Urteil des VG Münster vom 10.08.2005

VG Münster: eheliche wohnung, elterliche sorge, treu und glauben, jugendamt, gewöhnlicher aufenthalt, anfang, haftanstalt, form, wechsel, unterbringung

Verwaltungsgericht Münster, 9 K 5575/03
Datum:
10.08.2005
Gericht:
Verwaltungsgericht Münster
Spruchkörper:
9. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
9 K 5575/03
Tenor:
Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 6.986,54 Euro nebst 8 %
Zinsen über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit der Klage für den
Zeitraum vom 01. September 2001 bis zum 31. August 2002 betreffend
die Hilfemaßnahme T. S. zu zahlen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte
darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung
abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in Höhe des
beizutreibenden Betrages leistet.
T a t b e s t a n d
1
Die Klägerin begehrt vom Beklagten Erstattung der von ihr aufgewandten
Jugendhilfekosten betreffend das Kind T. S. für den Zeitraum vom 01. September 2001
bis 31. August 2002 in Höhe von 6.986,54 Euro.
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Der 1997 geborene T. S. (im Folgenden: Hilfeempfänger) ist das eheliche Kind der Frau
L. S. und des Herrn N. S. . Die Kindeseltern wohnten mit ihrem Kind gemeinsam in
Stadtlohn. Nachdem der Hilfeempfänger am 29. Mai 1997 in das St.-Vincenz-Hospital in
Coesfeld eingeliefert worden war, entzog das Amtsgericht Ahaus wegen des Verdachts
auf grobe Kindesmisshandlung mit Beschluss vom 04. Juni 1997 den Eltern vorläufig
die elterliche Sorge und übertrug diese auf das Jugendamt des Beklagten. Nach
Entlassung aus dem Krankenhaus wurde der Hilfeempfänger in einer
Bereitschaftspflegefamilie in Heek untergebracht. In der Zeit vom 19. Februar 1998 bis
18. Juni 1998 gewährte der Beklagte der Kindesmutter Hilfe gemäß § 19 SGB VIII in
Form der Unterbringung in der Mutter-Kind-Einrichtung "Gerburgisheim" in Bocholt.
Während dieser Zeit war der Hilfeempfänger gemeinsam mit der Kindesmutter
untergebracht. Daraufhin änderte das Amtsgericht Ahaus mit Beschluss vom 25. März
1998 den Beschluss vom 04. Juni 1997 ab und übertrug die elterliche Sorge einstweilen
bis zur Überprüfung der Entscheidung auf die Kindesmutter zurück, mit Ausnahme des
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Aufenthaltsbestimmungsrechts, welches dem Jugendamt des Kreises Borken als
Pfleger übertragen blieb.
Nachdem die Hilfeplanung im Mai 1998 die schrittweise Rückführung in den eigenen
Haushalt befürwortete, kehrte die Kindesmutter mit dem Hilfeempfänger am 18. Juni
1998 in die bisherige eheliche Wohnung zurück. Der Kindesvater hielt sich zu diesem
Zeitpunkt dort nicht auf, da er auf Grund des Urteils des Schöffengerichts Ahaus vom 24.
Oktober 1997 wegen Kindesmisshandlung zu drei Jahren Haft verurteilt und sogleich
inhaftiert worden war. Aufgrund seiner Berufung wurde er dann durch Urteil des
Landgerichts Münster vom 10. Februar 1998 zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 6
Monaten verurteilt. Im Rahmen des Maßregelvollzuges machte er eine Therapie.
Während der Haft wurde er regelmäßig von der Kindesmutter zunächst allein und später
gemeinsam mit dem Hilfeempfänger besucht. Ab Juli 1998 verbrachte der Kindesvater
im Abstand von drei Wochen die Wochenenden im Rahmen von Hafturlaub bei seiner
Familie in der ehelichen Wohnung.
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Seit der Rückkehr der Kindesmutter und des Hilfeempfängers in die eheliche Wohnung
gewährte der Beklagte Hilfe zur Erziehung gemäß §§ 27, 30 SGB VIII im Umfang von 10
bis 15 Stunden pro Woche.
