Urteil des VG Münster vom 08.01.2001

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Verwaltungsgericht Münster, 5 K 2886/98
Datum:
08.01.2001
Gericht:
Verwaltungsgericht Münster
Spruchkörper:
5. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
5 K 2886/98
Tenor:
Der Beklagte wird unter Aufhebung seines Bescheides vom 4. Juni 1998
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Landrätin des Kreises
Steinfurt vom 24. April 1998 verpflichtet, den Antrag der Klägerin vom 18.
Mai 1998 auf Bewilligung einer Beihilfe für den Erwerb eines
Kinderfahrrades unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu
bescheiden.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte
darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung abwenden, wenn nicht
die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
T a t b e s t a n d :
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Die am 21. Dezember 1987 geborene Klägerin lebt in Haushaltsgemeinschaft mit ihrer
Mutter und ihrem 1991 geborenen Bruder. Im Zeitpunkt des im vorliegenden Verfahren
zwischen den Beteiligten streitigen Antrages auf Bewilligung einer Beihilfe für den
Erwerb eines Kinderfahrrades lebten die Eltern der Klägerin getrennt.
2
Die Klägerin, ihre Mutter und ihr Bruder erhielten vom Beklagten seit 1995 Hilfe zum
Lebensunterhalt. Bei der Berechnung der Leistungen an die Klägerin berücksichtigte
das Sozialamt des Beklagten in der Zeit von Mai 1998 bis August 1998 Einkommen der
Klägerin in Höhe von 314,04 DM, das sich aus Leistungen nach dem
Unterhaltsvorschussgesetz in Höhe von 167 DM und aus Unterhaltszahlungen ihres
Vaters in Höhe von 147,04 DM zusammensetzte.
3
Die Klägerin beantragte am 18. Mai 1998 bei dem Sozialamt des Beklagten, ihr eine
Beihilfe für ein Kinderfahrrad zu bewilligen.
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Diesen Antrag lehnte der Beklagte durch Bescheid vom 4. Juni 1998 mit der
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Begründung ab, dass die Anschaffung eines Kinderfahrrades nicht zum notwendigen
Lebensunterhalt im Sinne des Bundessozialhilfegesetzes gehöre.
Den Widerspruch der Klägerin wies die Landrätin des Kreises Steinfurt durch
Widerspruchsbescheid vom 24. August 1998 zurück, und zwar im Wesentlichen mit
folgender Begründung: Ein Kinderfahrrad diene in der Regel vorwiegend als
Kinderspielzeug; dieser Bedarf müsse durch die laufenden Leistungen in Höhe der
Regelsätze gedeckt werden; es sei der Klägerin zuzumuten, für größere Anschaffungen,
wie etwa den Erwerb eines gebrauchten Kinderfahrrades, Geldbeträge aus den
laufenden Leistungen anzusparen; für die Fahrt zur Schule benötige die Klägerin ein
Fahrrad ebenfalls nicht, weil nach der Schülerfahrtkostenverordnung Schülern der
Primarstufe zuzumuten sei, einen Schulweg von bis zu 2 km einfacher Entfernung und
Schülern der Sekundarstufe I bis zu 3,5 km Entfernung zu Fuß zurückzulegen; dies sei
auch der Klägerin zuzumuten.
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Die Klägerin hat am 25. September 1998 Klage erhoben und vorgetragen, dass sie das
Fahrrad benötige, um zur Schule und zum Sport zu fahren und mit Freundinnen die
Freizeit zu verbringen. Es müsse in diesem Zusammenhang berücksichtigt werden,
dass ein Fahrrad heute zum selbstverständlichen Gebrauchsgegenstand von Kindern
geworden sei.
7
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
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den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 4. Juni 1998 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides der Landrätin des Kreises Steinfurt vom 24. August 1998 zu
verpflichten, ihr eine Beihilfe für die Anschaffung eines Kinderfahrrades in
angemessener Höhe zu gewähren.
