Urteil des VG Münster vom 11.11.2003
VG Münster: sozialhilfe, einreise, grenzübertritt, notlage, auflage, kasachstan, aufenthaltserlaubnis, absicht, bus, datum
Verwaltungsgericht Münster, 5 K 3854/00
Datum:
11.11.2003
Gericht:
Verwaltungsgericht Münster
Spruchkörper:
5. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
5 K 3854/00
Tenor:
Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die für Herrn B in der Zeit vom
3. April 1996 bis einschließlich 31. Juli 1997 aufgewendeten Kosten der
Sozialhilfe in Höhe von 5.580,63 EUR (=10.914,77 DM) zu erstatten.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten
nicht erhoben werden.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 v. H. des zu
vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
T a t b e s t a n d
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Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin die Kosten
zu erstatten, die ihr dadurch entstanden sind, dass sie dem am 15. Dezember 1974 in
Kasachstan geborenen Herrn B in der Zeit vom 3. April 1996 bis zum 31. Juli 1997 Hilfe
zum Lebensunterhalt gewährt hat.
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Der Hilfeempfänger reiste am 28. Dezember 1995 - aus Kasachstan kommend - mit dem
Bus von Polen nach Deutschland ein. Die Ehefrau des Hilfeempfängers, Frau L, lebte
bereits seit September 1995 gemeinsam mit ihren Eltern in B und betrieb ihre
Anerkennung als Spätaussiedlerin. Sie erhielt zunächst Eingliederungshilfe und von
Februar bis Mai 1996 Hilfe zum Lebensunterhalt. Die Einreise des Hilfeempfängers
erfolgte mit einem Besuchervisum, das auf den Zeitraum 22. Dezember 1995 bis 20.
Januar 1996 ausgestellt war. Dieses wurde nach Ablauf durch die Ausländerbehörde
der Klägerin zunächst bis zum 22. März 1996 verlängert. Anschließend wurde dem
Hilfeempfänger bis zum 30. April 1996 eine Duldung und am 3. April 1996 nach Vorlage
der Anerkennungsurkunde seiner Ehefrau als Spätaussiedlerin vom 26. März 1996 eine
dreijährige Aufenthaltserlaubnis erteilt.
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Seit seinem Antrag vom 3. April 1996 beim Sozialamt der Klägerin erhielt der
Hilfeempfänger ununterbrochen bis zum 31. Juli 1997 von der Klägerin laufende Hilfe
zum Lebensunterhalt. Zuvor hatte er seinen Lebensunterhalt gemeinsam mit seiner
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Ehefrau aus ihren Sozialhilfemitteln sichergestellt und mit ihr in ihrem Zimmer im
Übergangswohnheim der Klägerin gelebt. Diese Lebensumstände waren der in dem
Übergangswohnheim tätigen Sozialarbeiterin Frau M bekannt (Vermerk vom 12.
September 1996, Bl. 111 der Verwaltungsvorgänge der Klägerin).
Mit Schreiben vom 16. Juli 1996 beantragte die Klägerin beim Beklagten für den
Hilfeempfänger ab dem 3. April 1996 Kostenerstattung und bat um Abgabe eines
Kostenanerkenntnisses.
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Der Beklagte teilte mit Schreiben vom 30. Oktober 1996 mit, dass dem Antrag auf
Kostenerstattung gem. § 108 BSHG nicht entsprochen werden könne, weil der
Hilfeempfänger sich bereits seit dem 28. Dezember 1995 im Bundesgebiet aufhalte,
aber erst seit dem 3. April 1996 der Sozialhilfe bedurft habe. Mit Schreiben vom 29.
November 1996 wies die Klägerin darauf hin, dass maßgeblich für die Bemessung der
Monatsfrist gem. § 108 BSHG allein das objektive Hilfebedürfnis, nicht aber der
Zeitpunkt des Bekanntwerdens der Bedarfslage und ihre Befriedigung seien. Der
Hilfeempfänger sei bereits seit Grenzübertritt wegen fehlenden Einkommens
sozialhilfebedürftig gewesen, habe seinen Lebensunterhalt aber bis zum 2. April 1996
aus den Sozialhilfezahlungen an seine Ehefrau sichergestellt, in deren Haushalt im
Übergangswohnheim er auch gelebt habe. Dies sei dem Sozialamt der Klägerin auch
bekannt gewesen. Erst nach Ausstellung der Aufenthaltserlaubnis durch die
Ausländerbehörde habe der Hilfeempfänger Sozialhilfeleistungen beantragt.
