Urteil des VG Münster vom 23.04.2008

VG Münster: verordnung, politische verfolgung, aufschiebende wirkung, bundesamt für migration, recht auf familienleben, gerichtshof für menschenrechte, annahme des antrags, libanon, subjektives recht

Verwaltungsgericht Münster, 8 K 1585/07.A
Datum:
23.04.2008
Gericht:
Verwaltungsgericht Münster
Spruchkörper:
8. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
8 K 1585/07.A
Tenor:
Die Abschiebungsanordnung in dem Bescheid des Bundesamtes für
Migration und Flüchtlinge vom 20. Juli 2007 wird aufgehoben. Im
Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben
werden, trägt der Kläger zu ¾, die Beklagte zu ¼.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige
Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch
Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden,
wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung
Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
T a t b e s t a n d :
1
Der 1979 geborene Kläger ist libanesischer Staatsangehöriger arabischer
Volkszugehörigkeit. Er reiste nach eigenen Angaben am 00.00.0000 mit dem Zug von
Frankreich nach Deutschland ein und beantragte die Anerkennung als Asylberechtigter.
Zur Begründung führte der Kläger bei seiner Anhörung bei dem Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge (Bundesamt) am 11. Juni 2007 aus, er sei wegen „des Krieges und der
dortigen Unsicherheit" erstmals ausgereist. Auf Vorhalt, auf Grund seiner
Fingerabdrücke müsse davon ausgegangen werden, dass er bereits im Januar 2004 in
Schweden Asyl beantragt habe, bestätigte der Kläger dies, und erklärte, sein Asylantrag
sei dort abgelehnt worden, er sei dann im Sommer 2005 in den Libanon zurückgekehrt.
Der Pass des Klägers wurde noch am 17. Oktober 2005 durch die libanesische
Botschaft in T. für ein Jahr verlängert. Auf ein Übernahmeersuchen der Beklagten
erklärte die schwedische Migrationsbehörde gegenüber dem Bundesamt am 19. Juli
2007, der Kläger werde wieder aufgenommen gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. e) der
Verordnung 343/2003/EG des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien
und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem
Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, vgl.
ABlEU Nr. L 50/1 vom 25. Februar 2003. Darauf hin stellte das Bundesamt mit am 10.
2
September 2007 zur Post gegebenem Bescheid vom 20. Juli 2007 fest, dass dem
Kläger in der Bundesrepublik Deutschland kein Asylrecht zusteht und ordnete seine
Abschiebung nach Schweden an. Am 27. Juli 2007 erfuhr das Bundesamt von der
Zentralen Ausländerbehörde E. , dass der Kläger am 11. Juli 2007 in die Illegalität
abgetaucht sei. Dies teilte das Bundesamt der schwedischen Migrationsbehörde am 30.
Juli 2007 mit. Der Kläger beantragte am 5. September 2007 bei dem Bundesamt, ihm
eine Aufenthaltserlaubnis nach §§ 27, 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG zu erteilen, da er
mit einer Deutschen verlobt sei und die Eheschließung unmittelbar bevor stehe. Am 24.
September 2007 hat der Kläger Klage erhoben und um einstweiligen Rechtsschutz
nachgesucht. Er sei am 00.00.0000 aus Schweden kommend in das Bundesgebiet
eingereist. Eine Abschiebung dorthin sei rechtswidrig, da ihm Schweden kein Asyl
gewähre. Auch sei die Beklagte aus humanitären Gründen zum Selbsteintritt
verpflichtet, da die Eheschließung mit seiner deutschen Verlobten unmittelbar
bevorstehe. Am 27. September 2007 setzte das Bundesamt die erkennende Kammer
davon in Kenntnis, dass der Aufenthaltsort des Klägers seit dem 3. September 2007
wieder bekannt sei. Am selben Tag stornierte die Zentrale Ausländerbehörde E. eine für
den 4. Oktober 2007 geplante Überstellung des Klägers nach Schweden via
Kopenhagen auf Grund der Absicht des Klägers, in Deutschland die Ehe zu schließen
und begründete dies am folgenden Tag gegenüber dem Bundesamt damit, dass der
Kläger nach Eheschließung einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis
nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG habe. Der Antrag auf einstweiligen
Rechtsschutz wurde mit Beschluss vom 3. Dezember 2007 - 8 L 582/07.A - abgelehnt,
eine Beschwerde verwarf das OVG NRW mit Beschluss vom 10. Januar 2008 - 15 B
44/08.A - unter Verweis auf § 80 AsylVfG als unzulässig. Der Kläger heiratete am 11.
