Urteil des VG Münster vom 16.08.2006

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Verwaltungsgericht Münster, 1 K 1103/06
Datum:
16.08.2006
Gericht:
Verwaltungsgericht Münster
Spruchkörper:
1. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
1 K 1103/06
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf
die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des
beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht das beklagte Schulamt
vor der Vollstreckung Sicherheit in entsprechender Höhe leistet.
T a t b e s t a n d :
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Der am 21. Februar 1994 geborene Kläger stammt aus Kasachstan und absolvierte dort
die ersten beiden Grundschuljahre. Im Schuljahr 2003/ 2004 besuchte er an der B. in
B1. zunächst die Klasse 3c. Während des Schuljahres wechselte er in die Klasse 2c
und wurde zum Schuljahr 2004/ 2005 in die 3. Klasse versetzt.
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Am 7. Juni 2005 beantragte der Schulleiter der B. die Eröffnung des Verfahrens zur
Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs im Bereich Lernen. Zur
Erläuterung führte die Klassenlehrerin des Klägers aus, seit Beginn seines Besuchs der
B. habe der Kläger dem Unterricht kaum folgen können, da er anfangs über keinerlei
Kenntnisse der deutschen Sprache und der lateinischen Schrift verfügt habe. Aus
diesem Grunde sei er im Schuljahr 2003/ 2004 freiwillig in die 2. Klasse gewechselt.
Trotz intensiver Fördermaßnahmen der Grundschule verfüge der Kläger, der ein
außerordentlich schüchterner und zurückhaltender Schüler sei, weiterhin nur über einen
sehr geringen deutschen Wortschatz und habe daher in allen Fächern, die
entsprechende Kenntnisse voraussetzten, Schwierigkeiten. In Anbetracht der nur
geringen Lernfortschritte habe die schulpsychologische Beratungsstelle den Kläger auf
Antrag der Grundschule und seiner Eltern untersucht.
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Im Rahmen ihrer Stellungnahme vom 20. April 2006 empfahl die Diplom-Psychologin I. -
L. die Einleitung eines Verfahrens zur Feststellung des sonderpädagogischen
Förderbedarfs. Zwei Tests - CFT 20 und AID 2 - hätten unter Berücksichtigung der
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sprachlichen Verständigungsprobleme des Klägers ergeben, dass seine intellektuellen
Möglichkeiten deutlich unterdurchschnittlich ausgeprägt seien.
Das schulärztliche Gutachten vom 7. Juli 2005 ergab keinerlei Krankheitsbefunde. Der
Kläger machte auf die Schulärztin einen schüchternen, traurigen und wenig
selbstbewussten Eindruck.
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Das Gutachten zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs vom 7.
September 2005 gelangte nach Durchführung von Subtests des Snijders-Oomen Nicht-
verbalen Intelligenztests (SON-R) ebenfalls zu der Einschätzung, der Kläger verfüge nur
über unterdurchschnittliche intellektuelle Fähigkeiten. Seine schulischen Probleme
resultierten jedoch nicht allein hieraus, sondern auch aus seinen großen
Sprachschwierigkeiten und Unsicherheiten im sozial-emotionalen Bereich, wodurch die
Kontaktaufnahme zu Lehrern und Mitschülern behindert werde. Hinzu trete der
mittlerweile deutliche Altersunterschied zu seinen Mitschülern. Der Kläger benötige
dringend sonderpädagogische Förderung in einer kleinen Lerngruppe mit reduziertem
Lerntempo, um die notwendigen Sprachkenntnisse und sozialen Kompetenzen und -
hierauf aufbauend - den sonstigen Lehrstoff zu erlernen.
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Mit Verfügung vom 19. Oktober 2005 stellte das beklagte Schulamt bei dem Kläger
sonderpädagogischen Förderbedarf im Bereich Lernen fest und bestimmte mit sofortiger
Wirkung die E. -C. -Schule in B1. als Förderort. Seit dem 24. Oktober 2005 nimmt der
Kläger dort am Unterricht teil.
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Gegen die Verfügung des beklagten Schulamtes erhob der Kläger am 10. November
2005 Widerspruch. Seine schriftlichen Arbeiten in der Grundschule seien - auch im Fach
Deutsch - sehr oft positiv bewertet worden. Der Unterricht in der Förderschule
unterfordere ihn. Die Q. -Grundschule sei bereit ihn aufzunehmen.
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Mit Schreiben vom 29. November 2005 berichtete der Klassenlehrer des Klägers in der
Förderschule dem Beklagten erstmalig über dessen Lernfortschritte. Der Kläger habe
aufgrund der stabiler werdenden Lernumgebung und seinen positiven Erfahrungen in
den verschiedenen Unterrichtsfächern in Gruppenarbeitsprozessen deutliche
kommunikative Fortschritte gemacht. Gegenüber seinen Mitschülern sei er offener
geworden und werde mittlerweile fest in das gemeinsame Pausenspiel integriert. Diese
Entwicklung übertrage sich langsam auf den Unterricht. Der Kläger gliedere sich
vermehrt in die Klassengemeinschaft ein und gewinne an Zutrauen. Zu einem im Januar
2006 für den Kläger erstellten Förderplan merkte sein Klassenlehrer an, der Kläger
beginne, aus sich heraus zu kommen. Er verliere an Traurigkeit und lache gelegentlich.