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Der Beklagte teilte mit Schreiben vom 3. Februar 1997 mit, er verbleibe bei seiner
ablehnenden Entscheidung. Es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass eine
Hilfebedürftigkeit des Hilfeempfängers schon vor dem 3. April 1996 bekannt gewesen
sei. Wenn die Klägerin die behauptete Kenntnis schon früher gehabt habe, hätte sie
auch schon früher eine Prüfung des Hilfebedarfs und ggf. eine Sozialhilfezahlung in die
Wege leiten müssen. Sie sei jedoch erst auf Grund des Antrags des Hilfeempfängers
erstmals tätig geworden.
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Mit Schreiben vom 30. November 1999 meldete die Klägerin ihre
Sozialhilfeaufwendungen für den Hilfeempfänger in der Zeit vom 3. April 1996 bis 31.
Juli 1997 in Höhe von 10.914,77 DM zur Erstattung an. Mit Schreiben vom 29. Februar
2000 wies sie den Beklagten unter Bezugnahme auf den Beschluss des OVG Lüneburg
vom 10. Februar 1999 (4 L 4909/98) darauf hin, dass ein objektiver Hilfebedarf des
Hilfeempfängers gegeben gewesen sei und es unerheblich sei, inwieweit die
Hilfegewährung innerhalb der Monatsfrist auch tatsächlich erfolgte bzw. zuständig
gewordene Sozialhilfeträger Kenntnis von dem Bedarf erlangten.
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Mit Schreiben vom 7. April 2000 teilte der Beklagte mit, er könne auch nach Überprüfung
der Entscheidung des OVG Lüneburg seine Kostenerstattungs- pflicht nicht anerkennen.
Er vertrete die in der Literatur vertretene Rechtsauffassung, dass von einem
sozialhilferechtlichen Bedarf grundsätzlich erst dann ausgegangen werden könne, wenn
dem Träger der Sozialhilfe oder einer von ihm beauftragten Stelle bekannt werde, dass
die Voraussetzungen für die Gewährung von Sozialhilfe vorlägen, weil erst von diesem
Zeitpunkt an die Sozialhilfe einsetze oder einsetzen könne. Ein sozialhilferechtlicher
Bedarf setze die Kenntnis eines solchen Bedarfs voraus. Genauso wie bei § 108 Abs. 5
BSHG komme es auch für das Entstehen des Kostenerstattungsanspruchs nach § 108
Abs. 1 BSHG darauf an, ob Sozialhilfe zu gewähren gewesen sei oder nicht. Denn nur
unter diesen Voraussetzungen könnten einem Sozialhilfeträger erstattungsfähige
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Aufwendungen entstehen. Selbst wenn man der Auffassung der Klägerin folge, sei der
Kostenerstattungsanspruch jedenfalls nach § 108 Abs. 5 BSHG entfallen, weil dem
Hilfeempfänger für einen zusammenhängenden Zeitraum von drei Monaten nach
seinem Grenzübertritt keine Sozialhilfe zu gewähren gewesen sei. Man werde jedenfalls
in entsprechender Anwendung dieser Vorschrift davon ausgehen müssen, dass
wenigstens dann, wenn man im Rahmen des § 108 Abs. 1 BSHG auf die objektive
Hilfebedürftigkeit abstelle, ein Zeitraum von wenigstens drei Monaten, für den keine
Sozialhilfe zu gewähren gewesen sei, zum Wegfall eines solchen abstrakt
entstandenen Kostenerstattungsanspruchs führe.
Die Klägerin hat am 29. Dezember 2000 Klage erhoben. Zur Begründung führt sie aus,
der Hilfeempfänger habe bereits im Zeitpunkt der Einreise die Absicht gehabt, dauerhaft
in Deutschland zu bleiben. Unbeachtlich sei, dass er erst ab dem 3. April 1996
Sozialhilfe bezogen habe, weil er bereits seit dem Grenzübertritt bedürftig gewesen sei.
Der in dem Übergangswohnheim der Klägerin tätigen Sozialarbeiterin sei dies auch
bekannt gewesen.
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Die Klägerin beantragt,
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den Beklagten zu verurteilen, im Sozialhilfefall B, geboren am 0, wohnhaft Tstraße 0, B,
die in der Zeit vom 3. April 1996 bis einschließlich 31. Juli 1997 ihr, der Klägerin,
entstandenen Sozialhilfeaufwendungen in Höhe von insgesamt 10.914,77 DM zu
erstatten.
