Urteil des VG Münster vom 05.09.2000

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Verwaltungsgericht Münster, 9 K 1473/00
Datum:
05.09.2000
Gericht:
Verwaltungsgericht Münster
Spruchkörper:
9. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
9 K 1473/00
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
T a t b e s t a n d
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Gegenstand des Verfahrens ist die Frage, ob der Beklagte gemäß § 89 d SGB VIII
vepflichtet ist, die Kosten für die Hilfemaßnahme betreffend die am 0 in Äthiopien
geborene b, heute b in der Zeit vom 0 bis 0 zu erstatten.
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Die Hilfeempfängerin reiste am 23. August 1991 ohne Begleitung eines
Erziehungsberechtigten über den Flughafen Frankfurt am Main in die Bundesrepublik
Deutschland ein. Sie wurde von Mitarbeitern der Clearingstelle des Jugendamtes der
Stadt Frankfurt am Main am 0 im Aufnahmeheim für unbegleitete minderjährige
Flüchtlinge der Arbeiterwohlfahrt I in Kronberg untergebracht.
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Durch Beschluss des Amtsgerichts Bad Vilbel wurde das Jugendamt der Stadt Frankfurt
zum Vormund bestellt. Nachdem die Hilfeempfängerin einen Asylantrag gestellt hatte,
wurde sie durch Bescheid der zentralen Aufnahmestelle des Landes Hessen vom 0 der
Stadt Frankfurt am Main zugewiesen. Daraufhin stellte die hessische
Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge Schwalbach die bis dahin erfolgte
Kostenerstattung der monatlichen Heim- und Pflegekosten mit Wirkung vom 0 ein. Ab
diesem Zeitpunkt war Kostenträger gegenüber dem Heim das Jugendamt der Stadt
Frankfurt.
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Am 15. Oktober 1991 und am 6. Februar 1992 erfolgten umfassende
Bestandsaufnahmen unter Befragung der Hilfeempfängerin. Am 20. Dezember 1991
wurde die Hilfeempfängerin in das Jugendwohnheim der Arbeiterwohlfahrt in L verlegt,
wo sie seitdem lebte. In einem Entwicklungsbericht des Heimes vom 10. Juni 1992 wird
die Hilfeempfängerin als lebensfrohes und durchsetzungsfähiges Mädchen
beschrieben, die ihre anfallenden Dienste in der Wohngruppe gewissenhaft und
ordentlich erledigt, im Vergleich zu den anderen drei Mädchen der Wohngruppe jedoch
noch ein bisschen unselbstständig und nicht so selbstbewusst sei. In einem weiteren
Entwicklungsbericht vom 5. März 1993 wird nicht von Entwicklungsverzögerungen
berichtet. Probleme bereitet der Hilfeempfängerin danach das Erlernen der deutschen
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Sprache und damit zusammenhängend ihre berufliche Ausbildung. Als wichtigstes Ziel
der Erziehungsplanung wird der Erwerb eines Hauptschulabschlusses beschrieben. In
einem weiteren Entwicklungsbericht vom 31. Mai 1993 wird berichtet, dass die
Hilfeempfängerin nun alleine in einem Zimmer lebe und nach anfänglichen Problemen
damit inzwischen ihren ganz privaten Bereich genieße und sich sehr wohl fühle. Bei der
Erfüllung der hausinternen Pflichten (Küchendienst, Tischdienst, Sauberkeit) gebe es
keine Probleme. Die Hilfeempfängerin gestalte ihre Freizeit selbstständig und pflege
Kontakt zu ihrem Onkel in T und zu einer in G lebenden Cousine. Weiterhin sei
wichtigstes Ziel, die Hilfeempfängerin bei der sprachlichen und schulischen
Entwicklung zu fördern und an einer realistischen Selbsteinschätzung zu arbeiten.
Nachdem die Hilfeempfängerin auf Grund einer Änderung der Zuweisungsentscheidung
durch den Regierungspräsidenten Darmstadt vom 0 dem Landkreis Wetterau
zugewiesen wurde, gab die Klägerin gegenüber der AWO am 0 eine Kostenzusage ab
dem 0 ab. Mit Wirkung vom 0 übernahm das Jugendamt der Klägerin sodann die
Vormundschaft für die Hilfeempfängerin.
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Im Hinblick auf die am 0 eintretende Volljährigkeit der Hilfeempfängerin beantragte
diese am 10. November 1993 die Fortsetzung der Maßnahme über ihre Volljährigkeit
hinaus. Hierzu fertigte das Jugendamt der Klägerin einen Vermerk, in dem die
Hilfeempfängerin als junge Frau mit eventueller Minderbegabung und
Antriebsschwäche geschildert wird, deren Bemühungen um einen Hauptschulabschluss
fraglich seien. Der Antrag auf Hilfe wurde zunächst befristet bis Juni 1994 befürwortet.
