Urteil des VG Münster vom 21.11.2001

VG Münster: behinderung, rechtschreibschwäche, gesellschaft, eltern, zeugnis, ausnahme, unterricht, lese, integration, gespräch

Verwaltungsgericht Münster, 9 K 1380/00
Datum:
21.11.2001
Gericht:
Verwaltungsgericht Münster
Spruchkörper:
9. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
9 K 1380/00
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf
die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung
abwenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger vor der
Vollstreckung Sicherheit in Höhe des beizutreibenden Betrages leistet.
T a t b e s t a n d
1
Die Klägerin begehrt die Verpflichtung des Beklagten ihr Eingliederungshilfe gemäß §
35 a SGB VIII für eine außerschulisch durchgeführte Lese- und Rechtschreibtherapie zu
gewähren.
2
Der Angelegenheit liegt folgender Sachverhalt zu Grunde: Die Klägerin wurde als
Viertes von fünf Kindern der Eheleute I. und M. T. geboren. Nach Angaben der Eltern hat
sich die Klägerin altersentsprechend entwickelt, wobei die Sprachentwicklung auffällig
war. Deshalb wurde sie seit ihrem 5. Lebensjahr logopädisch behandelt. Nach
dreijährigem Besuch eines Kindergartens wurde die Klägerin in die Schule für
Sprachbehinderte des Kreises Coesfeld (Q.-Q.-Schule) eingeschult und absolvierte dort
die Eingangsklasse sowie die erste und zweite Klasse. Während des Schulbesuches in
der Q.-Q.-Schule wurde das Arbeits- und Sozialverhalten der Klägerin dahingehend
beschrieben, dass sie dem Unterrichtsgeschehen gewissenhaft und konzentriert folgte,
eine ausgeprägte Anstrengungs- und Motivationsbereitschaft zeigte und ihre Aufgaben
planvoll und zügig erledigte. Ihre Arbeitsergebnisse waren überwiegend fehlerfrei und
entsprachen den Anforderungen. Die Klägerin war kooperationsfähig, konnte auf ihre
Arbeitspartner eingehen und zunehmend auch eigene Interessen und Meinungen
vertreten. In den Hinweisen zu Lernbereichen heißt es am Ende der 2. Klasse, dass sie
sich mit sachbezogenen und bereichernden Beiträgen aktiv am Unterrichtsgespräch
beteiligte, in der Lage war auch fremde Texte sinngestaltend zu lesen und inhaltlich zu
erfassen und eine hohe Motivation beim freien Schreiben und auch bei
3
themengebundenen Schreibanlässen besaß. Während Übungsdiktate und Lückentexte
ihr fast fehlerfrei gelangen, fiel ihr die Anwendung der gelernten Rechtschreibregeln
sowie der Satzbau bei eigenen Texte noch schwer.
Zu Beginn des Schuljahres 1998/99 wechselte die Klägerin zur B-Schule, einer
städtischen katholischen Grundschule in Dülmen. Wie sich aus dem Zeugnis der Klasse
3 c vom 29. Januar 1999 ergibt, fand die Klägerin schnell Kontakt zu ihren Mitschülern
und ordnete sich mühelos in den neuen Klassenverband ein. Dem Unterricht folgte sie
aufgeschlossen und aufmerksam und bemühte sich den Stoff des Unterrichts zu
erlernen und anzuwenden. Ihre schriftlichen Arbeiten waren jedoch recht fehlerhaft und
ihre Rechtschreibleistung nicht gefestigt. Mit Ausnahme des Faches Rechtschreiben,
welches mit „mangelhaft" bewertet wurde, lagen ihre Leistungen zwischen „gut" und
„ausreichend". Während des ersten Halbjahres der Klasse 3 und des zweiten
Halbjahres der Klasse 4 nahm die Klägerin an einer zusätzlichen schulischen
Fördermaßnahme im Lesen und Rechtschreiben teil. Aus dem Zeugnis der Klasse 3, 2.
