Urteil des VG Münster vom 26.02.2007

VG Münster: jugendhilfe, berufliche ausbildung, suizidversuch, berufsausbildung, persönlichkeit, volljährigkeit, schulausbildung, form, sozialhilfe, isolierung

Verwaltungsgericht Münster, 9 K 979/05
Datum:
26.02.2007
Gericht:
Verwaltungsgericht Münster
Spruchkörper:
9. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
9 K 979/05
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf
die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung
abwenden, wenn nicht der Beklagte zuvor Sicherheit in Höhe des
beizutreibenden Betrages leistet.
T a t b e s t a n d:
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Der Kläger begehrt vom Beklagten die Erstattung der Kosten für die Hilfemaßnahme
betreffend die am 14. Juli 1976 im Iran geborene O. L. (im Folgenden: Hilfeempfängerin)
in der Zeit vom 14. Juli 1994 bis 30. September 1996.
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Die Hilfeempfängerin reiste als unbegleitete Jugendliche am 10. August 1988 in die
Bundesrepublik Deutschland ein und wurde vom Jugendamt der Stadt Frankfurt am
Main am 11. August 1988 in der Gemeinnützigen Schottener Rehabilitations- und
Betreuungseinrichtung der Jugend- und Sozialhilfe GmbH in Schotten untergebracht.
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Nachdem die Hilfeempfängerin am 18. Dezember 1989 dem Landkreis Vogelsberg
zugewiesen worden war, gewährte der Kläger Hilfe zur Erziehung in Form der
Unterbringung der Hilfeempfängerin in der genannten Einrichtung.
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Mit Verfügung vom 18. November 1994 bestimmte das Bundesverwaltungsamt den
Beklagten zum überörtlichen Träger der Jugendhilfe. Sodann machte der Kläger
gegenüber dem Beklagten mit Schreiben vom 02. Dezember 1994 einen Anspruch
gemäß § 89 d SGB VIII auf Erstattung der Kosten der Hilfemaßnahme ab dem 01. April
1993 geltend.
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Mit Schreiben vom 17. Januar 1994 beantragte die Hilfeempfängerin, ihr über das 18.
Lebensjahr hinaus die Jugendhilfe weiter zu gewähren. Zur Begründung führte sie aus,
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dass sie die 11. Klasse des Gymnasiums besuche und voraussichtlich Ende des
Schuljahres 1996 ihren Schulabschluss erreichen werde.
Mit Bescheid vom 25. Januar 1994 bewilligte der Kläger die beantragte Hilfe gemäß §
41 SGB VIII. Diese Hilfe wurde zum 30. September 1996 eingestellt, nachdem die
Hilfeempfängerin ihre Schulausbildung abgeschlossen hatte und ab dem 01. Oktober
1996 eine Ausbildung zur Kinderkrankenpflegerin begann.
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Nachdem der Beklagte zunächst auf die Einrede der Verjährung verzichtet hatte,
erkannte er mit Schreiben vom 06. Dezember 2004 seine Kostenerstattungspflicht für
die Zeit vom 08. Dezember 1993 bis 13. Juli 1994 an. Für den darüber hinausgehenden
Zeitraum bis zum 30. September 1996 lehnte er die Kostenerstattung mit der
Begründung ab, dass die Voraussetzungen des § 41 SGB VIII für eine Hilfe für junge
Volljährige nicht vorgelegen hätten.
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Daraufhin hat der Kläger am 30. Mai 2005 die vorliegende Klage erhoben.