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Der Beklagte beantragt,
13
die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung verweist er auf sein Schreiben vom 7. April 2000 an die Klägerin.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Klägerin sowie des
Beklagten Bezug genommen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
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Mit Einverständnis der Beteiligten wird über die Klage ohne mündliche Verhandlung
durch die Berichterstatterin entschieden (§ 87 a Abs. 2, Abs. 3, § 101 Abs. 2 VwGO).
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Die zulässige Leistungsklage ist begründet. Der Beklagte ist verpflichtet, der Klägerin
die Kosten in Höhe von 10.914,77 DM (=5.580,63 EUR) zu erstatten, die ihr durch die
Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt an den Hilfeempfänger in der Zeit vom 3.
April 1996 bis 31. Juli 1997 entstanden sind.
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Rechtsgrundlage des Erstattungsanspruches der Klägerin gegenüber dem Beklagten ist
§ 108 Abs. 1 Satz 1 BSHG. Tritt jemand, der weder im Ausland noch im Geltungsbereich
dieses Gesetzes einen gewöhnlichen Aufenthalt hat, aus dem Ausland in den
Geltungsbereich dieses Gesetzes über und bedarf er innerhalb eines Monats nach
seinem Übertritt der Sozialhilfe, so sind die aufgewendeten Kosten nach dieser
Vorschrift von dem überörtlichen Träger der Sozialhilfe zu erstatten, der von einer
Schiedsstelle bestimmt wird. Diese Voraussetzungen sind vorliegend gegeben.
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Der Hilfeempfänger ist aus Kasachstan mit dem Bus über Polen in die Bundesrepublik
Deutschland eingereist und hatte im Zeitpunkt des Grenzübertritts nach Deutschland am
28. Dezember 1995 weder im Ausland noch in der Bundesrepublik einen gewöhnlichen
Aufenthalt.
21
Da das Bundessozialhilfegesetz keine näheren Regelungen zur Bestimmung des
Rechtsbegriffs des gewöhnlichen Aufenthaltes enthält, gilt gemäß § 37 Satz 1 SGB I die
Legaldefinition in § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I mit der Maßgabe, dass der unbestimmte
Rechtsbegriff des gewöhnlichen Aufenthaltes unter Berücksichtigung von Sinn und
Zweck sowie des Regelungszusammenhangs der jeweiligen Norm auszulegen ist.
22
BVerwG, Urteil vom 31. August 1995 - 5 C 11.94 -, BVerwGE 99, 158 = FEVS 46, 133
sowie Urteil vom 18. März 1999 - 5 C 11.98 -, FEVS 49, 434.
23
Nach § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I hat jemand den gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich
unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem
Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Zur Begründung eines gewöhnlichen
Aufenthaltes ist ein dauerhafter oder längerer Aufenthalt nicht erforderlich. Es genügt
vielmehr, dass der Betreffende sich an dem Ort oder in diesem Gebiet "bis auf weiteres"
im Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibs aufhält und dort den Mittelpunkt seiner
Lebensbeziehungen hat.
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BVerwG, Urteil vom 18. März 1999 - 5 C 11.98 -, a.a.O. und Urteil vom 7. Oktober 1999 -
5 C 120.98 -, FEVS 51, 385 sowie Beschluss vom 24. Januar 2000 - 5 B 211.99 -, FEVS
51, 389.
25
Diese in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entwickelten Grundsätze
zur Auslegung des gewöhnlichen Aufenthaltes gelten auch im Rahmen des § 108
BSHG. Hieran anknüpfend hatte der Hilfeempfänger im Zeitpunkt seines Übertrittes
nach Deutschland am 28. Dezember 1995 keinen gewöhnlichen Aufenthalt mehr im
Ausland. Vielmehr wollte er an diesem Tag sein Heimatland Kasachstan - auf dem Weg
über Polen - endgültig verlassen, um in der Bundesrepublik Deutschland mit seiner
Ehefrau dauerhaft zu leben. Sie hielt sich bereits seit September 1995 in Deutschland
auf und betrieb hier ihre Anerkennung als Spätaussiedlerin. Weil er die feste Absicht der
Wohnsitzverlagerung in die Bundesrepublik hatte, ist es auch unbeachtlich, dass seine
Einreise mit einem befristeten Besuchervisum erfolgte.