Dezember 2007 eine in L. lebende Deutsche. Er verfügt über eine bis zum 9. Juli 2008
gültige Duldung, welche die auf Grund der Zuweisungsentscheidung aus dem
Asylverfahren zuständige Ausländerbehörde des Kreises H. am 11. Januar 2008
ausstellte. Einen Umverteilungsantrag des Klägers nach L. lehnte die
Ausländerbehörde der Stadt L. mit Schreiben vom 27. Februar 2008 ab, da eine
Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen auf Grund einer
Nichteinhaltung des Visumverfahrens ausscheide. Auf die Bitte des Bundesamtes vom
17. Januar 2008, Transferdaten bezüglich einer Überstellung des Klägers nach
Schweden zu übersenden oder entgegenstehende Gründe mitzuteilen, teilte die
Ausländerbehörde des Kreises H. unter dem 7. Februar 2008 mit, auf Grund der Heirat
des Klägers mit einer Deutschen werde eine Überstellung nach Schweden unter
Berücksichtigung von Art. 6 GG und §§ 27 f. AufenthG als nicht durchführbar betrachtet.
Darauf hin bat das Bundesamt die Ausländerbehörde unter dem 8. Februar 2008 um
eine Mitteilung, wenn dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werde, da dann die
Zuständigkeit für den Asylantrag auf die Beklagte übergehe. Der Kläger beantragte am
4. April 2008 bei der Ausländerbehörde der Stadt L. die Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen. Eine solche ist ihm bisher nicht erteilt
worden. Nach telefonischer Auskunft der Ausländerbehörde der Stadt L. gegenüber dem
erkennenden Einzelrichter vom 17. April 2008 steht dem ein fehlender Nachweis, dass
der Kläger sich zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen kann,
sowie das Nichtdurchlaufen des Visumverfahrens entgegen. Der Kläger beantragt
schriftsätzlich sinngemäß, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des
Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 20. Juli 2007 zu verpflichten, ihn als
Asylberechtigten anzuerkennen und ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
hilfsweise, die Beklagte unter Aufhebung der Nr. 2 des Bescheides des Bundesamtes
für Migration und Flüchtlinge vom 20. Juli 2007 zu verpflichten, festzustellen, dass bei
ihm die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen. Die Beklagte
beantragt schriftsätzlich, die Klage abzuweisen. Wegen der weiteren Einzelheiten des
Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen
Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes und der Ausländerbehörde des Kreises H.
Bezug genommen. E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
Das Gericht kann trotz Ausbleiben der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung
entscheiden, da die ordnungsgemäß geladenen Beteiligten in der Ladung hierauf
hingewiesen worden sind (§ 102 Abs. 2 VwGO). Die zulässige Klage ist (nur) in dem
aus dem Tenor ersichtlich Umfang begründet. Der angefochtene Bescheid des
Bundesamtes vom 20. Juli 2007 ist hinsichtlich seiner Nr. 1 rechtmäßig und verletzt den
Kläger insoweit nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 und 5 VwGO). Denn der Kläger
hat keinen Anspruch auf eine Anerkennung als Asylberechtigter (1.), auf Zuerkennung
der Flüchtlingseigenschaft (2.) oder auf die Feststellung, dass bei ihm
Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen (3.). Demgegenüber
war die als Nr. 2 in dem Bescheid vom 20. Juli 2007 enthaltene
Abschiebungsanordnung rechtswidrig und verletzte den Kläger in seinen Rechten, so
dass sie gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufzuheben war (4.). 1. Obwohl die Beklagte
in dem maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 AsylVfG) für die
Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist (s. 4.), hat der Kläger keinen Anspruch
auf eine Anerkennung als Asylberechtigter. Ihm droht bei einer Rückkehr in den Libanon
nämlich keine politische Verfolgung im Sinne des Art. 16a Abs. 1 GG. Denn der Kläger
hat allein Angst vor einem Krieg und im Libanon allgemein bestehende Unsicherheit
geltend gemacht. Kriegszustände und eine unsichere allgemeine Lage begründen für
sich genommen aber keine politische Verfolgung. Darüber hinaus sind die
Kriegshandlungen zwischen der Hisbollah und Israel seit August 2006 beendet, ohne
dass zeitnahe erneute kriegerische Auseinandersetzungen beachtlich wahrscheinlich
sind. 2. Obwohl die Beklagte wie erwähnt nun für die Durchführung des Asylverfahrens
zuständig ist (s. 4.), hat der Kläger auch keinen Anspruch auf Verpflichtung der
Beklagten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen (§ 3 Abs. 1 AsylVfG).