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Anfang Februar 1999 verließ die Kindesmutter mit dem Hilfeempfänger nach einem
Streit mit ihrem Ehemann die Wohnung und fuhr nach Berlin. Nachdem das Jugendamt
des Beklagten davon Kenntnis erhielt, erreichte es, dass die Kindesmutter ihren Sohn
am 12. Februar 1999 einer Mitarbeiterin des Jugendamtes übergab und einen Antrag
gemäß §§ 27, 33 SGB VIII stellte. Der Hilfeempfänger wurde am selben Tag wieder in
der Bereitschaftspflegefamilie untergebracht. Seitdem gewährte der Beklagte Hilfe
gemäß §§ 27, 33 SGB VIII in Form der Vollzeitpflege, zunächst in einer
Bereitschaftspflegefamilie, die später in ein Dauerpflegeverhältnis umgewandelt wurde.
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Ab dem 01. Mai 1999 übernahm das Jugendamt des Bezirksamtes Friedrichshain in
Berlin den Hilfefall. Am 13. September 1999 verzog die Kindesmutter in den Bereich der
Klägerin. Der Bürgermeister der Klägerin übernahm den Hilfefall zum 01. Februar 2000.
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Mit Beschluss des Amtsgerichts Ahaus vom 09. November 1999 wurde den
Kindeseltern die elterliche Sorge entzogen und auf das Jugendamt des Beklagten als
Vormund übertragen. Der Vormund stellte am 16. Februar 2000 einen Antrag auf
Weitergewährung der Hilfe zur Erziehung in der Pflegefamilie Wahl, dem der
Bürgermeister der Klägerin mit Bescheid vom 25. Februar 2000 stattgab.
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Mit Schreiben vom 12. November 2001 bat die Klägerin den Beklagten um Übernahme
des Hilfefalles in seine Zuständigkeit gemäß § 86 Abs. 6 SGB VIII. Zur Begründung
wies sie darauf hin, dass der Hilfeempfänger seit mehr als zwei Jahren in einem auf
Dauer angelegten Pflegeverhältnis bei den Pflegeeltern Wahl lebe und deshalb die
Zuständigkeit wechsele.
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Außerdem machte die Klägerin einen Kostenerstattungsanspruch seit dem 01.
September 2001 geltend. Die Kindesmutter habe ihre Wohnung in Lemgo Anfang
September 2001 aufgegeben und sei amtlich nach unbekannt abgemeldet worden. Die
Bewährungshelferin, Frau B. U. , teilte dem Jugendamt der Klägerin unter dem 27. Juni
2002 mit, die Kindesmutter sei am 02. Oktober 2001 inhaftiert worden und befinde sich
seither in Haft. Anfang September 2001 habe sie ihre Wohnung in Lemgo verloren und
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sei danach obdachlos gewesen bzw. habe sich bei wechselnden Bekannten im Raum
Lemgo bzw. Barntrup aufgehalten. Die Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Brackwede I
bestätigte, dass die Kindesmutter am 23. Oktober 2001 ihre Strafe angetreten hatte und
Strafzeitende der 28. September 2003 war.
Mit Schreiben vom 22. August 2002 teilte der Beklagte der Klägerin mit, dass er den
Hilfefall ab dem 01. September 2002 übernehme und den Kostenerstattungsanspruch
ab dem 01. September 2001 anerkenne.
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Mit Schreiben vom 14. Januar 2003 widerrief der Beklagte sein Kostenanerkenntnis und
beantragte seinerseits Kostenerstattung gemäß § 89 a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII. Zur
Begründung führte er aus, dass sich seine Zuständigkeit für den Hilfefall ursprünglich
gemäß § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ergeben habe, da sowohl die Kindesmutter als auch
der Kindesvater zu Beginn der Hilfe am 18. Juni 1998 ihren gewöhnlichen Aufenthalt in
Stadtlohn, C.---------straße 0 gehabt hätten. Auf Grund des Umzugs der
personensorgeberechtigten Mutter nach Berlin und sodann nach Lemgo sei die
Zuständigkeit gemäß § 86 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII gewandert. Nachdem der
Kindesmutter durch Beschluss vom 09. November 1999 das Sorgerecht entzogen
worden sei, sei die Zuständigkeit gemäß § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII beim Jugendamt
der Klägerin geblieben. Die Fallübernahme sei gemäß § 86 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII
erfolgt. Deshalb stehe ihm für die Dauer der Hilfegewährung Kostenerstattung gemäß §
89 a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII zu.