Ebenso befürwortete das Heim die Fortsetzung der Jugendhilfemaßnahme und
begründete dies damit, dass es für notwendig erachtet werde, dass die Hilfeempfängerin
eine Hilfe zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung erhalte. Die Hilfeempfängerin
müsse weiterhin bei ihren Hausaufgaben und dem zusätzlichen Nachhilfeunterricht in
Deutsch unterstützt werden. Für die Hilfeempfängerin sei es sehr wichtig, den
Hauptschulabschluss zu erhalten und deshalb sei es wichtig, dass sich jemand um die
Ausbildung kümmere. Außerdem sei für die Hilfeempfängerin eine konsequente
Anleitung im Umgang mit Behörde, auch im Hinblick auf ihr Asylverfahren, von zentraler
Bedeutung. Das Protokoll über das Hilfeplangespräch am 17. Dezember 1993 weist
unter der Problembeschreibung auf Schul- und Sprachschwierigkeiten hin und hält zur
Erreichen des Hauptschulabschlusses die Weitergewährung der Hilfe nach § 41 KJHG
zunächst befristet bis Juli 1994 für erforderlich. Daraufhin wurde die Hilfe gemäß § 41
SGB VIII weiter gewährt. Ein entsprechender Bescheid erging unter dem 4. Februar
1994. Im Januar bzw. März 1994 äußerte die Hilfeempfängerin den Wunsch, ihre Ferien
nicht mehr mit der Gruppe, sondern eigenständig (mit ihrem Freund) zu verbringen. Am
11. Juli 1994 schloss sie einen Vertrag zur Ausbildung als Hauswirtschafterin ab und
zog am 1. November 1994 in eine eigene Wohnung. Im Hilfeplan vom 27. September
1994 wird ausgeführt, dass sich die Deutschkenntnisse der Hilfeempfängerin in den
zurückliegenden Monaten und Wochen in erstaunlichem Maße verbessert hätten und
die Hilfeempfängerin in allen Belangen ihrer Lebensbewältigung relativ selbstständig
sei. Nach dem Umzug in eine eigene Wohnung wurde die Hilfe für junge Volljährige in
Form des betreuten Wohnens weiter gewährt. Am 0 heiratete die Hilfeempfängerin,
ohne dies dem Kläger jedoch mitzuteilen. Nachdem dieser davon am 21. März 1996
Kenntnis erhielt, stellte er die Jugendhilfe rückwirkend zum 18. Oktober 1995 ein.
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Nachdem das Bundesverwaltungsamt den Beklagten durch Verfügung vom 13.
Dezember 1994 zum überörtlichen Träger der Jugendhilfe bestimmt hatte, machte der
Kläger gegenüber dem Beklagten mit Schreiben vom 15. Dezember 1994 einen
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Anspruch gemäß § 89 d SGB VIII auf Erstattung der Kosten der Hilfemaßnahme für die
Zeit ab dem 1. Dezember 1994 geltend. Mit Schreiben vom 2. Februar 1995 lehnte der
Beklagte diesen Antrag mit der Begründung ab, dass ein Kostenerstattungsanspruch
gemäß § 89 d SGB VIII nicht gegeben sei, da das Asylverfahrensgesetz vorrangig
Anwendung finde. Der Kläger hat am 0 Klage erhoben und beantragt sinngemäß,
den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger die für B gemäß § 41 SGB VIII entstandenen
Kosten für die Zeit vom 1. Dezember 1994 bis zum 18. Oktober 1995 zu erstatten.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung führt er aus, der Kläger habe keinen Anspruch auf Kostenerstattung, da
der Hilfeempfängerin nicht innerhalb eines Monats nach Einreise Jugendhilfe gewährt
worden sei. Vielmehr seien die Kosten für die Unterbringung von der hessischen
Gemeinschaftsunterkunft Schwalbach übernommen worden. Damit seien nicht nur die
„Zahlungsstrukturen", sondern auch die „Entscheidungsstrukturen" verändert worden.
Das Jugendamt der Stadt Frankfurt habe weder über eine Inobhutnahme gemäß § 42
SGB VIII entschieden, noch eine entsprechende Leistung erbracht.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten
wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der vorgelegten Verwaltungsvorgänge (3 Hefte)
ergänzend Bezug genommen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
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Die Klage ist als allgemeine Leistungsklage zulässig jedoch nicht begründet. Dem
Kläger steht der geltend gemachte Erstattungsanspruch nicht zu.