Kriegszustände und eine unsichere allgemeine Lage begründen nämlich grundsätzlich
auch keine Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG. Darüber hinaus sind die
Kriegshandlungen zwischen der Hisbollah und Israel wie erwähnt beendet. 3. Auch ein
Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG ist nicht gegeben. Aus der
angespannten Sicherheitslage im Libanon ergibt sich insbesondere keine beachtliche
Wahrscheinlichkeit, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 28. März 2001 - 1 B 83.01 - und vom
18. Juli 2001 - 1 B 71.01 - sowie Urteil vom 17. Oktober 1995 - 9 C 9.95 -, für eine
erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit des Klägers i.S.d. § 60 Abs. 7
Satz 1 AufenthG. Trotz der anhaltenden innenpolitischen Spannungen und
gelegentlichen Mordanschläge, insbesondere in Beirut, auf staatliche Funktionsträger,
welche teilweise auch Unbeteiligte töten, vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Libanon
vom 18. März 2008, 508-516.80/3 LBN, S. 8, 15, kann nicht davon ausgegangen
werden, dass der Kläger im Libanon landesweit einer erheblichen individuellen Gefahr
für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten
Konflikts ausgesetzt ist (§ 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG). Denn diese Anschläge sind zu
vereinzelt und auf große Städte, insbesondere Beirut, konzentriert, als dass aus ihnen
eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer erheblichen landesweiten Gefährdung des
Klägers folgen könnte. 4. Die Abschiebungsanordnung war rechtswidrig und verletzte
den Kläger in seinen Rechten. Denn die Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage
des § 34a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 27a AsylVfG liegen in dem maßgeblichen Zeitpunkt der
mündlichen Verhandlung (§ 77 AsylVfG) nicht mehr vor. Nach § 34a Abs. 1 Satz 1
AsylVfG ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen sicheren Drittstaat (§ 26a
3
AsylVfG) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§
27a AsylVfG) an, sobald feststeht, das die Abschiebung durchgeführt werden kann. Die
Drittstaatenregelung nach Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG, § 26a AsylVfG ist im Rahmen der
vorrangigen Zuständigkeitsregelungen der Verordnung 343/2003/EG i.V.m. § 27a
AsylVfG gemäß Art. 23 bzw. Art. 16a Abs. 5 GG unanwendbar, vgl. BVerfG, Beschluss
vom 30. Juli 2003 - 2 BvR 1880/00 -, BVerfGK 1, 298; Funke-Kaiser, in
Gemeinschaftskommentar zum AsylVfG, § 26a Rn. 113 bis 121, § 27a Rn. 5 f., 140 bis
142; Hailbronner, Ausländerrecht, Bd. 2, B 1, Art. 16a Rn. 444a und Bd. 3, B 2, § 26a
Rn. 63. Gemäß § 27a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf
Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines
völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Für
die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers ist kein anderer Staat mehr auf Grund
von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen
Vertrages zuständig. Insoweit käme allein eine Zuständigkeit Schwedens nach der
Verordnung 343/2003/EG in Betracht, vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Bd. 3, B 2, § 26a
Rn. 63; Art. 25 Abs. 1 der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über
Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung
der Flüchtlingseigenschaft, s. ABlEU Nr. L 326/13 vom 13. Dezember 2005. Zwar
erklärte die schwedische Migrationsbehörde am 00.00.0000, wegen des in Schweden
bereits in den Jahren 2004/2005 durchgeführten Asylverfahrens werde der Kläger