12
Die Klägerin vertrat demgegenüber mit Schriftsatz vom 17. Februar 2003 die Ansicht,
dass der Hilfebeginn am 12. Februar 1999 anzusetzen sei. Zu diesem Zeitpunkt habe
die Kindesmutter ihren Wohnsitz in Berlin gehabt, sodass sich die Zuständigkeit nach §
86 Abs. 2 SGB VIII gerichtet habe. Bei dem anschließenden Wechsel des gewöhnlichen
Aufenthaltes sei die Zuständigkeit gewandert. Selbst wenn als Hilfebeginn der 18. Juni
1998 anzunehmen sei und die Zuständigkeit sich aus § 86 Abs. 1 SGB VIII ergeben
habe, ändere dies nichts am Ergebnis. Gleichwohl hätte sich nach dem Umzug der
Kindesmutter nach Berlin die Zuständigkeit dann nach § 86 Abs. 5 Satz 1 bzw. Satz 2
SGB VIII gerichtet. Da die Kindesmutter ihren gewöhnlichen Aufenthalt zum 01.
September 2001 aufgegeben habe, sei zur Beurteilung § 86 Abs. 5 Satz 3 in
Verbindung mit Abs. 4 SGB VIII heranzuziehen. Danach sei der Beklagte zuständig
geworden, da das Kind dort bei Hilfebeginn seinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt
habe.
13
Mit Schreiben vom 06. Mai 2003 vertrat der Beklagte die Auffassung, dass die
Kindesmutter mit Haftantritt am 02. Oktober 2001 ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der
Haftanstalt begründet habe, da sie vorher wohnungslos gewesen sei. Deshalb greife §
86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII und die bisherige Zuständigkeit bleibe bestehen. Dies sei -
ohne Beachtung des § 86 Abs. 6 SGB VIII - das Jugendamt der Stadt Lemgo ab
Haftantritt.
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Dagegen wandte die Klägerin mit Schriftsatz vom 10. Oktober 2003 ein, dass auch bei
Annahme eines Hilfebeginns am 18. Juni 1998 die Eltern zu diesem Zeitpunkt keinen
gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt hätten. Vielmehr sei der Kindesvater zu
diesem Zeitpunkt bereits seit 15 Monaten in Haft gewesen. Vor dem Hintergrund der
familiären Gewalttat und der schwerwiegend gestörten familiären Verhältnisse sei
davon auszugehen, dass der Kindesvater seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Stadtlohn
mit Haftantritt aufgegeben habe. So sei nicht zu erwarten gewesen, dass die Eheleute
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ihre früheren Lebensbeziehungen nach der Entlassung hätten wiederaufnehmen
wollen. Erstmalige Kontakte zwischen den Eheleuten seien im Juli 1998 erfolgt.
Die Klägerin hat am 20. Dezember 2003 die vorliegende Klage erhoben, mit der sie ihr
Begehren auf Kostenerstattung weiterverfolgt. Zur Begründung wiederholt und vertieft
sie ihre bisherigen Ausführungen und beantragt,
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den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin für den Zeitraum vom 01. September 2001
bis 31. August 2002 6.986,54 Euro nebst 8 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit
Anhängigkeit der Klage zu zahlen.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
19
Zur Begründung verweist er auf seine bisherigen Ausführungen.
20
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten
wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der vorgelegten Verwaltungsvorgänge sowie
der beigezogenen Akte des Familiengerichts - 11 F 187/98 - ergänzend Bezug
genommen.