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Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
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Der Beklagte ist der Ansicht und legt näher dar, dass für die Klägerin ein Fahrrad nicht
erforderlich sei; auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Kinder im Alter von
über 10 Jahren häufig mit Fahrrädern ausgestattet seien, stelle ein Fahrrad für die
Klägerin kein Grundbedürfnis des menschlichen Lebens dar, ohne dessen Befriedigung
sie unter das Existenzminimum abzusinken drohe; ein Kind könne regelmäßig auch
ohne eigenes Fahrrad eine normale Entwicklung nehmen und ein menschenwürdiges
Leben führen.
11
Die Klägerin hat am 20. Mai 1999 ein Damenfahrrad - 24 Zoll, 36 cm - zum Preis von
565 DM erworben und mitgeteilt, dass sie das Geld von ihrer Großmutter als zinsloses
Darlehen zur Verfügung gestellt bekommen und inzwischen zurückgezahlt habe.
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Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, dass über die Klage ohne
mündliche Verhandlung durch den Vorsitzenden entschieden wird.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der
Beteiligten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakten und der
Verwaltungsvorgänge des Beklagten.
14
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
15
Mit Einverständnis der Beteiligten wird über die Klage ohne mündliche Verhandlung
durch den Vorsitzenden als Einzelrichter entschieden (§ 101 Abs. 2, § 87 a Abs. 2
VwGO).
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Die Klage hat nur insoweit Erfolg, als der angefochtene Bescheid aufgehoben und der
Beklagte zur erneuten Bescheidung des Antrages der Klägerin verpflichtet wird. Die
Klägerin hat einen Anspruch darauf, dass ihr eine Beihilfe für den Erwerb eines
Kindesfahrrades bewilligt wird. Über die Höhe der Beihilfe ist vom Beklagten unter
Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts nach pflichtgemäßem Ermessen zu
entscheiden.
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Der Klägerin stand in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen
Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides der Landrätin des Kreises
Steinfurt vom 24. August 1998 ein Anspruch auf Bewilligung einer Beihilfe für den
Erwerb eines Kinderfahrrades zu.
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Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der das Gericht
folgt, kann der Anspruch auf Leistungen der Sozialhilfe grundsätzlich nur in dem
zeitlichen Umfang in zulässiger Weise zum Gegenstand der verwaltungsgerichtlichen
Kontrolle gemacht werden, in dem der Träger der Sozialhilfe den Hilfefall geregelt hat.
Das ist regelmäßig der Zeitraum bis zur letzten Verwaltungsentscheidung, also bis zum
Erlass des Widerspruchsbescheides (BVerwG, Urteil vom 31. August 1995 - 5 C 9.94 -,
BVerwGE 99, 149 = FEVS 46, 221 = NJW 1996, 2588 = NDV-RD 1996, 46 = DVBl
1996, 305), und gilt grundsätzlich auch für einmalige Leistungen (BVerwG, Urteil vom 3.
Dezember 1992 - 5 C 15.90 -, BVerwGE 91, 254 = FEVS 43, 221 = NDV 1993, 284 =
ZfSH/SGB 1993, 481). Dieser zeitliche Rahmen gilt allerdings nicht uneingeschränkt.
Eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass der Gegenstand der gerichtlichen
Nachprüfung durch die Zeit bis zum Erlass des letzten Behördenbescheides begrenzt
ist, besteht nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts dann, wenn die
Behörde den Hilfefall statt für den dem Bescheid nächstliegenden Zeitraum für einen
längeren Zeitraum geregelt hat (BVerwG, Urteil vom 31. August 1995 - 5 C 9.94 -, a. a.
