Urteil des VG Münster vom 01.03.2004

VG Münster: vertreter, stadt, beschränkung, verfahrensrechte, zahl, drucksache, entscheidungsbefugnis, konzentration, unverzüglich, vertretungsmacht

Verwaltungsgericht Münster, 1 L 181/04
Datum:
01.03.2004
Gericht:
Verwaltungsgericht Münster
Spruchkörper:
1. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
1 L 181/04
Tenor:
Die Anträge werden abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 4.000 EUR festgesetzt.
G r ü n d e
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I. Die Anträge der Antragstellerin,
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1. dem Antragsgegner zu 1. aufzugeben, das am 30. Oktober 2003 eingereichte
Bürgerbegehren „Q." mit der Fragestellung „Soll die Stadt Ahlen alleinige
Gesellschafterin der Stadtwerke Ahlen GmbH bleiben" für zulässig zu erklären,
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2. dem Antragsgegner zu 2. aufzugeben, unverzüglich eine Sitzung des Antragsgegners
zu 1 einzuberufen, in der das Bürgerbegehren sachlich behandelt wird und für den Fall,
dass der Antragsgegner zu 1. dem Bürgerbegehren n i c h t entspricht, unverzüglich
einen Bürgerentscheid mit der Fragestellung „soll die Stadt Ahlen alleinige
Gesellschafterin der Stadtwerke Ahlen GmbH bleiben" durchzuführen und
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3. den Antragsgegnern aufzugeben, einem Vertragsschluss mit Kaufinteressenten von
Gesellschaftsanteilen der Stadtwerke Ahlen GmbH nur in Verbindung mit einer - für den
Fall des erfolgreichen Bürgerentscheids vorbehaltenen - freien, insbesondere ohne
Schadensersatzverpflichtung bestehenden Rücktrittsmöglichkeit zuzustimmen,
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haben keinen Erfolg, weil in dem Bürgerbegehren Herr L. als weiterer Vertreter im Sinne
des § 26 Abs. 2 S. 2 GemO benannt ist und er sich an dem Verfahren nicht (mehr)
beteiligt.
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Entweder ist die Antragstellerin nicht prozessführungsbefugt, weil sie den Antrag auf
vorläufigen Rechtsschutz allein gestellt hat (zu 1.), oder die Anträge auf Erlass der
einstweiligen Anordnungen bleiben deshalb ohne Erfolg, weil das Bürgerbegehren
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infolge einer fehlerhaften Angabe der Vertreter unzulässig ist (zu 2.). Damit ist hier
unerheblich, ob der in dem Bürgerbegehren enthaltene Kostendeckungsvorschlag den
inhaltlichen Anforderungen des § 26 Abs. 2 S. 1 Gemeindeordnung NRW (GemO)
genügt, wenn er einen Deckungsvorschlag ohne Angabe von Zahlen allein plakativ
umschreibt.
Vgl. zu den inhaltlichen Anforderungen nach dem nordrhein - westfälischen Landesrecht
z. B. OVG NRW, Urteil vom 28. Januar 2003 - 15 A 203/02 - NWVBl. 2003, 312; Klenke,
NWVBl. 2002, 45, 48; Ritgen, NWVBl. 2003, 87, 91
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1. Wenn die „Vertretungsmacht" des Herrn L. fortwirkt, ist die Antragstellerin nicht allein
prozessführungsbefugt.
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Die Antragstellerin hat ihren Antrag auf vorläufigen Rechtschutz allein gestellt. Ein an
das Gericht gerichteter Antrag oder auch nur eine Genehmigungserklärung des Herrn L.
liegen nicht vor, obwohl auch Herr L. zum Vertreter derjenigen Bürgerinnen und Bürger
bestimmt ist, die mit ihrer Eintragung in die Unterschriftenliste ihre Unterstützung des
Bürgerbegehrens dokumentierten.
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Vgl. OVG NRW, Urteil vom 15. Februar 2000 - 15 A 552/97 -, OVGE 48, 118 = NWVBl.
