steht dem Wegfall des Vorverfahrens nicht entgegen. Dies wäre
nach § 6 Abs. 2 Nr. 1 AGVwGO nur dann erheblich, wenn es sich um einen
Verwaltungsakt handelte, hinsichtlich dessen Bundesrecht die Durchführung eines
Vorverfahrens vorschreibt. Dies ist aber nach den hier maßgeblichen Rechtsgrundlagen
des Gesetzes über Funkanlagen und Telekommunikationseinrichtungen (FTEG) und
der darauf beruhenden Verordnung über das Nachweisverfahren zur Begrenzung
elektromagnetischer Felder (BEMFV) nicht der Fall. Gleichwohl findet § 6 Abs. 1 Satz 1
AGVwGO keine Anwendung auf im Verwaltungsverfahren nicht beteiligte Dritte, die sich
gegen den Erlass eines einen anderen begünstigenden Verwaltungsaktes wenden.
Dass die Antragstellerin bereits im Verwaltungsverfahren der Beigeladenen auf
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Erteilung einer Standortbescheinigung beteiligt gewesen ist, lässt sich dem bei Gericht
eingereichten Verwaltungsvorgang nicht entnehmen. Da der Widerspruch der
Antragstellerin somit nach § 80 Abs. 1 VwGO eine aufschiebende Wirkung der
Standortbescheinigung bewirkte, ordnete die Antragsgegnerin auf Antrag der
Beigeladenen gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO die sofortige Vollziehung der
Standortbescheinigung an, gegen die sich die Antragstellerin mit dem vorliegenden
Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO wendet.
Der Antrag ist jedoch unbegründet. Das Interesse der Antragstellerin daran, vorläufig
vom Vollzug der angegriffenen Standortbescheinigung verschont zu bleiben, muss
hinter dem öffentlichen Interesse am Sofortvollzug der Bescheinigung zurücktreten, weil
sich diese bei der im vorliegenden Verfahren nur möglichen summarischen Überprüfung
als offensichtlich rechtmäßig erweist. Es ist nicht ersichtlich, dass die Antragstellerin
durch die erteilte Standortbescheinigung der Antragsgegnerin in eigenen subjektiv-
öffentlichen Nachbarrechten verletzt wird.
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Gemäß § 4 Abs. 1 der Verordnung über das Nachweisverfahren zur Begrenzung
elektromagnetischer Felder (BEMFV) i. V. m. § 12 des Gesetzes über Funkanlagen und
Telekommunikationseinrichtungen (FTEG) bedarf die Beigeladene für ihre ortsfeste
Funkanlage einer gültigen Standortbescheinigung. Die Bundesnetzagentur für
Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen (BNetzA) hat mit Bescheid
vom 6. Januar 2006 gemäß § 5 Abs. 2 BEMFV der Beigeladenen diese
Standortbescheinigung erteilt. Die hierbei einzuhaltenden Anforderungen sind beachtet
worden. Nach § 5 Abs. 1 BEMFV ermittelt die BNetzA zur Erteilung der
Standortbescheinigung auf der Grundlage der systembezogenen Sicherheitsabstände
den zur Einhaltung der Grenzwerte nach § 3 BEMFV erforderlichen standortbezogenen
Sicherheitsabstand. § 3 Satz 1 Nr. 1 BEMFV bestimmt, dass zur Begrenzung der
Elektromagnetischen Felder von ortsfesten Funkanlagen für den Frequenzbereich 9 kHz
bis 300 GHz die in der 26. BImSchV festgesetzten Grenzwerte einzuhalten sind. Diesen
Erfordernissen entspricht die streitbefangene Standortbescheinigung.
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Die Sicherheitsabstände werden in der Hauptsenderichtung der Antennen eingehalten,
die ausweislich der Anlage zur Standortbeschreibung 7,53 m betragen. Die
Antragstellerin wohnt nach dem in dem Verwaltungsvorgang befindlichen Lageplan
aber ca. 300 m und damit mehr als den 39-fachen Sicherheitsabstand von dem
Sendemast entfernt. Zudem befindet sich ihr Wohnhaus abseits der
Hauptsenderichtungen der Antennen. Lediglich eine Antenne ist in westlicher Richtung
ausgerichtet, die den Sicherheitsabstand - wie ausgeführt - wahrt.