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Er meint, dass auch die persönliche Perspektiven eröffnende Schul- und
Berufsausbildung ein Hilfeziel der Jugendhilfe sein könne. Aus der Teambesprechung
vom 10. Mai 1993 habe sich zudem ergeben, dass die Hilfeempfängerin noch nicht zu
einer eigenständigen Persönlichkeit herangereift sei. Auch habe sie das 12. Schuljahr
wiederholen müssen. Am 21. August 1995 sei die Hilfeempfängerin dann zur
Verselbstständigung in eine Außenwohngruppe verlegt worden. Nachdem sich
herausgestellt habe, dass die Hilfeempfängerin das Abitur nicht erreichen, sondern mit
einem Abgangszeugnis die Schule verlassen würde, habe sie im März 1996 einen
Suizidversuch unternommen. Danach sei es gelungen, die Hilfeempfängerin zu
stabilisieren, so dass die Hilfe mit Beginn der krankenpflegerischen Ausbildung zu Ende
September 1996 habe beendet werden können. An die Dokumentation der Hilfe dürften
keine allzu strengen Anforderungen gestellt werden. Auch könne es nicht auf die
Zufälligkeit des 18. Geburtstages ankommen. Zu berücksichtigen sei vielmehr, dass die
Hilfeempfängerin mehr als 1/3 ihres Lebens in der Jugendhilfeeinrichtung verbracht
habe, diese Einrichtung grundsätzlich bedarfsgeeignete Hilfe erbracht habe und die
Lebensperspektive der Hilfeempfängerin eine Ausbildung/Berufsausbildung erfordert
habe.
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Der Kläger beantragt,
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den Beklagten zu verurteilen, an den Kläger 54.619,22 Euro nebst Zinsen in Höhe von
fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
12
Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung macht er geltend, nach den vorgelegten Unterlagen seien keine
Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Voraussetzungen des § 41 Abs. 1 Satz 1 SGB
VIII vorgelegen hätten. Diese müssten im Zeitpunkt der Bewilligung vorgelegen haben
und sich nicht erst im Laufe der Hilfegewährung ergeben haben.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten
wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der vorgelegten Verwaltungsvorgänge
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ergänzend Bezug genommen.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:
17
Die Klage ist als allgemeine Leistungsklage zulässig, jedoch nicht begründet. Dem
Kläger steht der geltend gemachte Anspruch auf Kostenerstattung gem. § 89 d SGB VIII
nicht zu.
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Anzuwenden ist die Vorschrift in der Fassung des 1. Gesetzes zur Änderung des 8.
Buches Sozialgesetzbuch vom 16. Februar 1993 (BGBl. I S. 239 - SGB VIII F. 1993 -).
Die durch das zweite Gesetz zur Änderung des 11. Buches Sozialgesetzbuch (SGB XI)
und anderer Gesetze vom 29. Mai 1998 (BGBl. I S. 1188) in Kraft getretene Neufassung
des § 89 d SGB VIII ist für den streitbefangenen Erstattungsanspruch nicht einschlägig.
Nach der in Artikel 2 Nr. 11 des Änderungsgesetzes enthaltenen
Übergangsbestimmung (Neufassung des § 89 h Abs. 2 SGB VIII) sind Kosten, für deren
Erstattung das Bundesverwaltungsamt - wie hier - vor dem 01. Juli 1998 einen
erstattungspflichtigen überörtlichen Träger bestimmt hat, nach den bis zu diesem
Zeitpunkt geltenden Vorschriften zu erstatten.
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Nach § 89 d SGB VIII a. F. hat der vom Bundesverwaltungsamt bestimmte überörtliche
Träger der Jugendhilfe die aufgewendeten Kosten der Jugendhilfe zu erstatten, die
einem nicht im Inland geborenen jungen Menschen, der im Inland keinen gewöhnlichen
Aufenthalt hat, innerhalb eines Monats nach der Einreise gewährt wurde.
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Die aufgewendeten Kosten sind allerdings nur zu erstatten, soweit die Erfüllung der
Aufgaben den Vorschriften des Sozialgesetzbuches - 8. Buch - entspricht (§ 89 f Abs. 1
Satz 1 SGB VIII), wobei die Grundsätze gelten, die im Bereich des tätig gewordenen
Trägers zur Zeit des Tätigwerdens angewandt werden (§ 89 f Abs. 1 Satz 2 SGB VIII).
Die Aufgabenerfüllung entspricht nur dann dem genannten Gesetz, wenn sie
rechtmäßig ist, so dass eine Erstattung ausscheidet, wenn und soweit die Jugendhilfe
rechtswidrig war.