O.). Ebenso wie sich eine Bewilligung von Leistungen über einen längeren Zeitraum
über den Erlass des Widerspruchsbescheides hinaus erstrecken kann, kann auch die
Ablehnung einer solchen Bewilligung einen längeren Zeitabschnitt erfassen. Der die
Bewilligung oder Ablehnung betreffende Regelungszeitraum braucht nicht ausdrücklich
benannt zu sein, sondern kann sich aus dem maßgeblichen Bescheid auch durch
Auslegung ergeben (BVerwG, Urteil vom 31. August 1995 - 5 C 9.94 -, a. a. O.).
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Hieran anknüpfend ergibt sich durch Auslegung des Widerspruchsbescheides der
Landrätin des Kreises Steinfurt vom 24. August 1998, dass über die Verpflichtung der
Behörde zur Bewilligung einer Beihilfe für den Erwerb eines Kinderfahrrades im
Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides entschieden werden sollte. Zwar
wird in dem Widerspruchsbescheid ausdrücklich kein Regelungszeitraum genannt. Der
Begründung des Widerspruchsbescheides lässt sich jedoch aus der insoweit
maßgeblichen Sicht der Klägerin entnehmen - für die Auslegung von
Willenserklärungen der Verwaltung ist gemäß der auch im öffentlichen Recht geltenden
Regel des § 133 BGB der erklärte Wille maßgebend, wie ihn bei objektiver Würdigung
der Empfänger verstehen kann (BVerwG, Urteil vom 26. April 1968 - VI C 113.67 -,
BVerwGE 29, 310, 312; Beschluss vom 27. Februar 1981 - 6 B 19.81 -, DÖV 1981, 635)
-, dass keine Entscheidung über den Zeitpunkt des Erlasses des
Widerspruchsbescheides hinaus getroffen werden sollte, weil die Landrätin des Kreises
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Steinfurt auf Seite 3 unten des Widerspruchsbescheides auf den gegenwärtigen
Schulweg der Klägerin abstellt und u. a. diesen Gesichtspunkt anführt, um die
beantragte Beihilfe abzulehnen.
Da es für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage im vorliegenden Fall auf den
Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides vom 24. August 1998 ankommt, ist
es rechtlich unerheblich, dass die Klägerin ihren Bedarf während des Klageverfahrens
durch den Erwerb eines Fahrrades im Mai 1999 mit Hilfe von geliehenem Geld ihrer
Großmutter gedeckt hat. Der Gesichtspunkt der vorzeitigen Bedarfsdeckung durch den
Hilfeempfänger ist nur dann bedeutsam, wenn diese Bedarfsdeckung vor dem für die
Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt erfolgt ist (vgl. dazu die
Urteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. April 1992 - 5 C 12.87 -, BVerwGE 90,
154 = FEVS 43, 59, vom 23. Juni 1994 - 5 C 26.92 -, BVerwGE 96, 152 = FEVS 45, 138
sowie vom 31. August 1995 - 5 C 9.94 -, a. a. O.; weitere Nachweise bei Rothkegel, Die
Strukturprinzipien des Sozialhilferechts, 1. Auflage 2000, S. 70 ff.).
21
Der Klägerin stand im Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides der
Landrätin des Kreises Steinfurt vom 24. August 1998 ein Anspruch auf Bewilligung einer
Beihilfe für den Erwerb eines Kinderfahrrades zu. Hilfe zum Lebensunterhalt ist gemäß
§ 11 Abs. 1 Satz 1 BSHG dem zu gewähren, der seinen notwendigen Lebensunterhalt
nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem aus seinem
Einkommen und Vermögen, beschaffen kann. Soweit minderjährige unverheiratete
Kinder, die dem Haushalt eines Elternteiles angehören, den notwendigen
Lebensunterhalt aus ihrem Einkommen und Vermögen nicht beschaffen können, sind
gemäß § 11 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 BSHG auch das Einkommen und das Vermögen
des Elternteiles zu berücksichtigen. Weder die Klägerin noch ihre Mutter verfügten im
maßgeblichen Zeitpunkt über ausreichendes Einkommen und Vermögen, um ein
Kinderfahrrad zu erwerben, denn beide erhielten vom Beklagten laufende Hilfe zum
Lebensunterhalt. Entgegen der Ansicht des Beklagten gehört der Bedarf, der durch den
Erwerb eines Kinderfahrrades gedeckt wird, zum notwendigen Lebensunterhalt der
Klägerin.