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Soweit die Antragstellerin gesundheitliche Schäden infolge der von den Antennen
ausgehenden elektromagnetischen Strahlen befürchtet, werden auch die Grenzwerte
nach der 26. BImSchV eingehalten, die von der Antragstellerin nicht substantiiert in
Frage gestellt werden. Vielmehr unterstellt auch die Antragstellerin, dass die dort
vorgeschriebenen Grenzwerte bei ihr nicht erreicht werden. Bei Einhaltung der in § 3
Satz 1 Nr. 1 BEMFV i.V.m. § 26 BImSchV normierten Grenzwerte ist aber davon
auszugehen, dass diese ausreichend sind, um vor schädlichen Auswirkungen der von
den Antennen ausgehenden elektromagnetischen Feldern zu schützen.
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Vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein- Westfalen (OVG NRW), Beschluss
vom 9. Januar 2009 - 13 A 2023/08 -, DVBl. 2009, 327. Die Antragstellerin kann eine
Gefährdung oder Beeinträchtigung ihrer Gesundheit nicht auf § 22 BImSchG stützen.
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Zwar handelt es sich bei § 22 BImSchG i.V.m. § 3 Abs. 1 BImSchG um eine
nachbarschützende Vorschrift,
vgl. BVerwG, Urt. v. 7. Mai 1996 - 1 C 10.95 -, BVerwGE 101, 157 ff. = NVwZ 1997, 276
ff., doch findet diese im Verhältnis zu dem FTEG keine Anwendung, da es sich hierbei
gegenüber dem BImSchG um das abschließende, speziellere Gesetz handelt. Nach § 1
Abs. 1 Satz 1 FTEG ist Zweck des Gesetzes, durch Regelungen über das
Inverkehrbringen, den freien Verkehr und die Inbetriebnahme von Funkanlagen und
Telekommunikationseinrichtungen einen offenen wettbewerbsorientierten Warenverkehr
dieser Geräte im europäischen Binnenmarkt zu ermöglichen. Das BImSchG bleibt durch
dieses Gesetz nach dessen § 1 Abs. 4 auch nicht unberührt. Gemäß § 12 FTEG wird die
Bundesregierung ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des
Bundesrates nähere Regelungen zur Gewährleistung des Schutzes von Personen in
den durch den Betrieb von Funkanlagen entstehenden elektromagnetischen Feldern zu
treffen. Hiervon hat die Bundesregierung durch Erlass der BEMFV Gebrauch gemacht.
Die Regelungen sind speziell auf die von Funkanlagen ausgehenden
elektromagnetischen Felder ausgerichtet. Ein Rückgriff auf die allgemeine
umweltrechtliche Norm des § 22 BImSchG scheidet nach dem Grundsatz „lex specialis
derogat legi generali" aus, weil es sich bei dem FTEG und der auf ihr basierenden
BEMFV um eine umfassende und abschließende Regelung zur Beurteilung und
Begrenzung von elektromagnetischen Feldern, die von Funkanlagen ausgehen,
handelt.
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Vgl. zu diesem Grundsatz BVerwG, Urt. v. 3. November 1994 - 3 C 32.94 -, in: Buchholz
427.6 § 20a BFG Nr. 2. Angesichts dessen braucht sich das Gericht auch nicht mit dem
von der Antragstellerin im Rahmen von § 22 BImSchG angeführten Argument möglicher
Alternativstandorte auseinandersetzen, da es hierauf im Rahmen des FTEG nicht
ankommt.
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Unerheblich sind auch die von der Antragstellerin ins Feld geführten Verweise auf
Pressemitteilungen des Europäischen Parlamentes und anders lautende
Rechtsprechung in der Republik Frankreich. Abgesehen davon, dass es sich hierbei
nicht um gesicherte Tatsachenerkenntnisse handelt, die zudem im Anwendungsbereich
des hier nicht einschlägigen § 22 BImSchG angeführt werden, müssen auch die Urteile
anderer Länder ausser Betracht bleiben, zumal sie unter einem anderen
Regelungsregime erfolgt sind. Zudem ist eine über die BEMFV hinausgehende
Sachverhaltsermittlung und -erforschung derzeit nicht geboten. Hierzu hat das OVG
NRW, a.a.O., in seinen Gründen, die sich der Einzelrichter zu eigen macht, wie folgt
ausgeführt:
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„Entgegen der Auffassung der Kläger ist es rechtlich nicht zu beanstanden, dass das
Verwaltungsgericht die in der 26. BImSchV vorgesehenen Grenzwerte als ausreichend
angesehen hat, um vor schädlichen Auswirkungen der von den Antennen ausgehenden
elektromagnetischen Felder zu schützen. Das Verwaltungsgericht hat in
Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der
verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, nach der dem Gesetz- und
Verordnungsgeber ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum bei
der Festsetzung der Grenzwerte zusteht, eine weitergehende Sachverhaltsermittlung
nicht für erforderlich erachtet.