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Vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 19. August 2003 - 9 S 2398/02 -; Wiesner, SGB VIII,
Kommentar, 3. Aufl., § 89 f Rnr. 3.
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Im vorliegenden Fall entspricht die Gewährung von Hilfe in Form der Heimunterbringung
bzw. des „Betreuten Wohnens" nicht den Vorschriften des SGB VIII.
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Bei der hier im fraglichen Zeitraum vom 14. Juli 1994 bis 30. September 1996
gewährten Hilfe des Klägers handelte es sich um eine solche an eine junge Volljährige,
da die Hilfeempfängerin am 14. Juli 1994 das 18. Lebensjahr vollendet hatte.
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Als Rechtsgrundlage für die gewährte Hilfe kommt nur § 41 Abs. 1 SGB VIII in Betracht.
Danach soll einem jungen Volljährigen Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung und zu
einer eigenverantwortlichen Lebensführung gewährt werden, wenn und so lange die
Hilfe auf Grund der individuellen Situation des jungen Menschen notwendig ist. Dazu
bedarf es der Darlegung substantiierter Tatsachen in der Person des jungen
Volljährigen oder in seinem sozialen Umfeld, die eine Gefährdung seiner weiteren
Entwicklung im Sinne einer drohenden Abweichung von einem bestimmten
Erziehungsziel erwarten lassen.
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Vgl. dazu OVG NRW, Beschluss vom 12. Juni 2003 - 12 A 4864/00 - Mrozynski, Hilfe für
junge Volljährige, ZfJ 1996, S. 159 (161).
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Der Kläger hat das Vorliegen dieser Voraussetzungen nicht hinreichend substantiiert
dargelegt.
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Soweit sich der Kläger auf das besondere persönliche Schicksal der Hilfeempfängerin
und die damit zusammenhängenden psychosozialen Probleme und interkulturellen
Konflikte bezieht, werden damit nicht hinreichend substantiiert Tatsachen in der Person
der jungen Volljährigen oder in ihrem Umfeld aufgezeigt. Es fehlt der konkrete Bezug
zum Entwicklungsstand der Hilfeempfängerin zu Beginn des hier interessierenden
Hilfezeitraums. Aus der Konfrontation mit einer fremden Kultur und aus Problemen mit
der Sprache kann nicht ohne Weiteres auf eine Entwicklungsverzögerung geschlossen
werden. Hierzu bedarf es vielmehr im Einzelfall der Darlegung konkreter Tatsachen. Die
entsprechende Substantiierung von Fakten, von denen auf das Vorliegenden der
Voraussetzungen des § 41 SGB VIII geschlossen werden kann, ist auch nicht -
entgegen der Ansicht des Klägers - wegen der besonderen Lage der
Erstversorgungseinrichtungen verzichtbar. Soweit der Kläger hierzu Rechtsprechung
zitiert, handelte es sich dabei um Fälle von Erstversorgung durch Inobhutnahme. Im
vorliegenden Fall ging es sich jedoch nicht mehr um eine Erstversorgung, sondern um
eine Hilfe für junge Volljährige nach vorausgegangener langjähriger Heimerziehung.
Eben so wenig ist der Umstand, dass es sich bei der Gemeinnützigen Schottener-
Rehabilitations- und Betreuungseinrichtung der Jugend- und Sozialhilfe GmbH in
Schotten um eine grundsätzlich geeignete Einrichtung handelt, geeignet, die Prüfung
der Voraussetzungen für eine Hilfe im Übrigen überflüssig zu machen.