22
Der notwendige Lebensunterhalt umfasst gemäß § 12 Abs. 1 BSHG besonders
persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens. Zu den persönlichen Bedürfnissen des
täglichen Lebens gehören in vertretbarem Umfange auch Beziehungen zur Umwelt und
eine Teilnahme am kulturellen Leben. Zu den persönlichen Bedürfnissen des täglichen
Lebens gehört es auch, ein Kinderfahrrad zu benutzen, und zwar unabhängig davon, ob
das Fahrrad als Spielzeug, als Sportgerät oder als Transportmittel eingesetzt wird
(BVerwG, Urteil vom 5. November 1992 - 5 C 19.92 - und Urteil vom 18. Dezember 1997
- 5 C 7.95 -, BVerwGE 106, 99 = FEVS 48, 337 = NJW 1998, 1963 = NDV RD 1998, 72
= ZfSH/SGB 1998, 425 = info also 1998, 77).
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Der von der Klägerin geltend gemachte Bedarf, ein Kinderfahrrad zu nutzen, wird
entgegen der Ansicht der Landrätin des Kreises Steinfurt in ihrem
Widerspruchsbescheid vom 24. August 1998 nicht dadurch gedeckt, dass der Klägerin
durch den Beklagten laufende Hilfe zum Lebensunterhalt bewilligt worden ist. Seit dem
Inkrafttreten von § 21 Abs. 1 a und 1 b BSHG durch Artikel 7 Nr. 6 des Gesetzes zur
Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms (FKPG) vom 23. Juni 1993,
BGBl. 1 S. 944 am 27. Juni 1993 ist als Regelbedarf der ohne Besonderheiten des
Einzelfalles bei vielen Hilfeempfängern gleichermaßen bestehende, nicht nur einmalige
Bedarf aus den in § 1 Abs. 1 der Regelsatzverordnung genannten Bedarfsgruppen und -
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posten, für den nicht nach § 21 Abs. 1 a BSHG einmalige Leistungen zu gewähren sind,
anzusehen (BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 1997 - 5 C 7.95 -, a. a. O.). Für den hier
geltend gemachten Bedarf sind einmalige Leistungen nach § 21 Abs. 1 a Nr. 6 BSHG zu
bewilligen. Nach dieser Vorschrift werden einmalige Leistungen zur Beschaffung von
Gebrauchsgütern von längerer Gebrauchsdauer und von höherem Anschaffungswert
gewährt. Dazu zählt, wie sich den in dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 18.
Dezember 1997 - 5 C 7.95 - a. a. O. aufgeführten Beispielen entnehmen lässt, auch ein
Fahrrad. Dies gilt für Kinder unter Berücksichtigung der Regelung in § 12 Abs. 2 BSHG,
dass bei Kindern und Jugendlichen der notwendige Lebensunterhalt auch den
besonderen, vor allem den durch ihre Entwicklung und ihr Heranwachsen bedingten
Bedarf umfasst.
