Urteil des VG Münster vom 02.10.2009

VG Münster (geistige behinderung, kläger, schule, wiederherstellung der aufschiebenden wirkung, förderung, wohl des kindes, sohn, medizinisches gutachten, behinderung, gutachten)

Verwaltungsgericht Münster, 1 K 1975/08
Datum:
02.10.2009
Gericht:
Verwaltungsgericht Münster
Spruchkörper:
1. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
1 K 1975/08
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger
können die Vollstreckbarkeit durch Sicherheitsleistung oder
Hinterlegung des beitreibbaren Betrages abwenden, wenn nicht der
Beklagte zuvor in entsprechender Höhe Sicherheit leistet.
T a t b e s t a n d :
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Die Kläger wenden sich gegen die Entscheidung des beklagten Amtes, welches einen
Wechsel des Förderschwerpunktes für den Sohn I. von "Lernen" zu "Geistige
Entwicklung" beschloss.
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Für den 2001 geborenen Sohn der Kläger I. wurde im Rahmen der Schulanmeldung bei
der E.schule - Städtische Katholische Grundschule - im Februar 2007 ein Antrag auf
Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs im Bereich "Geistige
Entwicklung" gestellt. Zur Begründung wurde auf die Beobachtungen bei der
Schulanmeldung und die Erfahrungen des E1. -Kindergartens abgestellt. Die
Gutachterin der Förderschule Frau N. -D. kam in ihrem Gutachten vom 20. April 2007 zu
dem Ergebnis, dass der ermittelte Intelligenz-Qoutient bei I. kleiner 50 betrage und das
Referenzalter seiner geistigen Entwicklung bei 3 Jahren und 2 Monaten liege. Der Sohn
der Kläger sei stark entwicklungsverzögert und seine intellektuelle Entwicklung weise
einen Rückstand von 2 1/2 Jahren auf. Als Förderort schlug sie die Q. -K. -Schule mit
dem Förderschwerpunkt "Geistige Entwicklung" vor. Die schulärztliche Untersuchung
durch das Gesundheitsamt der Stadt N1. vom 25. April 2007 ergab, dass aus
sozialpädiatrischer Sicht eine Behinderung bei I. gegeben sei. Der begutachtende
Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde Dr. H. sah den Schwerpunkt der
sonderpädagogischen Förderung bei "Geistige Entwicklung". Durch Bescheid des
beklagten Amtes vom 27. Juli 2007 erfolgte die Einschulung von I. auf Wunsch der
Kläger im Schuljahr 2007/08 probeweise für ein halbes Jahr im Gemeinsamen
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Unterricht der O. -Grundschule. Bereits mit Antrag vom 20. September 2007 beantragte
die O. -Schule einen Wechsel des Förderortes. Nach Verkürzung der Probezeit im
Gemeinsamen Unterricht erfolgte durch Bescheid des beklagten Amtes vom 29. Oktober
2007 die Zuweisung an eine Förderschule für "Geistige Entwicklung". Als
nächstgelegene Förderschule wurde die Q. -K. -Schule genannt.
Gegen den Förderortwechsel legten die Kläger Widerspruch ein, so dass I. zunächst an
die O.-Schule zurückkehrte.
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Mit Bescheid vom 30. Januar 2008 verfügte das beklagte Amt den Wechsel des
Förderbedarfs für I. von "Geistige Entwicklung" zum Förderschwerpunkt "Lernen" und
den Wechsel des Förderortes von der O.-Schule zur V.-schule, die der Sohn der Kläger
seit dem 28. Januar 2008 besuchte. Hintergrund war die Erkenntnis, dass nach den
Unterlagen und Berichten eine sonderpädagogische Förderung im Bereich "Geistige
Entwicklung" nicht sicher feststellbar sei. Eindeutig liege aber ein sonderpädagogischer
Förderbedarf im Bereich "Lernen" vor.
