Urteil des VG Münster vom 07.04.2010

VG Münster (taubheit, schwerhörigkeit, hochgradige schwerhörigkeit, kläger, innere medizin, behinderung, grund, halle, nachweis, begründung)

Verwaltungsgericht Münster, 6 K 1800/06
Datum:
07.04.2010
Gericht:
Verwaltungsgericht Münster
Spruchkörper:
6. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
6 K 1800/06
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf
die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 v.H. des
beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte zuvor
Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
T a t b e s t a n d
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Der 1962 in Naumburg geborene Kläger litt seit seiner frühen Kindheit unter einer
Hörminderung und damit einhergehend unter Sprachstörungen. Er besuchte die
Schwerhörigenschule in Halle/Sachsen. Am 7. Mai 1993 beantragte der Kläger die
Feststellung des Grades seiner Schwerbehinderung nach dem
Schwerbehindertengesetz und gab an, schwerhörig zu sein. Unter dem 13. Oktober
1993 erging ein Bescheid des Amtes für Versorgung und Soziales Halle gemäß § 4
Abs. 1 und Abs. 4 Schwerbehindertengesetz. Als Behinderung wurde "Schwerhörigkeit"
festgestellt und als Grad der Behinderung von 50.
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Am 27. Juli 1998 beantragte der Kläger die Feststellung eines höheren Grades der
Behinderung, wobei er als Behinderungen rechtsseitige Taubheit mit Sprachstörungen
und linksseitige an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit mit Sprachstörungen angab.
Unter dem 29. Oktober 1998 erging ein Bescheid, mit dem eine Aufhebung des
Bescheids vom 13. Oktober 1993 und eine Neufestsetzung abgelehnt und der
Schwerbehindertenausweis ohne Änderung verlängert wurde.
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Auf Grund eines weiteren Antrags des Klägers auf Neufestsetzung nach dem
Schwerbehindertengesetz wurde der Grad der Behinderung unter dem 19. September
2001 neu auf 70 festgesetzt, wobei nunmehr von Taubheit rechts und einer an Taubheit
grenzenden Schwerhörigkeit links sowie einer seelischen Behinderung ausgegangen
wurde.
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Am 23. Juli 2004 beantragte der Kläger, ihm Hilfe für Gehörlose nach dem GHBG zu
gewähren. Diesen Antrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 08. Dezember 2005 ab.
Zur Begründung führte er aus, dass aufgrund der vorliegenden ärztlichen
Bescheinigungen bzw. Audiogrammen nicht davon ausgegangen werden könne, dass
die Taubheit bzw. an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit des Klägers bis zur
Vollendung des 18. Lebensjahres eingetreten sei.
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Seinen hiergegen gerichteten Widerspruch begründete der Kläger damit, dass der
Umstand, dass er aufgrund der Auflösung der ehemaligen DDR Probleme habe,
aussagekräftige Unterlagen vorzulegen, nicht zu seinem Nachteil ausgelegt werden
dürfe.
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Unter dem 04. Oktober 2006 wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück
und führte zur Begründung unter anderem aus, dass die Nichterweislichkeit von
rechtsbegründenden Tatsachen zu Lasten desjenigen gehe, der aus ihnen eine für sich
günstige Rechtsfolge herleiten wolle. Der Nachweis der Gehörlosigkeit vor Vollendung
des 18. Lebensjahres sei vom Kläger nicht erbracht worden.
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Der Kläger hat am 06. November 2006 die vorliegende Klage erhoben, mit der er sein
Begehren weiterverfolgt. Er trägt vor, von Geburt an an Taubheit rechts und einer an
Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit links zu leiden und legt zum Nachweis weitere
Bescheinigungen vor.
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Der Kläger beantragt,
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den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 8. Dezember 2005 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 04. Oktober 2006 zu verpflichten, dem Kläger die
beantragte Hilfe für Gehörlose zu gewähren.
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Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
11
Zur Begründung bezieht er sich auf den Inhalt seiner Bescheide.
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Das Gericht hat Beweis erhoben durch schriftliche Befragung des Dr. N. K. und Dr. med.
K1. I. . Hinsichtlich des genauen Inhaltes des Beweisbeschlusses und des Ergebnisses
der Beweisaufnahme wird auf Bl. 157, 159, 163, 164 und 168 der Gerichtsakte
verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten
wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge sowie
der Akte des Landrates des Kreises Steinfurt - Amt für Schwerbehindertenrecht -
ergänzend Bezug genommen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
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Die Klage hat keinen Erfolg. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die begehrte Hilfe für
Gehörlose. Der Beklagte hat mit seinem Bescheid vom 8. Dezember 2005 in der
Fassung des Widerspruchsbescheides vom 4. Oktober 2006 zu Recht die Gewährung
einer Hilfe für Gehörlose abgelehnt.
