Urteil des VG Münster vom 31.08.2007

VG Münster: staatliche verfolgung, politische verfolgung, anerkennung, flüchtlingseigenschaft, drittstaat, einreise, religion, pakistan, ausländer, auskunft

Verwaltungsgericht Münster, 7 K 1982/03.A
Datum:
31.08.2007
Gericht:
Verwaltungsgericht Münster
Spruchkörper:
7. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
7 K 1982/03.A
Tenor:
Die Beklagte wird unter entsprechender Abänderung des Bescheides
des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom
25. Juni 2003 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft
zuzuerkennen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben
werden, tragen der Kläger und die Beklagte je zur Hälfte.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige
Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch
Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des beizutreibenden
Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger
vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
T a t b e s t a n d :
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Der 1963 geborene Kläger, pakistanischer Staatsangehöriger, reiste nach eigenen
Angaben am 17. November 2002 aus seinem Heimatland aus und auf dem Luftweg in
die Bundesrepublik Deutschland ein; hier stellte er einen Asylantrag. Zur Begründung
gab er im Wesentlichen an: Er sei Ahmadi. In dem Dorf H. , in dem insgesamt 40
Ahmadis lebten, sei im Jahr 1995 nach einem Streit die Ahmadi- Moschee geschlossen
worden. Im Jahr 2001 seien auf Veranlassung eines im Dorf lebenden Kriminellen, der
Ahmadi-Gegner sei, 4 Ahmadis getötet worden. Anfang des Jahres 2002 habe er
Probleme mit dem Kriminellen bekommen. Er habe sich versteckt, sei zunächst zu
Verwandten in ein anderes Dorf namens E. gegangen und habe dort 3 Monate gelebt.
Nachdem Kriminelle dort erschienen seien, um ihn zu töten, sei er zu seinen Eltern in
das Dorf M. gegangen. Nach ca. 15 Tagen sei auf das Haus der Familie geschossen
worden. Danach sei er weggelaufen und habe sich bis zu seiner Ausreise bei seinem
Schwiegervater in der Stadt H1. aufgehalten.
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Wegen der Einzelheiten wird auf Bl. 21 bis 32 der Beiakte Heft 1 Bezug genommen.
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Durch Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom
25. Juni 2003 lehnte die Beklagte den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter als
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offensichtlich unbegründet ab, stellte fest, dass die Voraussetzungen von § 51 Abs. 1
des Ausländergesetzes offensichtlich nicht und Abschiebungshindernisse gemäß § 53
des Ausländergesetzes nicht vorliegen und forderte den Kläger unter
Abschiebungsandrohung auf, die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen.
Der Kläger beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge vom 25. Juni 2003 zu verpflichten, ihn als Asylberechtigten
anzuerkennen, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sowie festzustellen, dass
Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 2 ff. AufenthG vorliegen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Entscheidungsgründe:
9
I.
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Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter.
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Das ergibt sich aus Art. 16 a Abs. 2 des Grundgesetzes i. V. m. § 26 a Abs. 1 Satz 1
AsylVfG. Nach letzterer Vorschrift kann sich ein Ausländer, der aus einem Drittstaat
i.S.d. Artikels 16a Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes (sicherer Drittstaat) eingereist ist,
nicht auf Artikel 16 a Abs. 1 des Grundgesetzes berufen; er wird nicht als
Asylberechtigter anerkannt. Gemäß § 26 a Abs. 2 AsylVfG sind sichere Drittstaaten
außer den Mitgliedern der europäischen Gemeinschaften die in Anlage I bezeichneten
Staaten.
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Alle Nachbarstaaten der Bundesrepublik Deutschland sind entweder auf Grund ihrer
Mitgliedschaft in den europäischen Gemeinschaften oder auf Grund der Anlage I zu § 26
a AsylVfG sichere Drittstaaten, sodass jeder Asylsuchende, der auf dem Landweg in die
Bundesrepublik Deutschland gelangt ist, den Ausschlussgrund der Einreise aus einem
sicheren Drittstaat verwirklicht.
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Der Asylausschlussgrund verlangt nicht, dass der sichere Drittstaat, aus dem der
Ausländer die Grenze nach Deutschland überschritten hat, identifiziert worden ist.