wieder aufgenommen gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. e) der Verordnung 343/2003/EG. Diese
ursprüngliche Zuständigkeit Schwedens ist auch nicht gemäß Art. 16 Abs. 2 der
Verordnung 343/2003/EG erloschen, da dem Kläger in Deutschland jedenfalls bisher
kein Aufenthaltstitel erteilt worden ist, weil die ihm erteilte Duldung die Ausreisepflicht
des Klägers unberührt lässt (§ 60a Abs. 3 AufenthG), so dass sie kein Aufenthaltstitel im
Sinne des Art. 2 lit. j) der Verordnung 343/2003/EG ist, welcher den Aufenthalt
„gestattet", vgl. aber auch Funke-Kaiser, in Gemeinschaftskommentar zum AsylVfG, §
27a Rn. 251. Auch kann nicht festgestellt werden, dass die ursprüngliche Zuständigkeit
Schwedens auf Grund einer mindestens dreimonatigen Abwesenheit des Klägers aus
dem Gebiet der Mitgliedstaaten nach Art. 16 Abs. 3 der Verordnung 343/2003/EG
erloschen ist. Der Kläger hat zwar gegenüber dem Bundesamt behauptet, er sei im
Sommer 00000 aus Schweden in den Libanon zurück gekehrt und sei erst Ende Mai
0000 über Frankreich nach Deutschland eingereist. Hierfür hat er aber auch nach
eigenen Angaben keine Nachweise. Eine solche Ausreise begegnet zudem
nachhaltigen Zweifeln, da der Pass des Klägers noch am 17. Oktober 2005 durch die
libanesische Botschaft in T. für ein Jahr verlängert wurde und weil sich in dem Pass
weder ein Stempel einer Ausreise aus dem Schengen-Gebiet noch einer späteren
Wiedereinreise befindet. Nach Art. 6a des Übereinkommens zur Durchführung des
Übereinkommens von Schengen, vgl. BGBl. 1993 II S. 1010, zuletzt geändert durch Art.
Artikel 20 der Verordnung 1931/2006/EG, s. ABlEU Nr. L 405/1 vom 30. Dezember
2006, in der Fassung des Art. 2 der Verordnung 2133/2004/EG des Rates vom 13.
Dezember 2004 zur Verpflichtung der zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten zum
systematischen Abstempeln der Reisedokumente von Drittausländern beim
Überschreiten der Außengrenzen der Mitgliedstaaten und zur diesbezüglichen
Änderung der Bestimmungen des Schengener Durchführungsübereinkommens und des
Gemeinsamen Handbuchs, vgl. ABlEU Nr. L 369/5 vom 16. Dezember 2004, der ab dem
1. Januar 2005 galt und erst ab dem 13. Oktober 2006 durch Art. 39 der Verordnung
(EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006
über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen
(Schengener Grenzkodex), vgl. ABlEU Nr. L 105/1 vom 13. April 2006, aufgehoben und
in der Sache durch die entsprechenden Art. 7 und 10 des Grenzkodex ersetzt wurde,
werden die Reisedokumente von Drittausländern aber nicht nur bei der Einreise,
sondern auch bei der Ausreise systematisch abgestempelt. Daher kann von einer
mindestens dreimonatigen Abwesenheit des insoweit materiell beweisbelasteten
Klägers aus dem Gebiet der Mitgliedstaaten nach Art. 16 Abs. 3 der Verordnung
343/2003/EG nicht ausgegangen werden. Es ist auch weder vorgetragen noch
ersichtlich, dass die Verpflichtung Schwedens zur Wiederaufnahme des Klägers nach
Art. 16 Abs. 4 der Verordnung 343/2003/EG erloschen ist, was voraussetzen würde,
dass Schweden nach der Ablehnung des Asylantrags durch seine Behörden die
notwendigen Vorkehrungen getroffen und umgesetzt hat, damit der Kläger in den
Libanon zurückkehrt. Dabei ist zudem zu berücksichtigen, dass nach dem hier
einschlägigen Art. 4 Satz 2 der Verordnung 1560/2003/EG der Kommission vom 2.
September 2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung 343/2003/EG, vgl.
ABlEU Nr. L 222/3 vom 5. September 2003, ein Erlöschen der Zuständigkeit nach Art.