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Im Rahmen weiterer Stellungnahmen vom 6. und 28. April 2006 bestätigte der
Klassenlehrer die günstige Entwicklung des Klägers und äußerte zugleich die
Einschätzung, es sei derzeit nicht absehbar, dass der Kläger eine Regelschule
besuchen könne.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 30. Mai 2006 wies die Bezirksregierung N. den
Widerspruch des Klägers zurück. Zur Begründung führte sie aus, der Kläger habe sich
in der Förderschule gut eingelebt und durchlaufe dort eine positive Entwicklung, die
derzeit jedoch noch nicht den Besuch einer Regelschule zulasse. Dies werde die
Förderschule bei anhaltenden Lernfortschritten zu prüfen haben.
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Der Kläger hat daraufhin am 30. Juni 2006 Klage erhoben. Zu deren Begründung trägt
er vor, sein Klassenlehrer an der Förderschule halte den Besuch einer Regelschule für
möglich. Er legt ferner eine ärztliche Bescheinigung der Fachärztin für Psychiatrie -
Psychotherapie T. vom 21. Juli 2006 vor, die eine Beschulung des Klägers an der
Hauptschule mit sprachlicher Förderung dringend befürwortet.
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Der Kläger beantragt,
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den Bescheid des beklagten Schulamtes vom 19. Oktober 2005 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids der Bezirksregierung N. vom 30. Mai 2006 aufzuheben.
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Das beklagte Schulamt beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Das Gericht hat im Termin zur mündlichen Verhandlung Beweis erhoben durch
uneidliche Vernehmung des Klassenlehrers des Klägers an der E. -C. -Schule O. N1.
als Zeugen.
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Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme und der Einzelheiten des Sach- und
Streitstandes im übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen
Verwaltungsvorgangs ergänzend Bezug genommen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
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Die Klage ist zulässig, aber nicht begründet.
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Der Bescheid des Schulamts für den Kreis C1. vom 19. Oktober 2005 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids der Bezirksregierung N. vom 30. Mai 2006 ist rechtmäßig und
verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Nach § 19 Abs. 2 Satz 1 des Schulgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen - SchulG
NRW - (vom 15. Februar 2005, zuletzt geändert durch Gesetsz vom 27. Juni 2006, SGV.
NRW. 223) in Verbindung mit § 19 Abs. 3 SchulG NRW und § 3 Abs. 1 Satz 1 der
Verordnung über die sonderpädagogische Förderung, den Hausunterricht und die
Schule für Kranke - AO-SF - (vom 29. April 2005, zuletzt geändert durch Verordnung
vom 5. Juli 2006, SGV. NRW. 223) entscheidet die Schulaufsichtsbehörde auf Antrag
der Eltern oder der Schule über den sonderpädagogischen Förderbedarf,
Förderschwerpunkt und den Förderort. Vor der Entscheidung sind ein
sonderpädagogisches Gutachten sowie ein medizinisches Gutachten der unteren
Gesundheitsbehörde einzuholen und die Eltern zu beteiligen (§ 19 Abs. 2 Satz 2 und 3
SchulG NRW, §§ 3 Abs. 1 Satz 2, 12 AO-SF). Mit der Erstellung des
sonderpädagogischen Gutachtens beauftragt die Schulaufsichtsbehörde eine
sonderpädagogische Lehrkraft, die in Zusammenarbeit mit einer Lehrkraft der
allgemeinen Schule in dem gemeinsamen Gutachten Art und Umfang der notwendigen
Förderung unter Berücksichtigung der individuellen Situation des Schülers feststellt (§
19 Abs. 3 SchulG NRW, § 12 Abs. 1 Satz 1 AO-SF).
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Nach § 4 Nr. 1 AO-SF kann ein sonderpädagogischer Förderbedarf u. a. durch eine
Lernbehinderung begründet sein. Eine Lernbehinderung liegt nach § 5 Abs. 1 AO-SF
vor, wenn die Lern- und Leistungsausfälle schwerwiegender, umfänglicher und
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langdauernder Art sind und durch Rückstand der kognitiven Funktionen oder der
sprachlichen Entwicklung oder des Sozialverhaltens verstärkt werden.
Von einer solchen Lernbehinderung ist bei dem Kläger auszugehen. Nach dem
vorliegenden sonderpädagogischen Gutachten sind bei ihm Beeinträchtigungen im
Sinne der vorgenannten Vorschrift zu verzeichnen.