21
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
22
Gemäß §§ 87 a Abs. 2 und 3, 101 Abs. 2 VwGO kann das Gericht durch den
Berichterstatter als Einzelrichter ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da sich die
Beteiligten mit dieser Verfahrensweise ausdrücklich einverstanden erklärt haben.
23
Die als allgemeine Leistungsklage zulässige Klage ist begründet. Der Klägerin steht der
geltend gemachte Anspruch gemäß § 89 c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII zu. Danach sind
Kosten, die ein örtlicher Träger im Rahmen seiner Verpflichtung nach § 86 c SGB VIII
aufgewendet hat, von dem örtlichen Träger zu erstatten, dessen Zuständigkeit durch den
gewöhnlichen Aufenthalt nach den §§ 86, 86 a und 86 b SGB VIII begründet wird.
24
Die Klägerin hat als bisher örtlich zuständige Trägerin Aufwendungen erbracht (1.), die
sie von dem Beklagten als nach dem Wechsel der örtlichen Zuständigkeit zuständig
gewordenen Träger ersetzt verlangen kann (2.). Die Geltendmachung dieses Anspruchs
verstößt auch nicht gegen den auch im öffentlichen Recht zu beachtenden Grundsatz
des § 242 BGB, wonach die Geltendmachung einer Forderung gegen Treu und Glauben
verstößt, wenn der Gläubiger das Geleistete zurückerstatten müsste, da dem Beklagten
gegenüber der Klägerin kein Kostenerstattungsanspruch zusteht (3.).
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1. Die Klägerin war gemäß § 86 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII bisher örtlich zuständig. Durch
den Umzug der Kindesmutter im Februar 1999 nach Berlin und sodann im September
1999 nach Lemgo kam es zu einem Auseinanderfallen der gewöhnlichen Aufenthalte
der Elternteile nach Beginn der Leistung. Gemäß § 86 Abs. 5 SGB VIII wird in diesem
Fall der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich der personensorgeberechtigte
Elternteil seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Da der Kindesmutter das
Personensorgerecht mit Beschluss des Amtsgerichts Ahaus vom 25. März 1998 mit
Ausnahme des Aufenthaltsbestimmungsrechts zurückübertragen worden war, richtete
sich die Zuständigkeit nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der Kindesmutter, so dass
26
zunächst Berlin und danach die Klägerin örtlich zuständig war.
Diese Sonderregelung des § 86 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII ist anwendbar, da sich die
Zuständigkeit zu Beginn der Maßnahme gemäß § 86 Abs. 1 SGB VIII bestimmte.
27
Beginn der Maßnahme war im vorliegenden Fall der Beginn der Hilfe zur Erziehung für
den Hilfeempfänger am 18. Juni 1998. Zu diesem Zeitpunkt endete die der Kindesmutter
zuvor gewährte Hilfe gemäß § 19 SGB VIII in Form der Unterbringung in einer
gemeinsamen Wohnform für Mütter/Väter und Kinder. Die daran anschließende
Maßnahme der Hilfe zur Erziehung stellte mit dieser zuvor gewährten Hilfe keine
einheitliche Jugendhilfemaßnahme dar. Dies zeigt sich schon daran, dass für
Leistungen nach § 19 SGB VIII Leistungsberechtigter der mit dem Kind untergebrachte
Elternteil ist, während für die Hilfe zur Erziehung beide Elternteile leistungsberechtigt
sind. Unterstützt wird diese Auffassung durch die besondere Zuständigkeitsvorschrift
des § 86 b SGB VIII für Maßnahmen nach § 19 SGB VIII.
28
Vgl. dazu VG München, Urteil vom 24. April 2002 - M 18 K 00.2155 -, JAmt 2002, 523
bis 524.
29
Dagegen stellt die am 18. Juni 1998 begonnene Hilfe zur Erziehung in Form der
Erziehungsbeistandschaft mit der daran anschließenden Hilfe zur Erziehung in Form
der Unterbringung in einer Pflegefamilie eine einheitliche Jugendhilfemaßnahme dar.