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Als Anspruchsgrundlage für das Begehren des Klägers kommt allein § 5 des Gesetzes
über die Hilfen für Blinde und Gehörlose vom 25. November 1997 (GHBG; GV.NW. S.
430, 436) in der ab dem 1. Januar 2001 geltenden Fassung vom 9. Mai 2000 (Art. 24
und 37 des Zweiten Gesetzes zur Modernisierung von Regierung und Verwaltung in
Nordrhein-Westfalen vom 9. Mai 2000, GV. NW S. 462, 471) in Betracht. Nach § 5 Satz
1 GHBG erhalten Gehörlose zum Ausgleich der durch die Gehörlosigkeit bedingten
Mehraufwendungen eine Hilfe von 150 DM bzw. seit dem 1. Januar 2002 von 77 EUR
(vgl. insoweit Art. 47 Ziff. 3 des Gesetzes zur Anpassung des Landesrechts an den Euro
in Nordrhein-Westfalen vom 25. September 2001, GV.NRW. S. 708, 721) monatlich,
soweit sie keine entsprechenden Leistungen nach bundes- oder anderen
landesrechtlichen Vorschriften erhalten und ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Land
Nordrhein-Westfalen haben.
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Gehörlos sind nach § 5 Satz 2 GHBG Personen mit angeborener oder bis zum 18.
Lebensjahr erworbener Taubheit oder an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit.
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Der Kläger leidet zwar seit längerem an einer an Taubheit rechts und einer
hochgradigen, an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit links. Der Kläger hat jedoch
nicht nachweisen können, dass dieser Zustand angeboren war bzw. bis zum 18.
Lebensjahr erworben wurde. Zu Gunsten des Klägers ist zwar davon auszugehen, dass
er von Kindheit an schwerhörig war. Der Begriff "Schwerhörigkeit" ist jedoch nicht
eindeutig. Vielmehr ist zwischen den unterschiedlichen Graden der Schwerhörigkeit
entsprechend dem Grad des Hörverlustes zu unterscheiden.
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Wann eine "an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit" i.S.v. § 5 Satz 2 GHBG vorliegt,
lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen. Es kann insoweit aber auf die wortgleiche
medizinische Begriffsbestimmung im Bereich des Schwerbehindertenrechts und auf die
Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10. Dezember 2008 - BGBl. I 2008, S. 2412 -
sowie die zu dieser erlassenen Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze"
zurückgegriffen werden. So liegt gemäß 5.2.4 der Anlage "Versorgungsmedizinische
Grundsätze", Tabelle D eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit bei einem
Hörverlust von 80 bis 95 % und Taubheit bei einem Hörverlust von 100 % vor. Dagegen
ist hochgradige Schwerhörigkeit bei einem Hörverlust in Höhe von 60 bis 80 %
anzunehmen.
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Auf Grund der Entscheidung des früheren Versorgungsamtes Halle vom 13. Oktober
1993 steht auch für das Gericht bindend fest, dass der Kläger zu diesem Zeitpunkt noch
nicht unter einer an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit litt. Vielmehr ist die
Behinderung des Klägers lediglich mit "Schwerhörigkeit" bezeichnet worden. Erst unter
dem 19. September 2001 wurde die GdB neu festgesetzt auf 70, wobei von Taubheit
rechts und einer an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit links sowie einer seelischen
Behinderung ausgegangen wurde. Nach der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts,
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vgl. Urteil vom 27. Februar 1992 - 5 C 48/88 -, BVerwGE 90, 65 ff. und juris m.w.N.;
ebenso OVG NRW, Urteil vom 20. März 2008 - 16 A 2399/05 -, FEVS 60, 170 ff.
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ist die Statusentscheidung des Versorgungsamtes bei der Prüfung inhaltsgleicher
Tatbestandsvoraussetzungen für in anderen Gesetzen geregelte Vergünstigungen bzw.
Nachteilsausgleiche für die hierfür jeweils zuständigen anderen Verwaltungsbehörden
bindend. Da der Gesetzgeber des GHBG sich erkennbar an den im
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Schwerbehindertenrecht gültigen Begriffsbestimmungen orientiert hat und sowohl die
Versorgungsämter wie auch der Beklagte in der Vergangenheit die zum
Schwerbehindertenrecht der Versorgungsmedizin-Verordnung vorausgegangenen und
mit dieser identischen "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeiten im sozialen
Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" zugrundegelegt haben,
handelt es sich bei den Begriffen der Taubheit bzw. an Taubheit grenzender
Schwerhörigkeit um identische Tatbestandsvoraussetzungen.