16 Abs. 2, 3 oder 4 der Verordnung 343/2003/EG ausschließlich auf Grund von
Tatsachenbeweisen oder umfassenden und nachprüfbaren Erklärungen des
Asylbewerbers geltend gemacht werden kann, welche nicht vorliegen. Jedoch ist
Deutschland seit dem 20. Januar 2008 nach Art. 20 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung
343/2003/EG für das Asylbegehren des Klägers zuständig. Nach dieser Vorschrift geht
die Zuständigkeit auf den Mitgliedstaat über, in dem der Asylantrag eingereicht wurde,
wenn die Überstellung gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. e), Art. 20 Abs. 1 lit. d) der Verordnung
343/2003/EG nicht spätestens innerhalb der Frist von sechs Monaten nach der
Annahme des Antrags auf Wiederaufnahme oder nach der Entscheidung über den
Rechtsbehelf, der aufschiebende Wirkung hat, durchgeführt wird. Da weder der
erfolglose Antrag des Klägers auf einstweiligen Rechtsschutz noch diese Klage
aufschiebende Wirkung entfaltet (§ 75 Satz 1 AsylVfG) und die schwedische
Migrationsbehörde am 19. Juli 2007 die Wiederaufnahme des Kläger erklärte, lief die
Überstellungsfrist am Ende des 19. Januar 2008 ab (Art. 20 Abs. 1 lit. d), Art. 25 Abs. 1
der Verordnung 343/2003/EG). Zwar setzt Art. 20 Abs. 1 lit. d) für die Überstellung auch
voraus, dass diese „materiell möglich ist" und dies ist nicht der Fall, wenn der
Asylbewerber flüchtig ist, wie sich aus Art. 20 Abs. 2 der Verordnung 343/2003/EG und
aus Art. 9 Abs. 1 und 2 der Verordnung 1560/2003/EG ergibt. Auch war der Kläger nach
den von ihm inhaltlich nicht bestrittenen Mitteilungen der Ausländerbehörde zwischen
dem 11. Juli und dem 3. September 2007 unbekannten Aufenthaltes, was der
schwedischen Migrationsbehörde auch mitgeteilt wurde. Dies kann nach dem
eindeutigen Wortlaut des Art. 20 Abs. 1 lit. d) der Verordnung 343/2003/EG
(„spätestens") aber nicht zu einem späteren Beginn der Sechsmonatsfrist führen, so
auch Hailbronner, Ausländerrecht, Bd. 3, B 2, § 34a Rn. 22, zu dem inhaltsgleichen Art.
19 Abs. 3 der Verordnung 343/2003/EG, sondern höchstens zu einer Verlängerung der
Überstellungsfrist nach Art. 20 Abs. 2 der Verordnung 343/2003/EG. Es ist weder jedoch
von der Beklagten vorgetragen noch ersichtlich, dass die Überstellungsfrist gemäß Art.
20 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung 343/2003/EG bis zu dem Tag der mündlichen
Verhandlung oder bis zu einem späteren Zeitpunkt verlängert worden wäre. Dabei kann
dahinstehen, ob eine Verlängerungsentscheidung zwischen den beteiligten
Mitgliedstaaten auch konkludent erfolgen kann, indem der um Wiederaufnahme
ersuchte Staat einer Mitteilung des Aufenthaltsstaates, dass der Asylbewerber flüchtig
ist, nicht widerspricht, so Funke-Kaiser, in Gemeinschaftskommentar zum AsylVfG, §
27a Rn. 273, 261 f., und ob zwischen der Beklagten und Schweden eine entsprechende
Übung besteht. Selbst wenn eine - dem Gericht nicht zur Kenntnis gelangte -
Verlängerungsentscheidung getroffen worden sein sollte, wäre diese rechtswidrig und
verletzte den Kläger in seinen Rechten. Zum Einen wäre eine Verlängerung vom
Tatbestand des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung 343/2003/EG nicht gedeckt, da
danach die Frist auf höchstens ein Jahr verlängert werden kann, wenn die Überstellung
oder die Prüfung des Antrags auf Grund der Inhaftierung des Asylbewerbers nicht
erfolgen konnte, oder auf höchstens achtzehn Monate, wenn der Asylbewerber „flüchtig
ist". Da der Kläger bei Ablauf der Überstellungsfrist nicht mehr flüchtig war, steht bereits
der Wortlaut des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 einer Verlängerung entgegen. Auch vom Sinn und
Zweck der Vorschrift ist nicht ersichtlich, warum diese eine Verlängerung der
Überstellungsfrist auf mehr als sechs Monaten ab dem Wegfall der Hinderungsgründe,
hier also auf einen Zeitpunkt nach dem 3. März 2008, ermöglichen sollte. Vielmehr
deutet gerade die Maximalfrist von höchstens achtzehn Monaten darauf hin, dass wenn
der Asylbewerber untertaucht, eine Fristverlängerung auf bis zu sechs Monate nach
seinem Wiederauftauchen, insgesamt jedoch auf höchstens achtzehn Monate
vorgenommen werden darf. Hierfür spricht auch der Wortlaut des Art. 9 der Verordnung
1560/2003/EG, wonach eine Unterrichtung erforderlich ist, wenn sich die Überstellung
wegen materieller Umstände, wie dem Sichentziehen einer Überstellung, verzögert. Die
für den 00.00.0000 geplante Überstellung des Klägers nach Schweden ist nicht an
seinem zu diesem Zeitpunkt seit gut einem Monat beendeten Untertauchen, so aber der
Sachverhalt in dem Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 31.