Halbjahr vom 14. Juni 1999 ergibt sich, dass die Klägerin sich von ihren
Schwierigkeiten im rechtschriftlichen Bereich nicht entmutigen ließ und immer wieder
bereit war schriftliche Aufgaben sachgerecht, ausdauernd und in der geforderten Zeit zu
erstellen. Auch konnte sie ihre Lesefertigkeit weiter verbessern. Ihre Leistungen lagen -
mit Ausnahme des Faches Rechtschreiben, welches mit mangelhaft bewertet wurde -
zwischen gut und ausreichend. Dem Zeugnis der Klasse 4, 1. Halbjahr vom 19. Januar
2000 ist zu entnehmen, dass die Rechtschreibleistungen der Klägerin weiterhin mit
mangelhaft, die übrigen Leistungen zwischen gut und befriedigend bewertet wurden. In
der als Anlage zu diesem Zeugnis beigefügten begründeten Empfehlung wurde
ausgeführt, dass die Realschule/Gesamtschule für die weitere schulische Förderung der
Klägerin als am Besten geeignet erschienen.
4
Im Zeugnis der Klasse 4 wurden die Leistungen der Klägerin im Fach Rechtschreiben
wiederum mit mangelhaft, im Übrigen zwischen gut und befriedigend bewertet.
5
Im Herbst 1998 wurde die Klägerin von der Fachärztin für Kinderheilkunde, Kinder- und
Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, Frau Dr. med. Dipl.-Psych. N.-B. L.-W.
untersucht. In einem Bericht vom 11. Februar 1999 wurden als Diagnosen genannt:
6
Störung der sensorischen Integration mit Störung der auditiven Wahrnehmung
7
Störung der Feinmotorik
8
mangelndes Selbstwertgefühl
9
Bei einem IQ von 91 zeigte die Klägerin keine Intelligenzminderung. Als Therapie hielt
die untersuchende Ärztin eine Klangtherapie nach Tomatis für sinnvoll. Hierdurch
sollten die Voraussetzungen für eine Lerntherapie geschaffen werden, die sicherlich
noch nötig sein würde, um die bereits vorhandenen Defizite aufzuarbeiten. Nachdem die
AOK Westfalen sowohl die Kostenübernahme für eine Tomatis- Therapie als auch für
einen Lerntherapie abgelehnt hatte, wandten sich die Eltern der Klägerin am 11. März
1999 an den Beklagten und beantragten die Kostenübernahme einer Lerntherapie für
die Klägerin gemäß § 35 a SGB VIII. Diese Lerntherapie sollte durch die Praxis für
Lerntherapie des Herrn M. S. T. in E. erfolgen. Zur Begründung führten die Eltern aus,
dass ihre Tochter unter anhaltenden Schulschwierigkeiten im Bereich des
Rechtschreibens und daraus resultierenden psychosomatischen Beschwerden leide.
10
Um einer drohenden seelischen Behinderung vorzubeugen, sei die beantragte
Lerntherapie erforderlich. In einem persönlichen Gespräch mit der Klassenlehrerin
hätten sie erfahren, dass die Schule keine zusätzlichen Fördermaßnahmen anbieten
könne, insbesondere keine Einzelförderung möglich sei. Ein weiterer förmlicher Antrag
auf Eingliederungshilfe wurde sodann unter dem 8. April 1999 gestellt.
Das Gesundheitsamt des Kreises Coesfeld bestätigte mit Gutachten vom 18. Mai 1999
die von Frau Dr. med. Dipl. Psych. L.-W. angeführten Diagnosen und empfahl eine
gezielte Lerntherapie für zunächst sechs Monate, da die Klägerin wegen der
Schulschwierigkeiten unter großen seelischen Belastungen leide und deshalb dem
Personenkreis des § 35 a KJHG zuzuordnen sei. Außerdem wurde eine gründliche
Diagnose der auditiven Wahrnehmungsstörungen angeregt.