2000, 375 = NVwZ-RR 2001, 49 = VR 2002, 247
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Auf Seiten „des Bürgerbehrens" sind „nur die Vertreter" beteiligt (§ 26 Abs. 2 S. 2
GemO). Der oder die Vertreter treten zwar im eigenen Namen auf. Auch wenn die
Vertreter eines Bürgerbegehrens damit die von ihnen behaupteten Rechte im eigenen
Namen geltend machen, ist ihre Prozessführungsbefugnis, also der Umfang der
„Vertretungsmacht", nicht umfassend und allein von ihrem Willen abhängig. Sie ist durch
das aus § 26 GemO folgende zwingende Recht beschränkt, das nicht zur Disposition
der Beteiligten steht. So können die Vertreter des Bürgerbegehrens als Vertreter z. B.
nicht durch Verhandlungen eine andere als die nach einem Bürgerbegehren beantragte
Entscheidung erwirken.
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OVG NRW, Urteil vom 25. September 2001 - 15 A 2445/97 -, NWVBl. 2002, 110
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Sie verfolgen als Vertreter eines Bürgerbegehrens nicht eigene Interessen; sie vertreten
ausschließlich die Interessen der Unterzeichner des Bürgerbegehrens ähnlich einem
Prozessstandschafter. Angesichts der ausdrücklichen Vorgabe des Gesetzgebers aus §
26 Abs. 6 S. 2 GemO, die nachträglich mit Gesetz vom 20. März 1996 (GV. NRW. S.
124, 132) eingefügt wurde, ist der Begriff des Vertreters nicht rechtstechnisch, sondern
materiell zu verstehen. Anders als bei einer Vertretung im Sinne des § 164 BGB sind die
„Vertretenen", also die Unterzeichner des Bürgerbegehrens, ausgeschlossen, selbst
eigene Rechte geltend zu machen. Alle Verfahrensrechte sind bei den Vertretern
konzentriert.
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Vgl. OVG NRW, Urteil vom 09. Dezember 1997 - 15 A 974/97 -, NWVBl. 1998, 273 =
NVwZ-RR 1999, 136 = DVBl. 1998, 785 = EStT NW 1998, 509 = StGRat 1998, 153
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Die damit maßgeblichen Vorgaben des § 26 GemO bestimmen nach der
Rechtsauffassung der Kammer eine Art Gesamtprozessstandschaft im materiellen Sinne
einer Gesamtvertretung, wenn in einem Bürgerbegehren mehr als ein Vertreter benannt
sind.
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Ebenso VG Köln, Urteil vom 31. Mai 1999 - 4 K 7677/96 -, NWVBl. 2000, 155
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Nach dem Wortlaut des § 26 Abs. 6 S. 2 GemO können „nur d i e Vertreter des
Bürgerbegehrens nach Absatz 2 Satz 2" Widerspruch gegen eine ablehnende
Entscheidung des Rats einlegen. Die Verwendung des Plural spricht dafür, dass eine
gemeinschaftliche Vertretung gewollt ist. Der Gesetzgeber hat nicht die mögliche
Formulierung gewählt, dass „ein Vertreter des Bürgerbegehrens nach Absatz 2 Satz 2"
und damit von mehreren Vertretern jeder Vertreter selbstständig das Verfahrensrecht
geltend machen kann.
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Der von dem Gesetzgeber verfolgte Zweck einer Konzentration spricht ebenfalls dafür,
dass die Vertreter gemeinsam handeln sollen. Ebenso wie für den zu vermeidenden
Fall, dass einzelne Unterzeichner die Verfahrensrechte geltend machen wollten, ist eine
Konzentration auch für den Fall sinnvoll, dass eine Mehrheit von Vertretern auftreten.
Andernfalls könnte sich eine Minderheit der Vertreter gegenüber
Mehrheitsentscheidungen durchsetzen.
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Dies entspricht auch den üblichen organschaftlichen Grundsätzen der Willensbildung.
Die Vertreter nach § 26 Abs. 2 S. 2 GemO treten als eine Art Prozessstandschafter für
einen Teil eines Gemeindeorgans auf, nämlich für einen Teil der Bürgerschaft. Bei
Organen, die aus mehreren Teilen zusammengesetzt sind, ist die Willensbildung
regelmäßig nach Mehrheit organisiert.