Unter Leistungen gemäß § 86 SGB VIII sind die in § 2 Abs. 2 SGB VIII genannten
Angebote und Hilfen unabhängig von der Leistungsart und der Hilfeform und deren
Wechsel während des Hilfeprozesses zu verstehen.
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Vgl. dazu Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 29. Januar 2004 - 5 C 9/03 - NVWZ-RR
2004, 584 und Urteil vom 14. November 2002 - 5 C 56.01 - BVerwGE 117, 194 - 200 =
FEVS 54, 289 - 293 = NDV-RD 203, 40 - 52; Jans/Happe/Saurbier/Maas, Kinder- und
Jugendhilferecht, Kommentar, § 86 Rnr. 9; Wiesner/Mörsberger/ Oberloskamp/Struck,
SGB VIII, Kommentar, 2. Aufl., § 86 Rnr. 2;
31
Anspruchsberechtigter war in beiden Fällen die personensorgeberechtigte Mutter. In
beiden Fällen ging es um die Förderung und Erziehung des Hilfeempfängers durch Hilfe
zur Erziehung.
32
Gemäß § 86 Abs. 1 SGB VIII ist für die Gewährung von Leistungen nach diesem Buch
der Träger örtlich zuständig, in dessen Bereich die Eltern ihren gewöhnlichen Aufenthalt
haben. Am 18. Juni 1998 hatten beide Elternteile des Hilfeempfängers ihren
gewöhnlichen Aufenthalt in Stadtlohn und damit im Zuständigkeitsbereich des
Beklagten. Nach dem auch im Jugendhilferecht anzuwendenden § 30 Absatz 3 Satz 2
SGB I hat jemand den gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen
aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur
vorübergehend verweilt. Gemäß § 37 Satz 1 SGB I gilt diese Legaldefinition mit der
Maßgabe, dass der unbestimmte Rechtsbegriff unter Berücksichtigung von Sinn und
Zweck sowie Regelungszusammenhang der jeweiligen Norm auszulegen ist.
33
Vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 31. August 1995 - 5 C 11.94 -, FEVS 46, 133,
137 und Urteil vom 18. März 1999 - 5 C 11.98 -, FEVS 49, 434, 436.
34
Hiervon ausgehend ist das Merkmal "nicht nur vorübergehend verweilt" erfüllt, wenn der
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Betreffende sich an dem Ort "bis auf Weiteres" im Sinne eines zukunftsoffenen
Verbleibs aufhält und dort den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen hat. Ein
dauerhafter oder längerer Aufenthalt ist nicht erforderlich.
Vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 18. März 1999 - a. a. O., Urteil vom 18. Mai
2000 - 5 C 27.99 -, FEVS 51, 546, 548; OVG NRW, Beschluss vom 18. März 2002 - 12 A
1681/99 - und Urteil vom 12. September 2002 - 12 A 4625/99 -.
36
Die Kindeseltern hatten ihre eheliche Wohnung sowohl nach der Inhaftierung des
Kindesvaters im Oktober 1997 als auch nach der Aufnahme der Kindesmutter im
Februar 1998 in das Gerburgisheim beibehalten. Dorthin war die Kindesmutter auch
nach Verlassen des Mutter-Kind-Heimes mit dem Hilfeempfänger im Juni 1998
zurückgekehrt. Die Inhaftierung des Kindesvaters hatte nicht zu einer Aufgabe seines
gewöhnlichen Aufenthaltes in Stadtlohn und der Begründung eines solchen in der
Haftanstalt geführt. Dies ergibt sich zum Einen aus der relativ kurzen Dauer der
Haftstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten und des damit einhergehenden absehbaren
Haftendes nach Verbüßung von 2/3 der Haftstrafe nach 20 Monaten. Außerdem hatte
der Kindesvater regelmäßige Kontakte zu seiner Ehefrau und seinem Sohn. Wie sich
aus den im Rahmen des Sorgerechtsverfahren eingeholten Gutachten ergibt, hatten
beide Elternteile, so auch der Kindesvater, trotz Labilität eine hohe Motivation, für ihr