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Vgl. Urteil des BVerfG vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1938/93, 2315/93 -, DVBl. 1996, 753.
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Im Rahmen der Prüfung, auf welchem Weg eine Einreise in die Bundesrepublik
Deutschland erfolgte, treffen den Asylbewerber Mitwirkungspflichten in besonderem
Maße; bleibt der Einreiseweg unaufklärbar, trägt der Asylbewerber die materielle
Beweislast für seine Behauptung, ohne Berührung eines sicheren Drittstaates auf dem
Luft- oder Seeweg nach Deutschland eingereist zu sein.
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Vgl. Urteil des BVerwG vom 29. Juni 1999 - 9 C 36.98 -.
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Hier liegen die obigen Voraussetzungen des Asylausschlussgrundes hinsichtlich des
Klägers vor. Objektive Tatsachen, die für eine Einreise auf dem Luftweg sprechen, hat
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der Kläger nicht vorgebracht. Die Behauptung, er sei mit einem Flugzeug am 17.
November 2002 in Deutschland gelandet, wurde nicht verifiziert - wenigstens durch eine
Bestätigung der Fluggesellschaft oder des Flughafens, dass ein Flug an diesem Tag
stattgefunden hat -, obwohl der Kläger hierzu ausdrücklich mit gerichtlicher Verfügung
vom 11. Januar 2005 aufgefordert wurde. Daraus zieht das Gericht den Schluss, dass
der Kläger nicht ohne Berührung eines sicheren Drittstaates auf dem Luft- oder Seeweg
nach Deutschland eingereist ist und die Angaben zur angeblichen Einreise auf dem
Luftweg gemacht hat, um dem für ihn negativen Asylausschluss gemäß Art. 16a Abs. 2
GG auszuweichen.
II.
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Die Verpflichtungsklage auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist begründet, da
der Kläger den Bedrohungen gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG (in der Fassung der
Änderung durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien
der europäischen Union vom 19. August 2007, BGBl. 2007 S. 1970) ausgesetzt ist, vgl.
§ 3 Abs. 1 AsylVfG (in der Fassung der Änderung durch das Gesetz zur Umsetzung
aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der europäischen Union vom 19. August
2007, BGBl. 2007 S. 1970).
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Gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat
abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse,
Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen
Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist.
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Diese Voraussetzungen sind bzgl. des Klägers gegeben.
22
1.
23
Allerdings gilt dies nicht, soweit es unter dem Gesichtspunkt der Gruppenverfolgung die
Zugehörigkeit zur Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft betrifft.
24
Ahmadis waren im Allgemeinen in Pakistan einer asylrelevanten unmittelbaren oder
mittelbaren Gruppenverfolgung nicht ausgesetzt; zum Zeitpunkt der Ausreise des
Klägers aus Pakistan drohte diesbezüglich keine politische Verfolgung.
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Vgl. hierzu im Einzelnen den in das Verfahren eingeführten Beschluss des OVG NRW
vom 21. Juli 2004 - 19 A 2599/04.A - m.w.N. zur ständigen Rspr.
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Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG i.V.m. Art. 10 (1)
b) der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die
Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als
Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und
über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (im Folgenden: Richtlinie), wonach der
Begriff der Religion u.a. die Teilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen
Bereich umfasst. Allerdings steht diese Vorschrift zunächst im offenkundigen Gegensatz
zur bisherigen ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, die
(bezogen auf Ahmadis pakistanischer Staatsangehörigkeit) asylrechtlich lediglich den
Innenbereich privater Glaubensausübung schützte, nicht jedoch die Außensphäre
öffentlicher Glaubensbetätigung.
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Vgl. Urteil des BVerwG vom 24. April 1995 - 9 C 415.94 -, m.w.N.
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Jedoch muss eine Verfolgungshandlung, die an einen derartigen Verfolgungsgrund
(hier: öffentliche Glaubensbetätigung) anknüpft, gemäß Art. 9 (1) a) der Richtlinie
aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sein, dass sie eine
schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt.