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Der Hilfeempfänger bedurfte auch innerhalb eines Monats seit Grenzübertritt der
Sozialhilfe. Er erhielt zwar erst ab dem 3. April 1996 Sozialhilfezahlungen. Er war aber
bereits seit Grenzübertritt auf Hilfe angewiesen, weil er weder über eigenes noch über
ihm zurechenbares Einkommen oder Vermögen verfügte, um seinen notwendigen
Lebensunterhalt in Deutschland sicherzustellen. § 108 Abs. 1 Satz 1 BSHG setzt nicht
voraus, dass tatsächlich innerhalb eines Monats Sozialhilfe gewährt worden ist. Die
Vorschrift stellt nicht auf die Gewährung von Sozialhilfe, sondern lediglich auf das
Hilfebedürfnis ab. Ferner ist es auch nicht erforderlich, dass der Bedarf dem Träger der
Sozialhilfe innerhalb der Monatsfrist im Sinne von § 5 BSHG bekannt war. Maßgeblich
ist der objektive Hilfebedarf - eine Notlage im Sinne des BSHG muss objektiv
vorhanden gewesen sein.
27
So auch OVG Lüneburg, Beschluss vom 10. Februar 1999 - 4 L 4909/98 -, FEVS 49,
28
502; W. Schellhorn/H. Schellhorn, Bundessozialhilfegesetz, 16. Auflage 2002, § 108 Rn.
10, § 107 Rn. 8; a.A. LPK-BSHG-Schoch, 6. Auflage 2003, § 108 Rn. 14; Fichtner-
Bräutigam, Bundessozialhilfegesetz, 2. Aufl. 2003, § 108 Rn. 4; Eichhorn/Fergen, Praxis
der Sozialhilfe, S. 1467f.
Beim Hilfeempfänger bestand mangels eigenen oder zurechenbaren Einkommens und
Vermögens seit dem Grenzübertritt eine objektive Notlage. Dies wird auch vom
Beklagten nicht bestritten.
29
Für eine einengende Auslegung des § 108 Abs. 1 Satz 1 BSHG dergestalt, dass auch
die Kenntnis des Trägers vom Hilfebedarf erforderlich ist, bieten Wortlaut,
systematischer Zusammenhang sowie Sinn und Zweck der Vorschrift keine
Anhaltspunkte. Allein die Tatsache, dass jemand der Hilfe bedurfte, ist nach dem
Wortlaut Voraussetzung für die Kostenerstattung. Das Bestehen eines Hilfebedarfs ist
schon nach seinem Wortlaut völlig unabhängig davon, ob dem Sozialhilfeträger dieser
Bedarf bekannt ist. Das Bekanntwerden des Bedarfs ist gem. § 5 BSHG nur
Voraussetzung für das Einsetzen der Sozialhilfe. Der Gesetzgeber differenziert
zwischen Hilfebedarf im Sinne einer objektiven Notlage (§ 108 Abs. 1 BSHG) und
Hilfegewährung (vgl. etwa § 108 Abs. 5 BSHG). Die Begriffe unterscheiden sich
dadurch, dass der Hilfebedarf nur die Notlage des Hilfesuchenden, die Hilfegewährung
jedoch zusätzlich die das Einsetzen der Sozialhilfe auslösende Kenntnis des
Sozialhilfeträgers von der Notlage voraussetzt. Diese Unterscheidung findet sich in
verschiedenen Vorschriften des Bundessozialhilfegesetzes (vgl. etwa auch § 103 Abs. 3
Satz 1 und 3, § 107 Abs. 1 und 2 BSHG).
30
Vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 10. Februar 1999 - 4 L 4909/98 -, FEVS 49, 502.