Kind zu sorgen. Während des Maßregelvollzugs nahm der Kindesvater an in einer
Therapie teil, die bis Mai 1999 andauern sollte. Während der gesamten Zeit bis zur
Trennung im Februar 1999 hatten die Eheleute regelmäßig Kontakt. So besuchte die
Kindesmutter zunächst allein und später gemeinsam mit dem Hilfeempfänger ihren
Ehemann. Schließlich verbrachte der Kindesvater nach Rückkehr der Kindesmutter und
des Hilfeempfängers in die eheliche Wohnung ab Juli 1998 regelmäßig alle drei
Wochen die Wochenenden mit seiner Familie im Rahmen von Hafturlaub. Daraus wird
deutlich, dass die Ehe der Kindeseltern nicht als unwiederbringlich zerrüttet zu
betrachten war. Vielmehr bestanden weiterhin Kontakte und Bemühungen, die Ehe
fortzusetzen. So hat sich die Kindesmutter auch gegenüber dem Gutachter im
Sorgerechtsverfahren dahingehend geäußert, dass sie die Ehe nach Beendigung der
Haft ihres Ehemannes fortsetzen wolle. Schließlich kehrte der Kindesvater nach Auszug
der Kindesmutter aus der ehelichen Wohnung nach Beendigung des
Maßregelvollzuges und Therapie in die frühere gemeinsame eheliche Wohnung zurück,
in der er auch während der Haft gemeldet war.
37
2. Der Beklagte ist durch einen Wechsel der örtlichen Zuständigkeit wieder zuständiger
Träger geworden. Da der Hilfeempfänger seit dem 12. Februar 1999 ununterbrochen
Hilfe zur Erziehung in Form der Unterbringung in der Pflegefamilie Wahl erhielt und
dieser Aufenthalt spätestens seit Anfang 2001 auf Dauer angelegt war, greift § 86 Abs. 6
SGB VIII ein. Danach wird - abweichend von den Abs. 1 - 5 - nach Ablauf von zwei
Jahren der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich die Pflegeperson ihren
gewöhnlichen Aufenthalt hat. Dies war und ist der Beklagte. So hat der Beklagte den
Hilfefall auch ab dem 01. September 2002 übernommen.
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Gemäß § 86 c Satz 1 SGB VIII war der Bürgermeister der Klägerin als bisher örtlich
zuständiger Träger verpflichtet, die Leistung fortzusetzen, bis der nunmehr zuständig
gewordene örtliche Träger die Leistung fortsetzt. Die im Rahmen dieser Verpflichtung
entstehenden Kosten sind gemäß § 89 c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII grundsätzlich zu
erstatten. Diese Leistungspflicht besteht unabhängig davon, ob die Klägerin ihrer
gemäß § 86 c Satz 2 SGB VIII bestehenden Verpflichtung zur unverzüglichen
39
Unterrichtung nachgekommen ist. Diese Unterrichtungspflicht dient lediglich dazu, die
faktische Leistungsgewährung möglichst schnell den geänderten Zuständigkeiten
anzupassen. Eine Verletzung dieser Unterrichtungspflicht führt jedoch nicht zur
Rechtswidrigkeit der Leistung als solche.
Vgl. dazu Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 14. November 2002 - BVerwG 5 C
51.01, BVerwGE 117, 179 ff.; so auch Kunkel in LPK-SGB VIII § 86 c Rnr. 6;
Jans/Happe/Saurbier/Maas, a. a. O., § 86 c Rnr. 9; Grube in Hauck, SGB VIII, § 86 c Rnr.
7.
40
Gemäß § 89 f Abs. 1 SGB VIII sind die aufgewendeten Kosten zu erstatten, soweit die
Erfüllung der Aufgaben den Vorschriften dieses Buches entspricht. Anhaltspunkte dafür,
dass die aufgewendeten Kosten nicht der Erfüllung der Aufgaben nach dem SGB VIII
entsprachen, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
41
3.
42
Dem Beklagten steht seinerseits kein Anspruch gegen die Klägerin gemäß § 89 a SGB
VIII zu, der eine Pflicht zur alsbaldigen Rückgewähr im Sinne des § 242 BGB
begründen könnte.