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Vgl. BVerfG, Beschluss vom 28. Februar 2002 - 1 BvR 1676/01 -, NJW 2002, 1638,
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1639, und nachfolgend EGMR, Entscheidung vom 3. Juli 2007 - 32015/02 -, juris, NVwZ
2008, 1215 (Unzulässigkeit der Beschwerde); ferner Beschlüsse des BVerfG vom 8.
Dezember 2004 - 1 BvR 1238/04 -, NVwZ-RR 2005, 227, 228, und vom 24. Januar 2007
- 1 BvR 382/05 -, NVwZ 2007, 805; BVerwG, Urteil vom 10. Dezember 2003 - 9 A 73.02
-, NVwZ 2004, 613; OVG NRW, Beschluss vom 19. Juli 2007 - 13 A 641/07 -.
Wenn noch keine verlässlichen wissenschaftlichen Erkenntnisse über komplexe
Gefährdungslagen vorliegen, verlangt die staatliche Schutzpflicht von den Gerichten
nicht, ungesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen mit Hilfe des Prozessrechts
durch Beweisaufnahme zur Durchsetzung zu verhelfen oder die Vorsorgeentscheidung
des Verordnungsgebers unter Kontrolle zu halten und die Schutzeignung der
Grenzwerte jeweils nach dem aktuellen Stand der Forschung zu beurteilen.
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Vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. Januar 2007 - 1 BvR 382/05 -, a. a. O.
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Es ist vielmehr Sache des Verordnungsgebers, den Erkenntnisfortschritt der
Wissenschaft mit geeigneten Mitteln nach allen Seiten zu beobachten und zu bewerten,
um ggf. weitergehende Schutzmaßnahmen treffen zu können. Eine Verletzung der
Nachbesserungspflicht durch den Verordnungsgeber kann gerichtlich erst festgestellt
werden, wenn evident ist, dass eine ursprünglich rechtmäßige Regelung zum Schutz
der Gesundheit auf Grund neuer Erkenntnisse unter einer veränderten Situation
verfassungsrechtlich untragbar geworden ist.
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Vgl. BVerfG, Beschluss vom 28. Februar 2002 - 1 BvR 1676/01 -, a.a.O.
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Es liegen keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse über Gefahren von
Mobilfunkanlagen vor, die das derzeitige Schutzniveau als unzureichend erscheinen
lassen. Die Kläger haben auch nicht schlüssig aufgezeigt oder gar den Nachweis
erbracht, dass von Mobilfunkanlagen Gesundheitsgefahren ausgehen, wenn das
Grenzwertkonzept der 26. BImSchV eingehalten ist. Die 26. BImSchV unterscheidet im
Übrigen nicht zwischen den verschiedene Arten der Auswirkung von
Mobilfunkstrahlung, sondern stellt nach § 1 Abs. 1 generelle Anforderungen zum Schutz
der Allgemeinheit und der Nachbarschaft durch elektromagnetische Felder auf. Die in
der 26. BImSchV festgelegten Grenzwerte berücksichtigen daher sowohl die
thermischen wie die athermischen Effekte elektromagnetischer Felder.
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Vgl. BGH, Urteil vom 13. Februar 2004 - V ZR 217/03 -, NJW 2004, 1317, 1318.
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...Verlässliche wissenschaftliche Erkenntnisse über die geltend gemachten komplexen
Gefährdungslagen ergeben sich aus dieser Ausarbeitung nicht. Ihr ist im Wesentlichen
zu entnehmen, dass die derzeitige Erkenntnislage äußerst umstritten sei, aber nicht,
dass das derzeitige Schutzniveau als unzureichend zu bezeichnen sei."
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Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 und 3, 162 Abs. 3 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 3 Nr. 2 GKG. In
Übereinstimmung mit der obergerichtlichen Rechtsprechung des OVG NRW wird der
gesetzlich bestimmte Auffangwert als zutreffende Streitwerthöhe angesehen, der in
Anbetracht der Vorläufigkeit der Entscheidung im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO zu
halbieren war.
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