29
Diese Voraussetzung ist hier - auch unter Berücksichtigung der speziellen, gegen die
Ahmadis gerichteten Gesetzgebung - nicht gegeben. Vielmehr ist in Pakistan der
essentielle Kernbereich der Religionsbetätigung im öffentlichen Bereich gewährleistet,
auch wenn sich die Ahmadis öffentlich nicht Moslems und ihre Gotteshäuser nicht
Moscheen nennen bzw. nicht öffentlich zum Gebet ausrufen dürfen. Entscheidend ist,
dass es ansonsten keine Beschränkung bezogen auf die Religionsausübung gibt; es ist
den Ahmadis gestattet, sich als Ahmadis auszugeben und es gibt insbesondere eine
ausreichende Anzahl an Gotteshäusern, in denen sie ihre Religion frei ausleben
können.
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Vgl. die in diesem Verfahren eingeholte Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 19.
Januar 2007.
31
2.
32
Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ergibt sich aber aus individuellen Gründen.
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Der Kläger hat diesbezüglich in den mündlichen Verhandlungen glaubhaft zu seinem
Verfolgungsschicksal vorgetragen. Ins Gewicht fallende Unstimmigkeiten, die den
asylrechtlichen Kernbereich des Vortrags betreffen, sind nicht ersichtlich. Im Verlauf der
intensiven Befragung hat der Kläger auch auf gezielte Nachfragen hin nachvollziehbare
Antworten und Schilderungen geben, soweit ihm das von seiner Persönlichkeit her
möglich war. Das Gericht hat im Verlauf der Befragung auf Grund der Reaktionen des
Klägers den Eindruck gewonnen, dass der Kläger von persönlich erlebten, tatsächlich
geschehenen Erlebnissen berichtete; der Kläger hat insgesamt einen persönlich
glaubwürdigen Eindruck hinterlassen.
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Unter Berücksichtigung dieses Vortrags ist der Kläger vorverfolgt ausgereist. Es ist
davon auszugehen, dass er in das Blickfeld eines religiösen Extremisten und dessen
Helfershelfer geraten war. Die (Mord-)Drohungen waren auf Grund der konkreten
Fallumstände ernst zu nehmen; aufgrund des Einflusses der Verfolger ist davon
auszugehen, dass der Kläger landesweit in eine ausweglose Lage geraten war. Diese
in besonderem Maße zugespitzte Situation wird bestätigt durch das Schicksal des
„Cousins" des Klägers, der im Zusammenhang mit den im Heimatdorf des Klägers
wurzelnden Auseinandersetzungen gerichtlich belangt worden ist. Nicht von
entscheidender Relevanz ist, dass der Verurteilte des genannten Gerichtsverfahrens
nach der in diesem Verfahren eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 25. Juli
2006 (nach deutschem Verständnis) nicht der Cousin des Klägers ist. Im Kulturkreis des
Klägers muss dies nicht entsprechend gelten; jedenfalls steht der Verurteilte nach den
näheren Ausführungen des Klägers (Schriftsatz vom 28. August 2006, Bl. 108 der
Gerichtsakte) in einer allgemeinen verwandtschaftlichen Beziehung zu ihm.
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Zwar steht hier keine staatliche Verfolgung in Rede, jedoch ist auch nichtstaatliche
Verfolgung durch Privatpersonen dem jeweiligen Staat u.a. dann zuzurechnen, wenn
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der Staat nicht willens ist, Schutz zu bieten (§ 60 Abs. 1 Satz 4 c) AufenthG). Angesichts
der zugespitzten Situation, in der sich der Kläger befand, und unter Berücksichtigung
des Umstandes, dass die Polizei im Zusammenhang mit und nach den Geschehnissen
im Heimatdorf des Klägers keine ins Gewicht fallende Schutzbereitschaft zeigte,
bestand ausnahmsweise kein Anlass, zunächst um staatlichen Schutz nachzusuchen.
Unter Berücksichtigung dieses Sachverhalts kann nicht mit der erforderlichen Sicherheit
ausgeschlossen werden, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr in sein Heimat
unverfolgt bleiben wird.
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III.
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Einer Entscheidung über die subsidiären Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 2 ff.
AufenthG bedarf es danach nicht mehr.
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Kostenentscheidung: §§ 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO, 83b AsylVfG. Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit: § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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