Entgegen der vom Beklagten in Kenntnis der Entscheidungsgründe des Urteils des
Bundesverwaltungsgerichts vom 18. Dezember 1997 - 5 C 7.95 -, a. a. O. vertretenen
Ansicht gehört die Benutzung eines Kinderfahrrades bei der Klägerin in dem für die
Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des
Widerspruchsbescheides der Landrätin des Kreises Steinfurt vom 24. August 1998 zu
den persönlichen Bedürfnissen des täglichen Lebens. Bei der Beantwortung der Frage,
ob ein Fahrrad zur Erfüllung der persönlichen Bedürfnisse des täglichen Lebens
erforderlich ist, muss dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die persönlichen
Bedürfnisse des täglichen Lebens ihrem Wesen nach solche aus freier,
selbstbestimmter und -gestalteter, eben „persönlicher" Lebensführung sind (so schon
BVerwG, Urteil vom 29. Oktober 1997 - 5 C 34.95 -, BVerwGE 105, 281 = FEVS 48, 193
= NJW 1999, 738 = NDV-RD 1998, 31 = ZfSH/SGB 1998, 212 = info also 1998, 24; so
auch Urteil vom 18. Dezember 1997 - 5 C 7.95 -, a. a. O.). Das schließt es aus, einen
konkreten Bedarf aus dieser Bedarfsgruppe als für alle Hilfeempfänger maßgeblich oder
unmaßgeblich festzulegen. Da zu den persönlichen Bedürfnissen des täglichen Lebens,
ungeachtet ihrer individuellen Ausgestaltung, nach § 12 Abs. 1 Satz 2 BSHG in
vertretbarem Umfange auch Beziehungen zur Umwelt gehören und das Radfahren dem
Einzelnen ermöglicht, seine Umwelt zu erfahren, kann Fahrrad fahren und damit
gegenständlich ein Fahrrad ein persönliches Bedürfnis des täglichen Lebens sein.
Allerdings sind Beziehungen zur Umwelt nach § 12 Abs. 1 Satz 2 BSHG nur in
vertretbarem Umfange als sozialhilferechtlicher Bedarf anerkannt. Bereits aus der
Wortbedeutung „in vertretbarem Umfange" ergibt sich, dass damit nicht die Art und
Weise der Beziehungen zur Umwelt angesprochen ist. Vielmehr steht es jedem
Sozialhilfeempfänger frei, in welcher Art und Weise er seine Beziehungen zur Umwelt
und damit seine Teilnahme an der Gesellschaft gestaltet. Mit dem Tatbestandsmerkmal
„in vertretbarem Umfange" ist das Ausmaß der sozialhilferechtlich beachtlichen
Beziehungen zur Umwelt und zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben nicht nach
Häufigkeit oder zeitlicher Dauer eingegrenzt, sondern nur nach finanziellem Aufwand
(so schon BVerwG, Urteil vom 13. September 1985 - 5 C 113.83 -, BVerwGE 72, 112 =
FEVS 35, 17 = NDV 1986, 108; bestätigt durch das Urteil vom 18. Dezember 1997 - 5 C
7.95 -, a. a. O.). Daraus folgt, dass es dem Sozialhilfeträger verwehrt ist, die vom
Hilfeempfänger gewählte Art und Weise der Beziehungen zur Umwelt daraufhin zu
überprüfen, ob sie sinnvoll oder zweckmäßig ist. Vielmehr steht dem Sozialhilfeträger
nur eine Entscheidung über den vertretbaren Umfang, also in Bezug auf den
vertretbaren finanziellen Aufwand, zu. Dieser Rahmen kann im Einzelfall bereits durch
vorangegangene gleichgerichtete einmalige Leistungen eingeschränkt sein. Abgesehen
von diesen Einschränkungen liegt die Wahl des Bedarfsdeckungsgegenstandes
grundsätzlich in der Entscheidung des Hilfebedürftigen. Es ist sozialhilferechtlich nicht
gerechtfertigt, ihm den Bedarfsdeckungsgegenstand vorzuschreiben oder ihn auf den
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einen oder anderen Bedarfsdeckungsgegenstand zu begrenzen. Begrenzungen
ergeben sich nur aus der Höhe der erforderlichen Aufwendungen. Mithin muss es jedem
Hilfeempfänger bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen im Übrigen ermöglicht
werden, durch die Benutzung eines Fahrrades Beziehungen zur Umwelt aufzubauen
und aufrechtzuerhalten (BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 1997 - 5 C 7.95 -, a. a. O.).