31
Auch der Sinn und Zweck des § 108 BSHG, unbillige finanzielle Belastungen vor allem
der Träger der Sozialhilfe der Grenzorte und solcher, in deren Bereich Flughäfen oder
Eisenbahnknotenpunkte liegen, zu verhindern, gebietet es nicht, § 108 Abs. 1 BSHG
einengend auszulegen. Nach der ratio des § 108 Abs. 1 BSHG soll ein
Kostenerstattungsanspruch nur dann bestehen, wenn ein unmittelbarer (zeitlicher)
Zusammenhang zwischen Einreise und Sozial-hilfebedürftigkeit gegeben ist. Ansonsten
ist der Sozialhilfeträger nicht schutzwürdig. Dies entspricht dem Sinn und Zweck der
Kostenerstattungs- vorschriften im allgemeinen. Sie dienen dem Ausgleich von
Sonderopfern. Außerdem ist die Kostenerstattung Spiegelbild zur Sozialhilfegewährung
und kommt daher nur dann in Betracht, wenn tatsächlich Sozialhilfe gewährt wurde. All
dies führt aber nicht dazu, einen Kostenerstattungsanspruch im Rahmen des § 108
BSHG nur dann anzuerkennen, wenn innerhalb der Monatsfrist des Abs. 1 auch die
Kenntnis des Sozialhilfeträgers von der Hilfebedürftigkeit gegeben war. Der
Gesetzgeber hat es bewusst für die Annahme eines Sonderopfers ausreichen lassen,
wenn die Sozialhilfebedürftigkeit in engem zeitlichen Zusammenhang mit der Einreise
steht. Dass Sozialhilfe später tatsächlich gewährt worden sein muss, ist schon
denklogisch Voraussetzung für die Kostenerstattung und kann nicht als Begründung für
das Hineinlesen des § 5 BSHG in § 108 Abs. 1 BSHG angeführt werden. Im übrigen
vermag es auch insbesondere deshalb nicht zu überzeugen, den kostenerstattungs-
rechtlichen Gesichtspunkt der Kongruenz von Sekundärebene und Primärebene hier
geltend zu machen, weil eine Gewährung von Sozialhilfe innerhalb der Monatsfrist -
nach einhelliger Auffassung - auf keinen Fall erforderlich ist.
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Als Schranke, die die o.g. Erwägungen insbesondere zu Sinn und Zweck des § 108
33
BSHG und der Kostenerstattungsvorschriften im allgemeinen umsetzt, hat der
Gesetzgeber die Regelung des § 108 Abs. 5 BSHG geschaffen.
Nach dieser Vorschrift fällt die Verpflichtung zur Erstattung der für einen Hilfeempfänger
aufgewendeten Kosten weg, wenn ihm inzwischen für einen zusammenhängenden
Zeitraum von drei Monaten Sozialhilfe nicht zu gewähren war. War also Hilfe drei
Monate lang nicht zu gewähren, fehlt es an einem Sonderopfer und damit an der
Schutzwürdigkeit des Sozialhilfeträgers. Zwar enthält die Vorschrift in erster Linie eine
Regelung über das Ende einer Erstattungspflicht, d. h. es muss grundsätzlich vorher
Sozialhilfe gewährt und ein Kostenerstattungsanspruch nach Abs. 1 begründet worden
und dann ununterbrochen für die Dauer von drei Monaten Sozialhilfe nicht zu gewähren
gewesen sein.
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W. Schellhorn/H. Schellhorn, Bundessozialhilfegesetz, 16. Auflage 2002, § 108 Rn. 22;
Mergler/Zink, BSHG, 4. Auflage, 28. Lfg., Stand März 2000, § 108 Rn. 25.
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Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Vor dem 3. April 1996 hat der
Hilfeempfänger keine Sozialhilfe erhalten. Seit diesem Datum wurden Hilfeleistungen
ununterbrochen bis zum 31. Juli 1997 gewährt und waren auch zu gewähren.
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Allerdings ist § 108 Abs. 5 BSHG für den vorliegenden Fall, in dem innerhalb der
Monatsfrist des § 108 Abs. 1 BSHG allein ein objektiver Hilfebedarf vorlag, dahingehend
auszulegen, dass jedenfalls innerhalb von drei Monaten ab Grenzübertritt die
Voraussetzungen für eine Hilfegewährung vorgelegen haben müssen. Eine solche
Auslegung entspricht Sinn und Zweck des § 108 BSHG und der Kostenerstattung im
Sozialhilferecht. Wenn mehr als drei Monate lang Sozialhilfe nicht zu gewähren war,
besteht weder ein unmittelbarer Zusammenhang zur Einreise noch eine besondere
Schutzbedürftigkeit des Sozialhilfeträgers. Anders als in § 108 Abs. 1 BSHG ist bei §
108 Abs. 5 BSHG - wofür der unterschiedliche Wortlaut dieser beiden Absätze den
maßgeblichen Anhaltspunkt bietet - die Kenntnis des Sozialhilfeträgers von der
Bedürftigkeit erforderlich, weil nur dann Sozialhilfe auch zu gewähren ist. Unter
Berücksichtigung der Systematik des § 108 BSHG ist es daher geboten, die
Erwägungen zum Sinn und Zweck des § 108 BSHG für die Fälle einer bloß objektiven
Hilfebedürftigkeit innerhalb der Monatsfrist des § 108 Abs. 1 BSHG (nur) im Rahmen
des § 108 Abs. 5 BSHG zu berücksichtigen und diese Vorschrift dementsprechend
dahingehend auszulegen, dass sich das Wort "inzwischen" in diesen Fällen auf die
Einreise bezieht.