11
Mit Bescheid vom 28. Mai 1999 lehnte der Beklagte den Antrag der Klägerin auf
Gewährung von Eingliederungshilfe gemäß § 35 a SGB VIII ab und begründete dies im
Wesentlichen damit, dass es keinerlei Hinweise gebe, dass die von der Schule
angebotene Förderung der Klägerin nicht ausreichend sei. Die Förderung von Schülern
mit besonderen Schwierigkeiten im Erlernen des Lesens und Rechtschreibens sei
vorrangig Aufgabe der Schule. Anhaltspunkte dafür, dass außerschulische Maßnahmen
angezeigt seien, seien nicht ersichtlich.
12
Die Klägerin wurde am 15. September 1999 sowie am 24. September 1999 in der
Poliklinik für Foniatrie und Pädaudiologie der Westfälischen Wilhelms-Universität in
Münster vorgestellt. Aus dem auf Grund der Untersuchungen gefertigten Bericht vom 6.
Oktober 1999 ergibt sich, dass eine zentrale Hörverarbeitungsstörung weitestgehend
ausgeschlossen werden konnte. Im Bereich der auditiven Wahrnehmung hätten sich
Auffälligkeiten gezeigt. Dennoch wurde seinerzeit kein weiterer Therapiebedarf
gesehen.
13
Aus einer Notiz des Jugendamtes des Beklagten über ein Gespräch mit der
Klassenlehrerin der Klägerin am 13. April 2000 in der B-Schule ergibt sich, dass die
Klägerin nach Angaben der Klassenlehrerin in die Klasse gut integriert war, motiviert
und interessiert mitarbeitete, das Selbstbewusstsein und die psychische Verfassung der
Klägerin unauffällig waren und die Klägerin mit ihrer Schwäche umgehen konnte, wenn
sie Zuspruch bekam und auf ihre Stärken hingewiesen wurde.
14
Mit Widerspruchsbescheid vom 14. April 2000, zugestellt am 22. April 2000, wies der
Beklagte den Widerspruch gegen den Ablehnungsbescheid vom 28. Mai 1999 zurück.
15
Daraufhin hat die Klägerin am 18. Mai 2000 Klage erhoben. Zur Begründung wird
ausgeführt: Bei der Klägerin bestehe eine ausgeprägte Rechtschreibschwäche, was
auch durch das Gutachten des Gesundheitsamtes des Kreises Coesfeld und den
Bericht der Fachärztin Dr. med. Dipl.-Psych. L.-W. festgestellt worden sei. Hieraus
ergebe sich, dass die Rechtschreibstörung einer therapeutischen Behandlung bedürfe
um eine drohende seelische Behinderung abzuwenden. Die Schule sei nicht in der
Lage auf die speziellen Schwächen der Klägerin einzugehen und sie ausreichend zu
fördern. Deshalb sei die Therapie in der Praxis für Lerntherapie T. erforderlich.
16
Die Klägerin beantragt,
17
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 28. Mai 1999 in der Gestalt des
18
Widerspruchsbescheids vom 14. April 2000 zu verpflichten, der Klägerin
Eingliederungshilfe gemäß § 35 a SGB VIII für die in der Praxis T. durchgeführte
Lerntherapie für die Zeit von August 1999 bis August 2000 zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
19
die Klage abzuweisen.