Hieran anknüpfend ist der Beklagte verpflichtet, der Klägerin durch die Bewilligung
einmaliger Leistungen das Benutzen eines Fahrrades zu ermöglichen, weil die Klägerin
seit der erstmaligen Bewilligung von Hilfe zum Lebensunterhalt im Jahre 1995 noch
keine Beihilfe erhalten hat, um diesen Bedarf an persönlichen Bedürfnissen des
täglichen Lebens zu decken.
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Damit steht aber noch nicht fest, in welcher Art und in welchem Umfang die Hilfe zu
gewähren ist. Vielmehr ist nach § 4 Abs. 2 BSHG über die Form und das Maß der
Sozialhilfe nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, soweit nicht dieses Gesetz
- was im vorliegenden Fall nicht gegeben ist - das Ermessen ausschließt. In das dem
Träger der Sozialhilfe hierdurch eingeräumte Ermessen fällt es u. a., zu entscheiden, ob
eine Leistung in Form von Geld oder als Sachleistung gewährt wird und ob neuwertige
oder gebrauchte Gegenstände vom Hilfeempfänger genutzt werden können. Die
gerichtliche Kontrolle dieser Entscheidung in einem verwaltungsgerichtlichen
Hauptverfahren ist dabei auf die Nachprüfung beschränkt, ob der Behörde ein
Ermessensfehler unterlaufen ist. Der gerichtlichen Nachprüfung im Hauptverfahren
unterliegt damit nur, ob die Behörde ihr Ermessen pflichtgemäß, d. h. entsprechend dem
Zweck des § 4 Abs. 2 BSHG, ausgeübt und die gesetzlichen Grenzen ihres Ermessens
eingehalten hat (vgl. § 114 VwGO). Auf Grund seiner Bindung an den gesetzlichen
Zweck der Ermächtigung zum Ermessensgebrauch muss der Träger der Sozialhilfe bei
seiner Entscheidung, in welcher Form er die einmalige Beihilfe im Rahmen der Hilfe
zum Lebensunterhalt gewährt, alle geschriebenen und ungeschriebenen Grundsätze
beachten, die sich aus dem Bundessozialhilfegesetz, dem Sozialgesetzbuch -
Allgemeiner Teil - und gegebenenfalls aus dem Verfassungsrecht ergeben. Dazu gehört
vor allem die Beachtung von § 1 Abs. 2 Satz 1 BSHG, wonach es Aufgabe der
Sozialhilfe ist, dem Empfänger der Hilfe die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das
der Würde des Menschen entspricht. Hierunter fällt auch, dass dem erwachsenen
Menschen die Möglichkeit gelassen wird, im Rahmen der ihm nach dem Gesetz
zustehenden Mittel seine Bedarfsdeckung frei zu gestalten. Die Achtung der
Menschenwürde gebietet es aber nicht, es dem Hilfeempfänger im Rahmen der
einmaligen Beihilfen zum Lebensunterhalt durch Bewilligung einer Geldleistung für
einen bestimmten Bedarf freizustellen, wie er diesen Bedarf decken will. Vielmehr darf
der Hilfeempfänger auf eine für ihn zumutbare Sachleistung verwiesen werden, die auch
in der Zurverfügungstellung von gebrauchten Gegenständen bestehen kann (BVerwG,
Urteil vom 14. März 1991 - 5 C 70.86 -, FEVS 41, 397 = info also 1991, 154).
Dementsprechend hat das Bundesverwaltungsgericht in seiner neuen Rechtsprechung
für rechtlich zulässig gehalten, den Hilfeempfänger auf die Benutzung gebrauchter
Bedarfsdeckungsgegenstände zu verweisen (BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 1997 -
5 C 7.95 -, a. a. O.; Urteil vom 1. Oktober 1998 - 5 C 19.97 -, BVerwGE 107, 234 = FEVS
49, 49).