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Bis zur Hilfegewährung sind vorliegend zwar mehr als drei Monate seit der Einreise
vergangen. § 108 Abs. 5 BSHG setzt aber nicht voraus, dass Hilfe innerhalb des Drei-
Monats-Zeitraums gewährt wurde, sondern allein, dass sie zu gewähren war. Dies ist
vorliegend der Fall.
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Neben den Gewährungsvoraussetzungen des § 11 BSHG lag innerhalb von drei
Monaten nach Grenzübertritt auch die für das Einsetzen der Hilfe gemäß § 5 BSHG
erforderliche Kenntnis vor. Der Hilfebedarf war der im Übergangswohnheim der Klägerin
tätigen Sozialarbeiterin Frau M bekannt, die nämlich ausweislich eines Aktenvermerks
des Sozialamtes der Klägerin (Vermerk vom 12. September 1996, Bl. 111 der
Verwaltungsvorgänge der Klägerin) wusste, dass der Hilfeempfänger gemeinsam mit
seiner Ehefrau von deren - seit Februar 1996 bezogenen - Sozialhilfemitteln lebte und
mit dieser in ihrem Zimmer im Übergangswohnheim wohnte. Damit war der
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Sozialarbeiterin bekannt, dass er seinen Lebensunterhalt nicht aus eigenen oder ihm
zurechenbaren Mitteln bestreiten konnte. Die Kenntnis lag auch innerhalb der
Dreimonatsfrist vor, weil jedenfalls seit Sozialhilfebezug der Ehefrau des
Hilfeempfängers ab Februar 1996 Kontakt der im Auftrag des Sozialamtes in der
Übergangseinrichtung tätigen Sozialarbeiterin bestanden haben muss. Unabhängig
davon, ob man die Kenntnis einer in einer solchen Einrichtung des Sozialhilfeträgers
tätigen Person diesem unter dem Gesichtspunkt der Einheitlichkeit der Verwaltung
unmittelbar zurechnet oder dazu auf das Institut der beauftragten Stelle zurückgreift, war
damit die erforderliche Kenntnis im Sinne von § 5 Abs. 1 BSHG gegeben.
Die Hilfegewährung erfolgte nur deshalb erst ab Antragstellung am 3. April 1996, weil
der Hilfeempfänger offensichtlich vor dem Bezug von Sozialhilfe erst die Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis abwarten wollte. Erst als er diese am 3. April 1996 erhielt, stellte er
noch am selben Tag beim Sozialamt der Klägerin den Antrag auf Hilfe zum
Lebensunterhalt.
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Auch die weiteren Voraussetzungen der Kostenerstattung bei Übertritt aus dem Ausland
sind gegeben. Gegen die Höhe der von der Klägerin geltend gemachten
Kostenerstattung hat der Beklagte keine Einwendungen erhoben. Auch eine Prüfung
von Amts wegen auf Grund der von der Klägerin vorgelegten Unterlagen ergibt insoweit
keine Bedenken. Es sind auch sonst keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die
aufgewendeten Kosten nicht gemäß § 111 Abs. 1 Satz 1 BSHG dem Gesetz
entsprachen.
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Die Klägerin hat ihre Aufwendungen schließlich auch innerhalb der Frist des § 111 SGB
X gegenüber dem Beklagten geltend gemacht. Nach dieser Vorschrift ist der Anspruch
auf Erstattung spätestens zwölf Monate nach Ablauf des letzten Tages, für den die
Leistung erbracht wurde, geltend zu machen. Dies ist vorliegend geschehen, denn die
Klägerin hat bereits mit Schreiben vom 16. Juli 1996 die Erstattung ihrer Kosten
beantragt.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 188 Satz 2 in der Fassung des Sechsten Gesetzes
zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung und anderer Gesetze vom 1. November
1996, BGBl. I 1626, in Verbindung mit § 194 Abs. 5 des Gesetzes zur Bereinigung des
Rechtsmittelrechts im Verwaltungsprozess vom 20. Dezember 2001, BGBl. I S. 3987, in
Verbindung mit § 154 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit
beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i. V. m. § 709 Satz 1 und 2 ZPO.
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