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Im Zuge der jährlichen Überprüfung des Förderbedarfs zeigte sich, dass I. in der Klasse
und mit den Unterrichtsinhalten an der V -schule deutlich überfordert war und der
Förderschwerpunkt im Bereich der "Geistigen Entwicklung" lag. Insoweit wird Bezug
genommen auf den Bericht der Klassenlehrerin Frau G. und auf das Protokoll der
Primarstufenkonferenz vom 9. Mai 2008 sowie auf das Zeugnis für das Schuljahr
2007/08 der V-schule.
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Nach vorheriger Anhörung der Kläger stellte das beklagte Amt mit Bescheid vom 6.
August 2008 fest, dass der Schwerpunkt der sonderpädagogischen Förderung des
Kindes nicht mehr im Bereich "Lernen", sondern im Bereich "Geistige Entwicklung"
liege, so dass ein Wechsel des Förderortes notwendig sei, damit I. erfolgreich am
Unterricht teilnehmen könne. Als schulischer Förderort wurde die Förderschule mit dem
Schwerpunkt "Geistige Entwicklung" festgelegt und als nächstgelegene Förderschule
die Q. -K. -Schule in N1. genannt. Gleichzeitig wurde die sofortige Vollziehung des
Bescheides angeordnet.
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Hiergegen haben die Kläger am 2. September 2008 die vorliegende Klage erhoben. Zur
Begründung beziehen sie sich auf ihren Vortrag im gleichzeitig anhängig gemachten
einstweiligen Rechtsschutzverfahren. Es stehe nicht eindeutig fest, dass ihr Sohn
geistig behindert sei. Die durchgeführten Intelligenztests seien wissenschaftlich höchst
umstritten und sagten über eine geistige Behinderung nichts aus. Das Kind spreche
vorwiegend türkisch und arabisch. Auf Grund der mangelnden Deutschkenntnisse
könne I. nicht erfolgreich am Unterricht teilnehmen und sich nicht in einer Gemeinschaft
integrieren. Solange die Sprachprobleme nicht gelöst seien, sei auch eine
ordnungsgemäße Beschulung nicht möglich.
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Den gleichzeitigen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer
Klage lehnte das Gericht durch Beschluss vom 7. Oktober 2008 - 1 L 480/08 - ab, da bei
dem Kind I. nach dem sonderpädagogischen Gutachten vom 20. April 2007 von einer
geistigen Behinderung auszugehen sei.
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Die Kläger haben gleichwohl an ihrem Klagebegehren festgehalten und beantragen,
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den Bescheid des beklagten Schulamtes vom 6. August 2008 aufzuheben. Das
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beklagte Amt beantragt,
die Klage abzuweisen. In Ergänzung seines bisherigen Vorbringens führt es an: Bei
dem Sohn der Kläger handele es sich um ein geistig behindertes Kind. In vier
Intelligenztests sei bei dem Kind ein Intelligenzquotient von kleiner 50 und 60
festgestellt worden. Fünf verschiedene Institutionen seien zu dem Ergebnis gelangt,
dass das Kind den Förderschwerpunkt "Geistige Entwicklung" aufweise und der Sohn
zu einem entsprechenden Förderort solle. Versuche, eine Förderung entsprechend dem
Wunsch der Eltern in einem gemeinsamen Unterricht an einer Grundschule oder
Förderschule mit dem Förderschwerpunkt "Lernen" zu realisieren, seien erfolglos
geblieben. Die sonderpädagogische Förderung sei zum Wohl des Kindes und seiner
künftigen geistigen Entwicklung dringend geboten.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der
Beteiligten im Übrigen wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte, das
Verfahren 1 L 480/08 sowie auf den beigezogenen Verwaltungsvorgang.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
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Die Klage ist zulässig, aber nicht begründet.
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Der Bescheid des beklagten Amtes vom 6. August 2008 ist rechtmäßig und verletzt die
Kläger nicht in ihren (Eltern-)Rechten aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, Art. 8 Abs. 1 Satz 2
LV NRW (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Nach § 19 Abs. 2 Satz 1 des Schulgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen - SchulG
NRW - (vom 15. Februar 2005, zuletzt geändert durch Gesetsz vom 27. Juni 2006, SGV.