Aber auch unabhängig von der Bindungswirkung des Bescheides des
Versorgungsamtes Halle vom 13. Oktober 1993 ergibt sich aus den vorliegenden
ärztlichen Stellungnahmen, dass der Hörverlust auf dem linken Ohr seinerzeit lediglich
eine mittel- bis hochgradige Schwerhörigkeit darstellte. So attestierte Herr Dr. med. I.
dem Kläger in seinem Bericht vom 10. August 1998 eine an Taubheit grenzende
Schwerhörigkeit rechts und eine mittel- bis hochgradige Schwerhörigkeit links. Diesen
Befund hat der als sachverständiger Zeuge schriftlich befragte Dr. med. I. bestätigt,
indem er links eine hochgradige Schallempfindungsschwerhörigkeit bescheinigt. So
ergibt sich aus dem Audiogramm vom 15. Januar 1997 ein Mittelwert von 76,7 %.
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Auch der Kläger selbst hat in seinem Antrag auf Feststellung des Grades seiner
Schwerbehinderung nach dem Schwerbehindertengesetz unter dem 7. Mai 1993
lediglich angegeben, schwerhörig zu sein. Bei einer Taubheit bzw. an Taubheit
grenzenden Schwerhörigkeit hätte es nahegelegen, diese Begriffe zu verwenden.
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Soweit der Kläger im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens einen aus dem Jahre 1975
stammenden Untersuchungsbefund der Schwerbeschädigtenkommission vorgelegt hat,
in dem die Ärzte Dr. M. und Dr. H. von einer praktisch völligen Taubheit ausgingen, führt
dies zu keinem anderen Ergebnis. Die Aufklärung der Ursache des Widerspruchs
zwischen diesem älteren Untersuchungsbefund und den späteren Tonaudiogrammen
von 1997 lässt sich nicht mehr abschließend aufklären, da diese Ärzte verstorben sind.
Sie dürfte ihren Grund jedoch in einer unzureichenden Diagnostik haben, da sich die
seinerzeit untersuchenden Ärzte ersichtlich nicht auf Tonaudiogramme gestützt haben.
Zudem handelte es sich nicht um Fachärzte für HNO-Krankheiten, sondern um
Fachärzte für Innere Medizin bzw. für Chirurgie. Deshalb kommt diesem
Untersuchungsbefund von 1975 kein entscheidender Beweiswert zu.
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Dasselbe gilt für die aus dem Jahr 1977 stammende Bescheinigung, dass die Kinder X
und Y O. im Besitz eines Schwerst- bzw. Schwerbeschädigtenausweises wegen
Taubheit/Schwerhörigkeit sind. Daraus wird nicht deutlich, bei welchem der genannten
Kinder eine Taubheit bzw. lediglich eine Schwerhörigkeit bestand.
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Auch ist das Gericht nicht gehalten, weiteren Beweis durch Befragung der Schwester
des Klägers oder des den Kläger in der Kindheit behandelnden Arztes Dr. L. zu
erheben. Bei der Beurteilung der gesetzlichen Voraussetzungen für die begehrte
Gehörlosenhilfe - Taubheit bzw. an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit - handelt es
sich um medizinische Fachbegriffe, die nur auf Grund fachärztlicher Begutachtung
festgestellt werden können. Für einen Laien, der nicht über die Mittel eines Facharztes
verfügt, ist es nahezu unmöglich, genaue Angaben hinsichtlich des Umfang eines
Hörverlustes zu machen. Deshalb hat das Gericht auch nicht die als weitere Zeugin
benannte Schwester des Klägers vernommen. Ebenso scheidet eine Befragung von
Herrn Dr. L. aus. Zum einen liegen dessen Kontakte mit dem Kläger nahezu 40 Jahre
zurück, sodass schon auf Grund der Schwächen der menschlichen Gedächtnisleistung
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keine verwertbaren Aussagen mehr möglich sind. Zudem hat der Kläger auch nicht
vorgetragen, dass Herr Dr. L. eine der Diagnostik eines HNO-Arztes vergleichbare
Untersuchung des Hörvermögens des Klägers durchgeführt hat und auf Grund dessen
in der Lage wäre, entsprechende Angaben zu machen.
Auch die weiteren vom Kläger im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens vorgelegten
ärztlichen Stellungnahmen tragen kein anderes Ergebnis. Insoweit wird zur Vermeidung
von Wiederholungen auf den Beschluss des Gerichts vom 2. Juli 2008 und den dazu
ergangenen Beschluss des OVG NRW vom 16. April 2009 - 12 E 947/08 - Bezug
genommen.
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Da der Kläger für das Vorliegen der den geltend gemachten Anspruch begründenden
Voraussetzungen des Vorliegens einer Taubheit bzw. an Taubheit grenzenden
Schwerhörigkeit vor Vollendung des 18. Lebensjahres beweispflichtig ist und diesen
Nachweis nicht geführt hat, ist die Klage abzuweisen.
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Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 154 Abs. 1, 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11,
711 ZPO.
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