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Wenn es - wie vorliegend - darum geht, persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens
zu decken, bei denen es um die Beziehungen zur Umwelt geht, hat die Behörde im
Rahmen ihrer Ermessensentscheidung auch zu berücksichtigen, dass diese
Bedürfnisse gemäß § 12 Abs. 1 Satz 2 BSHG nur in vertretbarem Umfange zu decken
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sind. Bei der Auslegung dieser Vorschrift kann deshalb, wie das
Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 13. September 1985 - 5 C 113.83 -, a. a.
O. zutreffend hervorgehoben hat, nicht unberücksichtigt bleiben, dass das Maß dessen,
was der Einzelne von der Gemeinschaft vernünftigerweise verlangen kann, durch die
Finanzierbarkeit der in Anspruch genommenen Leistungen bestimmt wird.
Allerdings engen sich die Entscheidungsmöglichkeiten ein, wenn der Sozialhilfeträger -
wie hier - eine Hilfe ablehnt, denn wenn der Hilfebedürftige nach Ablehnung sich selbst
Hilfe sucht, muss seine Hilfewahl, vorausgesetzt, sie hält sich im Rahmen der
gesetzlichen Vorschriften, der Hilfeentscheidung der Behörde zugrundegelegt werden
(BVerwG, Urteil vom 20. Juli 2000 - 5 C 43.99 -, zur Veröffentlichung in der
Entscheidungssammlung des Bundesverwaltungsgerichts und in der Fachpresse
bestimmt -).
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Bezogen auf den streitgegenständlichen Fall bedeutet dies, dass der Beklagte die Hilfe
nicht mehr dadurch erbringen kann, dass er der Klägerin ein Fahrrad zur Nutzung
überlässt. Vielmehr muss der Beklagte berücksichtigen, dass sich die Klägerin während
des Klageverfahrens im Mai 1999 selbst ein Fahrrad mit geliehenem Geld ihrer
Großmutter beschafft hat. Zwar wirkt eine bedarfsdeckende Hilfe Dritter
anspruchsvernichtend, wenn der Dritte die Hilfe endgültig, d. h. als „verlorenen
Zuschuß" (z. B. durch Schenkung) leistet (BVerwG, Urteil vom 23. Juni 1994 - 5 C 26.92
-, a. a. O. und Urteil vom 31. August 1995 - 5 C 9.94 -, a. a. O.). Diese Voraussetzungen
liegen hier jedoch nicht vor, wenn die Großmutter der Klägerin das Geld nur leihweise
zur Verfügung gestellt hat, wie sich aus ihrer schriftlichen Erklärung vom 1. November
2000 ergibt.
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Da die Klägerin in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgebenden
Zeitpunkt des Widerspruchsbescheides einen Anspruch auf die von ihr begehrte
Leistung hatte, war ihr auch nicht mehr zuzumuten, den Ausgang des Rechtsstreites
abzuwarten (vgl. BVerwG, Urteil vom 31. August 1995 - 5 C 9.94 -, a. a. O. und Urteil
vom 20. Juli 2000 - 5 C 43.99 -). Deshalb ist der Beklagte bei seiner Entscheidung im
Rahmen des § 4 Abs. 2 BSHG auf die Form der Geldleistung festgelegt. Er darf
allerdings bei der Festsetzung der Höhe der Geldleistung berücksichtigen, dass die
Klägerin in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt
des Erlasses des Widerspruchsbescheides auf den Erwerb eines gebrauchten
Fahrrades hätte verwiesen werden dürfen.
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Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 188 Satz 2, 155 Abs. 1 Satz 2 VwGO. Dem
Beklagten sind die Kosten des Verfahrens im vollen Umfang auferlegt worden, weil die
Klägerin nur zu einem geringen Teil unterlegen ist. Sie muss lediglich Abstriche bei der
Höhe der ihr dem Grunde nach zustehenden Geldleistung hinnehmen.
32
Die Kostenentscheidung ist gemäß § 167 Abs. 2 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO
vorläufig vollstreckbar.
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