NRW. 223) in Verbindung mit § 19 Abs. 3 SchulG NRW und § 15 Abs. 1 und 3, § 16
Abs. 3 und § 13 der Verordnung über die sonderpädagogische Förderung, den
Hausunterricht und die Schule für Kranke - AO-SF - (vom 29. April 2005, zuletzt
geändert durch Verordnung vom 30. Oktober 2007, SGV. NRW. 223) entscheidet die
Schulaufsichtsbehörde auf Antrag der Eltern oder der Schule über den
sonderpädagogischen Förderbedarf, Förderschwerpunkt und den Förderort. Vor der
Entscheidung sind ein sonderpädagogisches Gutachten sowie ein medizinisches
Gutachten der unteren Gesundheitsbehörde einzuholen und die Eltern zu beteiligen (§
19 Abs. 2 Satz 2 und 3 SchulG NRW, §§ 3 Abs. 1 Satz 2, 12 AO-SF). Mit der Erstellung
des sonderpädagogischen Gutachtens beauftragt die Schulaufsichtsbehörde eine
sonderpädagogische Lehrkraft, die in Zusammenarbeit mit einer Lehrkraft der
allgemeinen Schule in dem gemeinsamen Gutachten Art und Umfang der notwendigen
Förderung unter Berücksichtigung der individuellen Situation des Schülers feststellt (§
19 Abs. 3 SchulG NRW, § 12 Abs. 1 Satz 1 AO-SF).
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Ein sonderpädagogischer Förderbedarf kann durch eine geistige Behinderung
begründet sein (§ 4 Nr. 2 AO-SF). Eine solche liegt nach § 6 AO-SF vor bei
hochgradigen Beeinträchtigungen im Bereich der kognitiven Funktionen und in der
Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit und wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür
sprechen, dass der Schüler zur selbständigen Lebensführung voraussichtlich auch nach
dem Ende der Schulzeit auf Dauer Hilfe benötigt. In diesem Sinne liegt bei dem Sohn
der Kläger eine geistige Behinderung vor, die einen Wechsel von der probeweise
besuchten Förderschule mit dem Förderschwerpunkt "Lernen" zur Förderschule mit dem
Förderschwerpunkt "Geistige Entwicklung" erfordert.
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Bereits in der pädagogischen Stellungnahme des Kindergartens E2. vom 5. Februar
2007 wird zum Ausdruck gebracht, "dass bei I. eine erhebliche
Sprachentwicklungsverzögerung vorliegt. ... I. hat in den Bereichen Wahrnehmung,
emotionales/soziales Verhalten, Denken, Ausdauer, Konzentration, Merkfähigkeit,
Eigenmotivation und Anweisungsverständnis eine erhebliche Entwicklungsretardierung
von 2-2,5 Jahren...Der Bedarf an heilpädagogischer Förderung war bei I. von Beginn
des Kindergartenbesuches deutlich.....I. braucht ständig Hilfe und Begleitung von den
Pädagogen und bindet somit sehr viel Aufmerksamkeit an sich. (Beiakte Heft 1 S. 42)".
Diese Einschätzung findet sich auch in der Begründung des Antrags der E.schule zur
Eröffnung eines Verfahrens zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs
vom 27. Februar 2007 wieder, wenn dort ausgeführt wird: "...bei der Schulanmeldung ...