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Danach weist der Kläger massive Leistungsausfälle im Bereich der mündlichen
Ausdrucksfähigkeit, der Rechtschreibung und Texterfassung und der Bearbeitung von
mathematischen und sonstigen Sachaufgaben auf. Trotz umfangreicher schulischer
Fördermaßnahmen habe er nur sehr geringe Fortschritte beim Erlernen der deutschen
Sprache gemacht. Es falle ihm schwer, Erlerntes im Gedächtnis zu behalten. Auch für
bekannte Aufgabenstellungen benötige er viel Zeit, unbekannte Aufgaben zu lösen falle
ihm schwer. Er sei ein stiller und schüchterner Schüler, dem die Kontaktaufnahme zu
seinen Mitschülern und Lehrern Probleme bereite. Die mit ihm im Rahmen der
schulpsychologischen Beratung und sonderpädagogischen Begutachtung
durchgeführten Intelligenztests (CFT 20, AID 2 und Subtests des Snijders-Oomen Nicht-
verbalen Intelligenztests SON-R 5 1/2 - 17) ergaben unter Berücksichtigung seiner
Sprachschwierigkeiten unterdurchschnittliche intellektuelle Fähigkeiten.
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Die Feststellung, ob die vorhandenen Lern- und Leistungsausfälle schwerwiegender,
umfänglicher und langdauernder Art sind und durch Rückstand der kognitiven
Funktionen oder der sprachlichen Entwicklung oder des Sozialverhaltens verstärkt
werden (§ 5 Abs. 1 AO-SF), ist anhand der Gesamtpersönlichkeit des Klägers unter
Einbeziehung seiner bisherigen schulischen Entwicklung zu beurteilen. Das bisherige
Lern- und Leistungsverhalten in früheren Schuljahren kann insbesondere Aufschluss
darüber geben, ob die gegenwärtig vorhandenen Lern- und Leistungsausfälle
schwerwiegender, umfänglicher und langdauernder Art sind. Liegen erhebliche
Lerndefizite und -rückstände aus früheren Schuljahren vor, so liegen die
tatbestandlichen Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 AO-SF regelmäßig vor, es sei denn,
die aktuelle schulische Entwicklung rechtfertigt die Annahme, dass die über einen
langen Zeitraum bereits vorhandenen und sich mit den steigenden Anforderungen in
den höheren Klassen verstärkenden Lern- und Leistungsausfälle innerhalb
überschaubarer Zeit aufgeholt werden können und sie deshalb lediglich eine - von § 5
Abs. 1 AO-SF nicht erfasste - vorübergehende Lernbehinderung darstellen.
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Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 8. Oktober 2003 - 19 A 3328/03 -, juris.
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Hierfür bestehen jedoch keine Anhaltspunkte. Die aufgezeigten schulischen
Schwierigkeiten bestehen bei dem 12 Jahre alten Kläger bereits seit dem Schuljahr
2003/ 2004, ohne dass sich trotz intensiver schulischer Förderung eine nennenswerte
Besserung eingestellt hätte.
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Gegen die Verwertbarkeit des sonderpädagogischen Gutachtens bestehen keinerlei
Anhaltspunkte. Die dortige Einschätzung wird vielmehr durch den Klassenlehrer des
Klägers an der E. -C. -Schule bestätigt. Dieser hat im Termin zur mündlichen
Verhandlung ausgesagt, der Kläger habe weiterhin große Sprachschwierigkeiten. Trotz
intensiver schulischer Förderung, die seit Beginn des Schuljahres 2006/ 2007 noch
weiter gesteigert worden sei, habe er im Vergleich zu Schülern der Parallel- und seiner
eigenen Klasse nur sehr geringe Fortschritte gemacht. Abgesehen vom Fach
Mathematik sei er in allen Fächern deutlich überfordert. Die kleine Lerngruppe an der
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Förderschule sei für die Entwicklung des Klägers positiv, sie gebe ihm auch
emotionalen Halt. Vor diesem Hintergrund könne er aus pädagogischer Sicht einen
Wechsel des Klägers an die Hauptschule nicht befürworten.
Soweit der Kläger vorträgt, die Fachärztin für Psychiatrie - Psychotherapie T. befürworte
nach seiner Untersuchung den Versuch eines Hauptschulbesuchs, ist dieses
Vorbringen nicht geeignet, Zweifel an der Richtigkeit der Feststellung zu begründen. Es
ist nicht ersichtlich, dass Frau T. sachkundige Feststellungen zum Vorhandensein eines
sonderpädagogischen Förderbedarfs treffen könnte, da es sich hierbei um eine
pädagogische Fragestellung handelt. Soweit der Kläger geltend macht, in der
Vergangenheit keine ausreichende Sprachförderung erhalten zu haben, lässt sich diese
Einschätzung anhand des vorliegenden Verwaltungsvorgangs und der Aussage des
Zeugen N1. nicht bestätigen. Selbst wenn sie zuträfe, würde hierdurch der
sonderpädagogische Förderbedarf nicht in Frage gestellt.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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