20
Zur Begründung führt er aus, die Klägerin habe keinen Anspruch auf Gewährung von
Eingliederungshilfe gemäß § 35 a SGB VIII in Form der Übernahme der
Behandlungskosten in der Praxis T. Insoweit werde auf die Ausführungen im
Ablehnungs- und Widerspruchsbescheid Bezug genommen. Die Voraussetzungen des
§ 35 a SGB VIII seien nicht gegeben. So sei insbesondere der Nachrang der
Jugendhilfe zu beachten. Es sei vorrangig Aufgabe der Schule Schüler mit besonderen
Lese- und Rechtschreibschwächen angemessen zu fördern. Im Übrigen liege das
Hauptaugenmerk der Jugendhilfe auf der seelischen Behinderung und nicht auf dem
Bereich einer isolierten Teilleistungsstörung. Eine seelische Behinderung könne jedoch
nur durch ganzheitliche therapeutische Maßnahmen und nicht durch eine isolierte
Förderung des Lesens und Rechtschreibens behandelt werden, sodass die Therapie in
der Praxis T. nicht geeignet sei und bereits deshalb ein Anspruch auf Kostenübernahme
ausscheide. Schließlich schreibe das SGB VIII einen bestimmten Verfahrensgang vor,
der in § 36 SGB VIII beschrieben sei. Da die Eltern der Klägerin sich jedoch von Anfang
an auf die Förderung durch das Lerninstitut T. festgelegt hätten, habe für den Beklagten
keine Möglichkeit mehr bestanden mit den Eltern der Klägerin auch andere Hilfearten zu
diskutieren.
21
Das Gericht hat Beweis erhoben über die an der Augustinus Grundschule in Dülmen in
den Jahren 1998 bis 2000 vorhanden Fördermöglichkeiten von Schülern mit Lese- und
Rechtschreibschwäche durch Vernehmung des Schulleiters dieser Schule, Herrn U. T.,
als Zeugen sowie über die Schullaufbahn der Klägerin (Verhalten und Leistungen)
sowie über die konkret erfolgten schulischen Fördermaßnahmen durch Vernehmung der
Klassenlehrerin, Frau H. I., als Zeugin. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme
wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 21. November 2001 Bezug
genommen.
22
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Rechtsstreits durch den
Berichterstatter als Einzelrichter gemäß § 87 a Abs. 2 und 3 VwGO einverstanden
erklärt.
23
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten
wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der vorgelegten Verwaltungsvorgänge (1 Heft)
ergänzend Bezug genommen.
24
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
25
Die Klage ist als Verpflichtungsklage zulässig, jedoch nicht begründet. Die Ablehnung
der begehrten Eingliederungshilfe mit Bescheid des Beklagten vom 28. Mai 1999 in der
Fassung des hierzu erlassenen Widerspruchsbescheides vom 14. April 1999 verletzt
die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat für den streitbefangenen Zeitraum
vom 1. August 1999 bis zum 1. August 2001 keinen Anspruch auf Eingliederungshilfe
nach § 35 a SGB VIII. Gemäß § 35 a SGB VIII in der hier maßgeblichen durch das
26
Sozialgesetzbuch - 9. Buch - SGB IX (Rehabilitation und Teilhabe behinderter
Menschen) vom 19. Juni 2001, in Kraft getreten am 1. Juli 2001, geänderten Fassung
(BGBl. I 1106 f.) haben Kinder oder Jugendliche einen Anspruch auf
Eingliederungshilfe, wenn 1. ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit
länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht und 2.
daher ihre Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft beeinträchtigt ist oder eine solche
Beeinträchtigung zu erwarten ist. Gemäß § 35 a Abs. 3 SGB VIII richten sich Aufgabe
und Ziel der Hilfe und die Bestimmung des Personenkreises sowie die Art der
Maßnahmen unter anderem nach §§ 39 Abs. 3 und 4 Satz 1, 40 und 41 BSHG sowie der
dazu ergangenen Eingliederungshilfeverordnung. Gemäß § 39 Abs. 3 Satz 1 BSHG ist
es Aufgabe der Eingliederungshilfe eine drohende Behinderungen zu verhüten oder
eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und den
behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern. Dabei gehört gemäß § 40 Abs.