fiel jedoch sofort auf, dass er ... über sich, seinen Tagesablauf und seine Familie keine
Auskunft geben konnte. Dieses lag daran, dass I. die deutsche Sprache einerseits nur
wenig beherrscht, obwohl insbesondere seine Geschwister aber auch sein Vater
deutsch sprechen. Andererseits wurde auch deutlich, dass seine Auffassungsgabe stark
eingeschränkt ist. Er antwortet mit kurzen Einwort oder Zweiwort Sätzen, die teilweise
mit der Fragestellung nicht in Zusammenhang standen (Beiakte Heft 1 S. 81 f.)." Die
Gutachterin zur Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs kommt in ihrem
Gutachten vom 20. April 2007 ebenfalls zu dem Schluss, dass der Förderschwerpunkt
im Bereich einer "Geistigen Behinderung" liegt und hat sich deshalb dezidiert für eine
Förderung in der Förderschule für Geistige Entwicklung ausgesprochen. "I. gibt den
Eindruck eines stark entwicklungsverzögerten Kindes mit Einbußen im Wahrnehmungs-
, sprachlichen und sozialen Bereich. Seine intellektuelle Entwicklung hat einen
Rückstand von mehr als 2 1/2 Jahren (Beiakte Heft 1 S. 100)". Dass dieses Gutachten
verwertbar und uneingeschränkt aussagekräftig ist und die hiergegegen erhobenen
Einwände der Kläger nicht durchgreifen, hat das erkennende Gericht bereits in seinem
Beschluss vom 7. Oktober 2008 (1 L 480/08) im einzelnen dargelegt. Der Einzelrichter
hält hieran nach nochmaliger - nicht nur summarischer - Prüfung fest. Es wird zudem
durch die schulärztliche Untersuchung des Gesundheitsamtes der Stadt N1. vom 25.
April 2007 bestätigt. Dort wird ausgeführt: "O.g. Bub weist aus sozialpädiatrischer Sicht
eine Behinderung ... auf. Der Schwerpunkt der Förderung liegt bei § 1 Abs. 1 Nr. 6" AO-
SF. (Beiakte Heft 1 S. 36). Auch die weiteren pädagogischen Stellungnahmen wie die
Berichte der O. -Schule vom 20. September 2007 (Beiakte Heft 1 S. 58), vom 10.
Oktober 2007 (Beiakte Heft 1 S. 61) und 27. Januar 2008 (Beiakte Heft 1 S. 56) kommen
zu derselben Einschätzung: "Er hat einen Förderbedarf mit dem Schwerpunkt Geistige
Entwicklung. ... Derzeit ist es nicht möglich I. während des gesamten Schultages die für
ihn nötige Begleitung zu gewährleisten. ... I. kann nur in Zeiten möglicher Begleitung
beschult werden." Sie finden ihre letzte Bestätigung in dem - undatierten - Kurzbericht
der Klassenlehrerin des Sohnes der Kläger auf der V -schule (Beiakte Heft 1 S. 20) und
dem ebenfalls von ihr verfassten - wiederum undadierten - Bericht über pädagogische
Maßnahmen für I. (Beiakte Heft 1 S. 7). "...Eine Praktikantin unterstütze ihn bei der
Ausführung der Aufgaben. I. war jedoch nicht in der Lage die Arbeitsaufträge zu
erfassen. ... Seit den Osterferien war es überhaupt nicht mehr möglich, I. seinem
Förderbedarf entsprechend zu unterrichten. Eine für I. zum Verständnis der
Unterrichtsinhalte erforderliche Einzelbetreuung durch Kollegen ist nicht möglich. ... Die
Betreuung und Förderung ... ist unverhältnismäßig zeitaufwändig. Die anderen Schüler
müsse auf die für sie dringend erforderliche Zuwendung verzichten. ... Halils
Lernleistung im kognitiven und im sozialen Bereich weicht deutlich von der der anderen
Kinder ab ...".
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Zur Vermeidung von weiteren Wiederholungen wird auf die im Beschluss des Gerichts
vom 7. Oktober 2008 - 1 L 480/08 - niedergelegten Gründe verwiesen, zumal die Kläger
im Klageverfahren keine ergänzenden Rügen gegen die fachlichen Stellungnahmen
erhoben haben.
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Hiervon ausgehend hat das beklagte Amt in rechtlich nicht zu beanstandener Weise
festgestellt, dass der Sohn der Kläger sonderpädagogischer Förderung wegen einer
geistigen Behinderung bedarf, und als Förderort eine Förderschule mit dem
Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung bestimmt.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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