43
Gemäß § 89 a SGB VIII sind die Kosten, die ein örtlicher Träger auf Grund einer
Zuständigkeit nach § 86 Abs. 6 SGB VIII aufgewendet hat, von dem örtlichen Träger zu
erstatten, der zuvor zuständig war oder gewesen wäre. Wie oben bereits ausgeführt, war
der Bürgermeister der Klägerin vor dem Zuständigkeitswechsel gemäß § 86 Abs. 6 SGB
VIII örtlich zuständiger Träger gemäß § 86 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII. Diese Zuständigkeit
und damit einhergehend die Pflicht zur Kostenerstattung ist jedoch mit Wirkung vom 01.
September 2001 entfallen. Dies ergibt sich aus § 89 a Abs. 3 SGB VIII, wonach bei
einem Wechsel des nach § 86 Abs. 1 bis 5 SGB VIII maßgeblichen gewöhnlichen
Aufenthalts der örtliche Jugendhilfeträger kostenerstattungspflichtig wird, der ohne
Anwendung des § 86 Abs. 6 SGB VIII zuständig geworden wäre. Dies war auf jeden Fall
nicht die Klägerin.
44
Durch die Aufgabe des gewöhnlichen Aufenthalts der Kindesmutter Anfang September
2001 ist der bisherige Anknüpfungspunkt des gewöhnlichen Aufenthaltes im Bereich der
Klägerin für die Zuständigkeit derselben gemäß § 86 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII entfallen.
Entgegen der Ansicht des Beklagten bleibt die bisherige Zuständigkeit auch nicht
gemäß § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII auf Dauer bestehen. Diese Regelung ,wonach es
bei der bisherigen Zuständigkeit bleibt , solange die Personensorge den Eltern
gemeinsam oder keinem Elternteil zusteht, ist nur im Zusammenhang mit der
nachträglichen Begründung verschiedener Aufenthalte der Elternteile gemäß § 86 Abs.
5 Satz 1 SGB VIII zu sehen. So hat der Verlust des Sorgerechts auf Grund des
Beschlusses des Amtsgerichts Ahaus vom 09. November 1999 für sich genommen nicht
zu einer Veränderung der Zuständigkeit geführt. Anknüpfungspunkt für die Zuständigkeit
des örtlichen Trägers sowohl nach § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII wie auch gemäß § 86
Abs. 5 SGB VIII ist gerade nicht das Personensorgerecht, sondern der gewöhnliche
Aufenthalt. Nur wenn sich nachträglich der gewöhnliche Aufenthalt der Eltern ändert, ist
ein neuer Anknüpfungspunkt erforderlich, der für den Fall der Grundzuständigkeit nach §
86 Abs. 1 SGB VIII durch § 86 Abs. 5 SGB VIII geregelt ist.
45
Vgl. dazu Sächsisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 04. Oktober 2004 - 5 B
46
770/03 -, FEVS 56, 107 - 100, Wiesner/Mörsberger/Oberloskamp/Struck, a. a. O. § 86
Rnr. 32 a; Jans/Happe/Saurbier/Maas, a. a. O. § 86 Rnr. 62; anderer Ansicht VG Leipzig,
Urteil vom 18. Dezember 2002 - 2 K 481/99 -, recherchiert in JURIS Nr.: MWRE
1041170300.
Ausgehend vom Anknüpfungspunkt des gewöhnlichen Aufenthaltes der Kindesmutter (§
86 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII, dazu oben 1.) richtet sich die Zuständigkeit gemäß § 86 Abs.
5 Satz 3 i. V. m. Abs. 4 SGB VIII bei Wegfall des gewöhnlichen Aufenthaltes der früher
personensorgeberechtigten Mutter nach dem gewöhnlichen bzw. tatsächlichen
Aufenthalt des Kindes vor Beginn der Leistung.