1 Nr. 3 BSHG auch die Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung, vor allem im
Rahmen der allgemeinen Schulpflicht, zu den Maßnahmen der Eingliederungshilfe.
Gemäß § 3 der Verordnung zu § 47 BSHG in der ebenfalls durch das SGB IX
geänderten Fassung (BGBl. I 1113) liegt eine seelische Behinderung i. S. d. BSHG vor,
wenn seelische Störungen vorliegen, die eine wesentliche Einschränkung der
Teilhabefähigkeit i. S. d. § 39 Abs. 1 Satz 1 BSHG zur Folge haben können.
Abzugrenzen ist die seelische Behinderung im Übrigen von der geistigen Behinderung,
die gemäß § 2 der Eingliederungshilfeverordnung dann vorliegt, wenn in Folge einer
Schwäche der geistigen Kräfte die Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft
in erheblichem Umfange eingeschränkt ist.
Unter Anwendung dieser Beurteilungsmaßstäbe kann im vorliegenden Fall nicht davon
ausgegangen werden, dass die Klägerin im fraglichen Zeitraum in ihrer Teilhabe am
Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt war (seelische Behinderung) oder eine solche
Beeinträchtigung zu erwarten war (Drohen einer seelischen Behinderung).
27
Aus dem Bericht der Diplom-Psychologin und Fachärztin für Kinderheilkunde, Kinder-
und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, Frau Dr. med. L.-W. vom 11. Februar 1999
ergibt sich, dass die Klägerin durchschnittlich begabt war. Den vorgelegten Zeugnissen
der Klägerin ist zu entnehmen, dass nach dem Wechsel von der Schule für
Sprachbehinderte auf die Regelgrundschule kein Anlass mehr bestand die Klägerin
etwa zu einer Schule für Lernbehinderte zu schicken. Aus alledem ergeben sich keine
Anhaltspunkte dafür, dass bei der Klägerin eine Schwäche der geistigen Kräfte
vorgelegen hätte, die unter anderem das Erreichen einer angemessenen Schulbildung
in Frage gestellt hätte.
28
Weiter folgt aus dem Bericht von Frau Dr. med. Dipl.-Psych. L.-W. und dem Gutachten
des Gesundheitsamtes vom 18. Mai 1999, dass bei der Klägerin eine
Teilleistungsschwäche im Sinne einer Rechtschreibschwäche besteht. Das Vorliegen
einer solchen Teilleistungsschwäche stellt jedoch für sich gesehen noch keine
seelische Behinderung dar. Vielmehr müsste diese Teilleistungsschwäche
Hauptursache für eine seelische Störung sein, die ihrerseits zu einer Beeinträchtigung
bei der Eingliederung in die Gesellschaft (Störung des Sozialverhaltens mit dem
Ergebnis einer dissozialen Entwicklung, einer so genannten sekundären
Neurotisierung) führt.
29
Vgl. Wiesner, Kommentar zum SGB VIII, 2. Auflage 2000 vor § 35 a Rdnr. 34;
Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 26. November 1998 - 5 C 38.97 -, FEVS 49, 487.
30
Seelische Störungen, die eine derartige Behinderung zur Folge haben können, sind
unter anderem gemäß § 3 Abs. 2 Nr. 4 Eingliederungshilfeverordnung Neurosen und
Persönlichkeitsstörungen. Darunter sind alle diejenigen Fälle seelischer Störungen
einzuordnen, die nicht zu den in § 3 Satz 2 Nr. 1 bis 3 Eingliederungshilfeverordnung
angeführten seelischen Erkrankungen zu zählen sind. Diese Störungen sind mit den
vom Verordnungsgeber verwandten Begriffen in einem umfassenden Sinne bezeichnet
und nicht mehr im Einzelnen untergliedert. Sie sind deshalb weit auszulegen. Unter
Neurosen und Persönlichkeitsstörungen in diesem Sinne ist jedes von der Norm
abweichende Verhalten und Erleben von längerer Dauer und gewisser Intensität zu
verstehen.