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Als Rechtsgrundlage kommt allein § 89 d SGB VIII in der Fassung des 1. Gesetzes zur
Änderung des 8. Buches Sozialgesetzbuch vom 16. Februar 1993 (BGBl. I S. 239) in
Betracht. Die durch das 2. Gesetz zur Änderung des 11. Buches Sozialgesetzbuch
(SGB XI) und anderer Gesetze vom 29. Mai 1998 (BGBl. I S. 1188) in Kraft getretene
Neufassung des § 89 d SGB VIII ist für den streitbefangenen Erstattungsanspruch nicht
einschlägig. Nach der in Art. 2 Nr. 11 des Änderungsgesetzes enthaltenen
Übergangsbestimmung sind Kosten, für deren Erstattung das Bundesverwaltungsamt
vor dem 1. Juli 1998 einen erstattungspflichtigen überörtlichen Träger bestimmt hat,
nach den bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Vorschriften zu erstatten. In dem
vorliegenden Fall ist die Bestimmung des Beklagten zum erstattungspflichtigen
überörtlichen Träger vor dem 1. Juli 1998 erfolgt.
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Gemäß § 89 d SGB VIII in der hier anzuwendenden Fassung setzt der dort geregelte
Erstattungsanspruch voraus, dass einem jungen Menschen, der im Inland keinen
gewöhnlichen Aufenthalt hat, Jugendhilfe gewährt wird und dafür Kosten aufgewendet
werden. Im Übrigen muss die Erfüllung der Aufgaben gemäß § 89 f Abs. 1 SGB VIII den
Vorschriften des SGB VIII entsprechen. Diese letztgenannte Voraussetzung ist hier nicht
erfüllt. Die im fraglichen Zeitraum geleistete Hilfe stellt angesichts der Volljährigkeit der
Hilfeempfängerin eine Hilfeleistung an eine junge Volljährige dar, ohne dass die
Voraussetzungen der insoweit einschlägigen Vorschrift des § 41 SGB VIII gegeben
sind. Gemäß § 41 Abs. 1 SGB VIII soll einem jungen Volljährigen Hilfe für die
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Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung gewährt
werden, wenn und so lange die Hilfe aufgrund der individuellen Situation des jungen
Menschen notwendig ist. Defizite in der Persönlichkeitsentwicklung der
Hilfeempfängerin und ihrer Fähigkeit zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung
sind jedoch nicht feststellbar. Vielmehr ergibt sich aus den Berichten des Heimes und
den Hilfeplanprotokollen, dass die Probleme der Hilfeempfängerin mit dem Erlernen der
deutschen Sprache und dem Erreichen eines Schulabschlusses bzw. einer
Berufsausbildung bei der Befürwortung weiterer Jugendhilfe im Vordergrund standen. In
keinem dieser Berichte, Vermerke oder Protokolle wird von Defiziten in der
Persönlichkeitsentwicklung berichtet. Soweit die Stellungnahme der betreuenden
Stellen vom 10. November 1993 die Fortsetzung der Jugendhilfemaßnahme befürwortet
und für notwendig erachtet, dass die Hilfeempfängerin Hilfe zu einer
eigenverantwortlichen Lebensführung und konsequente Anleitung im Umgang mit
Behörde erhält, ist diese Befürwortung zur Annahme eines entsprechenden Defizits bei
der Hilfeempfängerin nicht ausreichend, weil auch in dieser Stellungnahme nicht von
entsprechenden Defiziten und Problemen der Hilfeempfängerin berichtet wird. Vielmehr
heißt es in den Berichten, dass die Hilfeempfängerin die ihr übertragenen Aufgaben
ordentlich und pflichtbewusst erledigt und sie auch das Wohnen in einem eigenen
Zimmer genieße. Auch hat die Hilfeempfängerin selbst durch ihren Anfang 1994
geäußerten Wunsch, nicht mit der Gruppe, sondern allein (mit ihrem Freund) Ferien zu
machen, zum Ausdruck gebracht, dass sie sich dazu selbstständig genug fühlte. Hinzu
kommt, dass die Hilfeempfängerin über ihre Kontakte im Heim hinaus regelmäßig
Kontakt zu einem Onkel in T und einer Cousine in G hatte. Auch diese sozialen
Kontakte der Hilfeempfängerin begünstigten in ihrer Gesamtheit einen Übergang in die
Selbstständigkeit nach Vollendung des 18. Lebensjahres.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 VwGO.
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