47
Die Kindesmutter hatte seit dem 01. September 2001 keinen gewöhnlichen Aufenthalt
mehr. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Gerichts aus der Mitteilung der
Bewährungshelferin, Frau B. U. , die dem Jugendamt der Klägerin unter dem 27. Juni
2002 mitgeteilt hat, dass die Kindesmutter Anfang September 2001 ihre Wohnung in
Lemgo verloren habe. Danach sei sie obdachlos gewesen bzw. habe sich bei
wechselnden Bekannten im Raum Lemgo und Barntrup aufgehalten. Dies wird auch
bestätigt durch den beim Sozialamt Barntrup gefertigten Vermerk. Dort hatte Herr T1.
angegeben, dass die Kindesmutter in der Zeit vom 20. September 2001 bis zu ihrer
Verhaftung am 03. Oktober 2001 vorübergehend bei ihm gewohnt habe. Da somit im
Zeitraum vom 01. September 2001 bis zum Haftantritt am 02. Oktober 2001 ein
gewöhnlicher Aufenthalt der Kindesmutter fehlte, kommt es auf den gewöhnlichen bzw.
tatsächlichen Aufenthalt des Hilfeempfängers vor Beginn der Leistung an. Diesen hatte
der Hilfeempfänger unstreitig nicht im Bereich der Zuständigkeit der Klägerin. Vielmehr
hielt er sich nach der Entlassung aus dem St.-Vinzenz-Hospital in Coesfeld zunächst
bei der Pflegefamilie Wahl in Heek und in der Zeit vom 19. Februar 1998 bis 17. Juni
1998 im Gerburgisheim in Bocholt auf. Ob es sich bei diesen Aufenthalten um
gewöhnliche Aufenthalte oder lediglich tatsächliche Aufenthalte handelt, kann letztlich
dahinstehen, da in keinem Fall die Zuständigkeit der Klägerin begründet war.
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Soweit die Kindesmutter sich seit Anfang Oktober 2001 in einer Haftanstalt befand,
bedarf es ebenfalls keiner Klärung der Frage, ob die Kindesmutter - wie der Beklagte
meint - in der Haftanstalt einen gewöhnlichen Aufenthalt begründet hat oder nicht. In
beiden Fällen steht dem Beklagten gegenüber der Klägerin kein
Kostenerstattungsanspruch gemäß § 89 a SGB VIII zu.
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In dem Fall, dass die Kindesmutter in der Haftanstalt einen gewöhnlichen Aufenthalt
begründet hat, wäre nicht die Klägerin, sondern der überörtliche Träger dem Beklagten
gemäß §§ 89 a Abs. 1, Abs. 2, 89 e SGB VIII erstattungspflichtig. Weil die Kindesmutter
in diesem Fall ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einer gemäß § 89 e SGB VIII
geschützten Einrichtung begründet hätte und ein örtlicher Träger im Zeitraum davor
(September 2001) nicht vorhanden war, wären die Kosten von dem überörtlichen Träger
zu erstatten, zu dessen Bereich der erstattungsberechtigte örtliche Träger gehört (§ 89 e
SGB VIII). Damit räumt § 89 a Abs. 2 SGB VIII dem Beklagten für diesen Fall ein
Durchgriffsrecht gegenüber dem überörtlichen Träger ein.
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Wenn die Kindesmutter dagegen in der Haftanstalt keinen gewöhnlichen Aufenthalt
begründet hat, bliebe es auch für den Zeitraum ab dem 02. Oktober 2001 bei der bereits
oben für den davor liegenden Zeitraum getroffenen Feststellung, dass die Zuständigkeit
der Klägerin gemäß § 86 Abs. 5 Satz 3 in Verbindung mit Abs. 4 SGB VIII entfallen war
und damit ihre Kostenerstattungspflicht nicht besteht.
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Der Zinsanspruch ergibt sich aus einer entsprechenden Anwendung der §§ 288, 291
BGB.
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Vgl. zur Verzinsung sozialhilferechtlicher Erstattungsansprüche: BVerwG, Urteil vom 22.
Februar 2001 - 5 C 34/00 -, DVBl 2001, 1067 ff..
53
Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 154 Abs. 1, 167, 188 Satz 2 2. Halbs. VwGO,
§§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
54
55