31
Vgl. dazu OVG NRW, Urteil vom 23. Januar 1996 - 8 A 2723/92 -.
32
Als seelische Störung kommt hier allenfalls das von Frau Dr. med. Dipl.-Psych. L.-W.
diagnostizierte mangelnde Selbstwertgefühl der Klägerin in Betracht.
33
Fraglich ist jedoch der Ursachenzusammenhang zwischen der Rechtschreibschwäche
der Klägerin und dem mangelnden Selbstwertgefühl. Ein solcher
Ursachenzusammenhang wird weder im Bericht von Frau Dr. med. Dipl.- Psych. L.-W.
noch im Gutachten des Gesundheitsamtes hergestellt. Die diversen Probleme der
Klägerin durch ihre Sprachbehinderung, die nach Angaben der Mutter der Klägerin im
Rahmen der mündlichen Verhandlung auch die soziale Integration der Klägerin im
Kindergarten beeinträchtigt haben, legen jedoch den Schluss nahe, dass die
Unterentwicklung des Selbstwertgefühls der Klägerin auch im Zusammenhang mit
diesen Problemen der Klägerin gesehen werden müssen und diese mitursächlich für die
diagnostizierte seelische Störung waren. Ob somit die Rechtschreibschwäche der
Klägerin wirklich Hauptursache oder lediglich Mitursache für die seelische Störung war,
dürfte sich heute schwerlich noch feststellen lassen. Darauf kommt es jedoch auch nicht
an, sodass das Gericht nicht gehalten war, weitere Ermittlungen diesbezüglich
anzustellen, da der geltend gemachte Anspruch daran scheitert, dass die
Beeinträchtigung des Selbstwertgefühles der Klägerin nicht dazu geführt hat, dass ihre
Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt war (seelische Behinderung) oder
eine solche Beeinträchtigung zu erwarten war (Drohen einer seelischen Behinderung).
Zwar ist die Rechtschreibschwäche eine Teillernschwäche, die bei einem Kind
seelische Störungen hervorrufen kann, durch die es zu einer seelischen Behinderung
kommen kann. Allein das Vorliegen seelischer Störungen genügt jedoch noch nicht für
die Annahme einer seelischen Behinderung. Hinzu kommen muss vielmehr die
Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft.
Entscheidend ist, ob die seelischen Störungen nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv
sind, dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigen.
34
Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 26. November 1998, a. a. O.
35
Danach hat das Bundesverwaltungsgericht es rechtlich nicht beanstandet, dass das
Berufungsgericht einerseits bei bloßen Schulproblemen und auch bei Schulängsten, die
andere Kinder teilen, eine seelische Behinderung verneint und andererseits beispielhaft
als behinderungsrelevante seelische Störung die auf Versagungsängsten beruhende
Schulphobie, die totale Schul- und Lernverweigerung, den Rückzug aus jedem sozialen
Kontakt und die Vereinzelung in der Schule anführt.