August 2006 - 9 UE 1464/06.A -, Rn. 41, juris, sondern an seiner Absicht, in
Deutschland mit einer Deutschen die Ehe zu schließen, gescheitert. Zum Anderen wäre
selbst bei Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 der
Verordnung 343/2003/EG nicht ersichtlich, dass die Beklagte das ihr durch diese
Vorschrift eingeräumte Ermessen fehlerfrei ausgeübt hätte. Denn auch im Rahmen der
Anwendung von Unions- bzw. Gemeinschaftsrecht, dem gegenüber nationalem Recht
Anwendungsvorrang zukommt, haben die deutschen Staatsorgane, soweit das Unions-
bzw. Gemeinschaftsrecht ihnen Umsetzungsspielräume lässt, wie dies hinsichtlich der
Ermessensermächtigung des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung 343/2003/EG der
Fall ist, diese Umsetzungsspielräume in einer grundrechtsschonenden Weise
auszufüllen, vgl. BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2005 - 2 BvR 2236/04 -, BVerfGE 113, 273,
Rn. 80 ff., und Beschluss vom 13. März 2007 - 1 BvF 1/05 -, Rn. 68 bis 74. Darüber
hinaus ist durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dessen
Entscheidungen durch alle staatlichen Organe zu berücksichtigen sind, vgl. BVerfG,
Beschluss vom 14. Oktober 2004 - 2 BvR 1481/04 -, Rn. 29 ff., geklärt, dass die
Vertragsstaaten der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und
Grundfreiheiten (EMRK), vgl. BGBl. 1952 II 686, 953, sich ihren Konventionspflichten
nicht durch eine Übertragung von Zuständigkeiten auf internationale oder
supranationale Organisationen entziehen können, vgl. EGMR, Urteil vom 18. Februar
1999 - 24833/94 -, Matthews, NJW 1999, 3107. Dementsprechend ist auch nach der
ständigen Rechtsprechung des EuGH die EMRK auslegungsleitend bei der Auslegung
und Anwendung des Gemeinschaftsrechts, vgl. EuGH, Urteil vom 27. Juni 2006, Rs. C-
540/03, EP/Rat, Rn. 35, 52 ff. Es ist aber nicht ersichtlich, dass die Beklagte bzw. das
Bundesamt im Rahmen einer etwaigen Entscheidung über die Fristverlängerung bzw.