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Vgl. z. B. §§ 50 Abs. 1 S. 1 GemO, 35 Abs. 1 S. 1 Kreisordnung NRW; vgl. auch §§ 28
Abs. 1, 32 Abs. 1 S. 3, 86 S. 1, 709, 714, 744 BGB
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Schließlich spricht auch die Beschränkung auf das Maximum von drei Vertretern für eine
Gesamtvollmacht. Die Beschränkung ist wegen des Mangels der Möglichkeit einer
Korrespondenz zwischen Gemeinde und Unterzeichnern des Bürgerbegehrens
geschaffen.
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Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 20. Mai 2003 - 15 E 581/03 - unter Hinweis auf die
amtliche Begründung des Gesetzentwurfs, LT-Drucksache 11/4983, S. 8
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Dieses Interesse setzt eine Gesamtvertretung voraus. Wären die im Bürgerbegehren
benannten Vertreter Einzelvertreter und damit Einzelempfangsbevollmächtigte,
bestände kein Interesse für eine korrespondenzbedingte Beschränkung der Zahl der
Vertreter, weil die Gemeinde ihre Mitteilungen und Entscheidungen dann mit Wirkung
gegenüber allen auch nur gegenüber einem von mehreren Vertretern abgeben könnte
(entsprechend §§ 130, 164 Abs. 3 BGB). Die Bestimmung der geringen Zahl von bis zu
drei Vertretern spricht daher dafür, dass die Gemeinde mit allen (Gesamt-)Vertretern
korrespondieren soll.
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Aus der Gesetzesbegründung folgt nichts Gegenteiliges, das für eine Einzelvertretung
sprechen könnte.
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Vgl. den Gesetzentwurf der Landesregierung vom 15. November 1995 (LT- Drucksache
12/402) und im Einzelnen VG Köln, Urteil vom 31. Mai 1999 - 4 K 7677/96 -
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Wenn die Vertreterstellung des Herrn L. nicht erloschen sein sollte, obwohl er seinen
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Wohnsitz verlegt hat und nicht mehr Bürger der Stadt Ahlen ist,
vgl. etwa den unterschiedlichen Wortlaut in § 26 Abs. 2 S. 2 GemO einerseits
(„Personen") und in § 26 Abs. 1 GemO andererseits („Bürger")
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wäre er weiterhin Vertreter des Bürgerbegehrens; er müsste auf der Grundlage der o. a.
Vorgaben an der Geltendmachung der Verfahrensrechte wie auch immer mitwirken, weil
ihm als einem von zwei Vertretern die Hälfte der Entscheidungsbefugnis zusteht. Der
Antragstellerin kann mit ihren Entscheidungen daher kein Übergewicht im Sinne einer
Stimmenmehrheit zukommen. Wie oben angeführt, wirkt Herr L. am gerichtlichen
Verfahren aber nicht mit.
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Wenn jedoch mit der Verlegung seines Wohnsitzes seine Vertretereigenschaft
erloschen sein sollte, dürfte die Antragstellerin zwar allein prozessführungsbefugt sein.
Eine Ersatzbenennung wäre wohl nicht erforderlich, da die Mindestvoraussetzungen
des § 26 Abs. 2 GemO gewahrt blieben. Aber auch dies braucht die Kammer
letztendlich aus den Gründen zu 2. nicht zu entscheiden.
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2. Wenn die Antragstellerin mit dem Umzug des Herrn L. alleinige Vertreterin des
Bürgerbegehrens geworden ist, wären die Anträge auf Erlass der einstweiligen
Anordnungen unbegründet, weil das Bürgerbegehren dann infolge seines Inhalts
unzulässig wäre. In diesem Fall enthielte das Bürgerbegehren nicht zutreffende
Angaben, die Einfluss auf die Willensbildung haben.
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Das Erlöschen der Vertretereigenschaft des Herrn L. wäre nicht erst nach dem 30.
Oktober 2003 und damit nach der Einreichung des Bürgerbegehrens bei dem
Antragsgegner zu 2., sondern mit dem 15. September 2003 und damit während des
Verlaufs der Willensbildung eingetreten. Über den Zeitraum von sechs Wochen wären
Unterschriften von Bürgerinnen und Bürgern der Stadt Ahlen unter einer Erklärung
geleistet worden, die wegen der Angabe der Vertreter teilweise inhaltlich falsch
(geworden) wäre.