36
Auf Grund des Verhaltens der Klägerin in der Schule, wie sich dies aus den Zeugnissen
und auch den überzeugenden Aussagen der Zeugin, Frau I., ergibt, ist nicht
festzustellen, dass die diagnostizierte Störung des Selbstwertgefühles der Klägerin ihre
Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt hat oder eine solche
Beeinträchtigung zu erwarten ist. Vielmehr ergibt sich aus den Zeugnissen sowohl der
Q.-Q.-Schule als auch der B.-Grundschule in Dülmen, dass die Klägerin mit einer hohen
Motivation und großem Interesse dem Unterricht folgte und sich durch ihre
Rechtschreibschwäche sowie ihre Sprachbehinderung nicht entmutigen ließ. Die als
gewissenhaft, konzentriert und kooperationsfähig beschriebene Klägerin beteiligte sich
trotz ihrer Sprachbehinderung aktiv am Unterricht und hatte auch trotz ihrer
Rechtschreibschwäche eine hohe Motivation beim Schreiben von Texten. So schilderte
die Zeugin die Mitarbeit der Klägerin als rege und gut und hob hervor, dass Elisabeth
die normalen Diktate mitgeschrieben habe und diese auch zensiert haben wollte. Nach
dem Schulwechsel von der Q.-Q.-Schule in die Augustinus Schule fand die Klägerin
zudem schnell Kontakt zu ihren Mitschülern und ordnete sich mühelos in den neuen
Klassenverband ein. Soweit die Mutter der Klägerin schilderte, dass ihre Tochter oft
weinend nach Hause gekommen sei und es auch bei den Hausaufgaben immer wieder
Schwierigkeiten gegeben habe sie zu motivieren, zeigt diese Diskrepanz in den
Aussagen zwar, dass die Klägerin durchaus unter ihren Schwächen gelitten hat.
Gleichwohl war sie jedoch in der Lage letztlich mit ihren Schwächem umzugehen und in
der vierten Klasse - mit Ausnahme im Fach Rechtschreiben - gute bis befriedigende
Leistungen zu erbringen. So wird ihr auch in der begründeten Empfehlung bestätigt,
dass sie mit großem Fleiß und zusätzlichen Fördermaßnahmen ihre Leistungen im
Bereich Sprache habe verbessern können und es ihr immer mehr gelang sich mündlich
und schriftlich sprachrichtig auszudrücken. Bei der Feststellung der Behinderung bzw.
einem Drohen derselben i. S. v. § 35 a SGB VIII darf außerdem bei der Beurteilung, ob
bei der Klägerin ein erfolgreicher Schulabschluss gefährdet ist mit der Folge, dass sie
keinen angemessenen Arbeitsplatz finden würde, die Behinderung nicht ausgeblendet
werden. Dazu führt das Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 28. September 1995 - 5 C
21.93 - FEVS 46, 360, aus: „Stellte man bei der Gefährdung eines erfolgreichen
Schulabschlusses auf einen solchen ab, der zu einem seinen sonstigen Fähigkeiten
entsprechenden - hier ohne Beeinträchtigung durch Legasthenie - angemessenen Platz
im Arbeitsleben befähigte, dann bedeutete das, dass nahezu jede, ein höheres
Ausbildungsziel gefährdende geistige (Leistungs-)Schwäche eine wesentliche
Behinderung i. S. d. § 2 EingliederungshilfeVO wäre. ... Denn grundsätzlich lässt sich -
der Art des Schulabschlusses nach - sowohl mit einem Hauptschulabschluss als auch
mit einem Realschulabschluss als auch mit Abitur ein angemessener Platz im
Arbeitsleben finden."
37
Angesichts der Leistungen der Klägerin zu Beginn der Therapie, die mit Ausnahme des
Faches Rechtschreiben zwischen gut und ausreichend lagen, sind keine Anhaltspunkte
ersichtlich, dass die Klägerin nicht ohne die begehrte Hilfe den Hauptschulabschluss
erreichen und danach einen diesem Abschluss entsprechenden Platz im Arbeitsleben
finden wird.
38
Da somit die Voraussetzungen des § 35 a SGB VIII nicht vorliegen und bei der Klägerin
weder eine seelische Behinderung noch das Drohen einer solchen Behinderung
festgestellt werden kann, kann im vorliegenden Fall dahinstehen, ob die schulischen
Fördermaßnahmen ausreichend waren und ob die Klägerin sich auf Grund des gemäß §
10 SGB VIII bestehenden grundsätzlichen Vorrangs schulischer Maßnahmen vorrangig,
gegebenenfalls mittels eines gerichtlichen Eilverfahrens, um weitere schulische
39
Maßnahmen hätte bemühen müssen.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 154 Abs. 1, 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711
ZPO.
40
41