über die Aufrechterhaltung einer solchen Fristverlängerung berücksichtigt hat, dass der
Kläger am 11. Dezember 2007 eine in L. lebende Deutsche heiratete. Dass diese Ehe
dem Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG und des Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht unterfiele,
weil sie als sogenannte Scheinehe von beiden Ehepartnern allein zur Ermöglichung
eines Aufenthaltsrechts des Klägers im Bundesgebiet geschlossen worden wäre, ist
weder vorgetragen noch ersichtlich, insbesondere nicht von den Ausländerbehörden
angenommen worden. Die in Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 GG enthaltene
wertentscheidende Grundsatznorm nach welcher der Staat die Familie zu schützen und
zu fördern hat, verpflichtet die staatlichen Organe, bei der Entscheidung über
aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren)
Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im
Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, d. h. entsprechend dem Gewicht dieser
Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. D Dem entspricht ein
Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG darauf, dass die zuständigen
Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über das Aufenthaltsbegehren seine
familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen
berücksichtigen, Vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Dezember 2005 - 2 BvR 1001/04 -,
www.bverfg.de, Rn. 16, = InfAuslR 2006, 122. Das Recht nach Art. 8 Abs. 1 EMRK, mit
seinem Ehegatten bzw. nahen Verwandten zu leben, bringt für die Mitgliedstaaten
Verpflichtungen mit sich, bei denen es sich um negative Verpflichtungen handeln kann,
den Aufenthalt einer Person nicht zu beenden, oder um positive Verpflichtungen, eine
Person in das Hoheitsgebiet einreisen und sich dort aufhalten zu lassen, vgl. EuGH,
Urteil vom 27. Juni 2006, Rs. C-540/03, EP/Rat, Rn. 52; EGMR, Urteil vom 11. Juli 2000
- 29192/95 -, Ciliz, InfAuslR 2000, 473. Nach alledem war eine - von der Beklagten auch
nicht beantragte - Aussetzung des Verfahrens (§ 94 VwGO analog) bis zu einer
(etwaigen) Entscheidung des EuGH über das Vorabentscheidungsersuchen des
Kammarrättan I T. vom 21. Januar 2008 - Rs. C-19/08 - betreffend Art. 20 Abs. 1 lit. d),
Abs. 2 der Verordnung 343/2003/EG durch die gemäß Art. 68 EG selbst nicht
vorlageberechtigte Kammer nicht angezeigt. Die somit objektiv rechtswidrige
Abschiebungsanordnung verletzte auch subjektive öffentliche Rechte des Klägers.
Unabhängig von der Frage, ob die Vorschriften der Verordnung 343/2003/EG ein
subjektives Recht auf Durchführung eines Asylverfahrens in dem nach den Vorschriften
der Verordnung zuständigen Mitgliedstaat begründen, vgl. Funke-Kaiser, in
Gemeinschaftskommentar zum AsylVfG, § 27a Rn. 123 ff., 137 f., Art. 34a Rn. 90,
sprechen bereits der sechste und der siebte Erwägungsgrund der Verordnung
343/2003/EG dafür, dass das Recht auf Familienleben aus Art. 8 Abs. 1 EMRK auch im
Rahmen der Anwendung der Verordnung zu berücksichtigen ist, vgl. Funke-Kaiser, in
Gemeinschaftskommentar zum AsylVfG, § 27a Rn. 125 f.. Nach dem sechsten
Erwägungsgrund soll die Einheit der Familie gewahrt werden, soweit dies mit den
sonstigen Zielen vereinbar ist, die mit der Festlegung von Kriterien und Verfahren zur
Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats
angestrebt werden. Gemäß dem siebten Erwägungsgrund und nach Art. 15 der
Verordnung sollten die Mitgliedstaaten sogar von den Zuständigkeitskriterien
abweichen können, um eine räumliche Annäherung von Familienmitgliedern
vorzunehmen, sofern dies aus humanitären Gründen erforderlich ist. Schließlich ist
erneut zu beachten, dass nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH die EMRK
einschließlich ihres Art. 8 auslegungsleitend ist bei der Auslegung und Anwendung des
Gemeinschaftsrechts, vgl. EuGH, Urteil vom 27. Juni 2006, Rs. C-540/03, EP/Rat, Rn.
35, 52 ff.. Jedenfalls verletzte die Abschiebungsanordnung die Rechte des Klägers aus
Art. 16a Abs. 1 GG auf Durchführung eines Asylverfahrens, vgl. BVerfG, Beschluss vom
30. Juli 2003 - 2 BvR 1880/00 -, BVerfGK 1, 298; Funke-Kaiser, in
Gemeinschaftskommentar zum AsylVfG, § 27a Rn. 6, 138 f., und wie gezeigt aus Art. 6
Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK auf Berücksichtigung der ehelichen
Lebensgemeinschaft des Klägers mit seiner deutschen Ehefrau bei der Entscheidung
über eine Aufenthaltsbeendigung durch Aufrechterhaltung der Abschiebungsanordnung.
5. Die Nebenentscheidungen beruhen auf § 155 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 VwGO, § 83b
AsylVfG sowie auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO. Der Streitwert ergibt
sich aus § 30 RVG.
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