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War die Angabe der Vertreter des Bürgerbegehrens inhaltlich teilweise falsch, wäre das
Bürgergebehren unzulässig, ohne dass es darauf ankommt, ob dem eine Absicht der
Initiatoren zu Grunde lag oder nicht.
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Für den Fall der nicht zutreffenden Begründung eines Bürgerbegehrens OVG NRW,
Urteil vom 23. April 2002 - 15 A 5594/00 -, DÖV 2002, 961 = NVwZ-RR 2002, 766
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Ebenso wie die Begründung ist die Benennung der Vertreterpersonen zwingender Inhalt
eines Bürgerbegehrens (§ 26 Abs. 2 S. 2 GemO). Mit den Anforderungen des § 26 Abs.
2 GemO wird das Ziel verfolgt, einer Verfälschung des Bürgerwillens vorzubeugen.
Diese Funktion erfüllt - ebenso wie die Begründung - auch die notwendige Benennung
der Vertreter nur, wenn die Angabe zutrifft. Die vom Gesetzgeber geforderte Benennung
der Vertreter ist nicht „nur" eine formale Verfahrensvoraussetzung. Die Benennung der
Personen nimmt - ebenso wie die Begründung - (zumindest auch) teil an der
Willensbildung der Bürgerschaft. Das Oberverwaltungsgericht NRW hat dazu
ausgeführt:
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„… Der Wille der erforderlichen Zahl von Bürgern, an Stelle des Rates über eine
bestimmte Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft zu entscheiden, wird maßgeblich
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auch dadurch mitbeeinflusst, durch welche Personen das Bürgerbegehren vertreten
werden soll. Vielfach wird ein Bürgerbegehren gerade deshalb unterschrieben, weil es
von bestimmten Personen - und nicht von anderen - vertreten wird.
VG Köln, Urteil vom 31.5.1999 - 4 K 7677/96 -, S. 9 des Urteilsabdrucks; VG Ansbach,
Beschluss vom 26. März 1996 - AN 4 E 96.00499 -, BayVBl. 1996, 411.
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Hängt aber der Entschluss der Bürger, ob sie ein bestimmtes sachliches Begehren
einem Bürgerentscheid zuführen wollen, nicht nur von sachlichen Erwägungen, sondern
auch von den Persönlichkeiten ab, die sich dieses sachliche Begehren als Vertreter des
Bürgerbegehrens zu Eigen machen sollen, so erscheint es zu deren ausreichender
verfahrensrechtlicher Legitimation geboten, dass jedem einzelnen Bürger zweifelsfrei
vor Augen geführt wird, wer diese Personen sind. …"
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OVG NRW, Urteil vom 15. Februar 2000 - 15 A 552/97 -, a.a.O.; ebenso Ritgen, NWVBl.
2003 S. 87, 91
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Dieser Bewertung schließt sich die Kammer an.
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Die Frage, ob und ggf. wie während des Verlaufs eines Bürgerbegehrens die Vertretung
verändert werden kann, ist für die hier zu treffende Entscheidung nicht erheblich. Die
Initiatoren und die Unterzeichner des Bürgerbegehrens werden allein an ihrer
Entscheidung festgehalten, die Entscheidungsbefugnis (auch) auf Herrn L. übertragen
zu haben (§ 26 Abs. 2 S. 2 GemO). Durch das Verhalten des Herrn L. ist dokumentiert,
dass er - aus welchen Gründen auch immer - kein weiteres Interesse an dem
Bürgerbegehren hat und es im eigenen Namen nicht fortführen will.
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II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung
beruht auf den §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 GKG und legt entsprechend der ständigen
Streitwertpraxis des Oberverwaltungsgerichts NRW in Verfahren der vorliegenden Art,
der die Kammer folgt, das Doppelte des Auffangstreitwertes und - wegen der
Vorläufigkeit der begehrten Anordnung - davon die Hälfte als angemessen zu Grunde.
Die Kammer hat davon abgesehen, den Streitwert wegen der Mehrzahl der Anträge zu
erhöhen, weil alle Anträge auf ein identisches Ziel gerichtet sind.
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