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Im Übrigen ergibt sich aus den überreichten Unterlagen des Klägers, dass die
Hilfeempfängerin zu Beginn der hier in Rede stehenden Hilfe für junge Volljährige
bereits ein hohes Maß an Selbständigkeit und persönlicher Reife erlangt hatte. So hatte
sie trotz anfänglicher Isolierung aufgrund einer engen Beziehung zu ihrem jüngeren
Bruder und ihrer diesbezüglich eingenommenen Rolle als „Ersatzmutter" enge Kontakte
zu Mitschülern und hatte nach dem Wechsel zum Gymnasium neue Freunde und
Freundinnen gewonnen. Dem Umstand, dass die Hilfeempfängerin die Rolle als
Ersatzmutter für ihren 6 Jahre jüngeren Bruder übernommen hatte, ist zu entnehmen,
dass sie ein großes Verantwortungsbewusstsein hatte. Dass sie dieser Rolle gerecht
wurde, zeigt, dass sie von ihrer Persönlichkeitsentwicklung her weiter als andere
Jugendliche gereift war. Gegenteiliges lässt sich den Entwicklungsberichten und
Hilfeplänen nicht entnehmen.
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Soweit in der Teambesprechung im Mai 1993 festgestellt worden ist, dass die
Hilfeempfängerin noch nicht zu einer eigenständigen Persönlichkeit gereift war, lag
diese Aussage ein Jahr vor Eintritt der Volljährigkeit. Zudem fehlen jegliche Angaben,
auf denen dieses Werturteil beruht.
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Im Vordergrund der Hilfeplanung stand in der folgenden Zeit das Ziel, der
Hilfeempfängerin eine angemessene Schul/Berufsausbildung zu ermöglichen. So
enthält der Entwicklungsbericht vom 15. März 1994 hauptsächlich Ausführungen im
Hinblick auf die schulischen Leistungen der Hilfeempfängerin. Diese hat ihren Antrag
auf Weitergewährung von Hilfe auch nur damit begründet, dass sie die elfte Klasse des
Gymnasiums besuche und voraussichtlich Ende des Schuljahres 1996 ihren
Schulabschluss erreichen werde. Entsprechend ist auch die Hilfe zum 30. September
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1996 eingestellt worden, nach dem die Hilfeempfängerin ihre Schulausbildung
abgeschlossen und ab dem 1. Oktober 1996 eine Ausbildung als
Kinderkrankenpflegerin begonnen hatte.
Entgegen der Ansicht des Klägers berechtigt allein die Ermöglichung einer Schul- /
Berufsausbildung nicht die Gewährung einer Hilfe gemäß § 41 SGB VIII. Vielmehr
differenziert der Gesetzgeber mit der Einführung des Kinder- und Jugendhilferechts im
Gegensatz zum früheren JWG zwischen der Hilfe für junge Volljährige einerseits, die
Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen
Lebensführung sein soll, und den Hilfen, die lediglich die Ausbildung eines jungen
Menschen begleiten sollen. So ist mit § 13 Abs. 1 SGB VIII die Möglichkeit geschaffen
worden, jungen Menschen, die zum Ausgleich sozialer Benachteiligungen oder zur
Überwindung individueller Beeinträchtigung in erhöhtem Maße auf Unterstützung
angewiesen sind, im Rahmen der Jugendhilfe sozialpädagogische Hilfen anzubieten
und ihre schulische und berufliche Ausbildung, Eingliederung in die Arbeitswelt und ihre
soziale Integration zu fördern. Allein der Wunsch eine Schulausbildung oder sonstige
Ausbildung fortzusetzen, rechtfertigt deshalb nicht, Hilfe nach § 41 SGB VIII in Anspruch
zu nehmen.
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Vgl. dazu auch Wiesner, SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, Kommentar, 3. Aufl., § 41
Rnr. 19
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Soweit der Kläger darauf hinweist, dass die Hilfeempfängerin 1/3 ihres Lebens im Heim
untergebracht war und die Hilfegewährung nicht von der Zufälligkeit des 18.
Geburtstages der Hilfeempfängerin abhängig gemacht werden könne, ist dem entgegen
zu halten, dass der Eintritt der Volljährigkeit nicht zufällig, sondern vorhersehbar
gewesen ist. Aufgabe der Jugendhilfe ist es, von Anbeginn an den jungen Menschen
auf seinem Weg in die Selbstständigkeit zu begleiten und ihn zu einem
selbstbestimmten eigenverantwortlichen Leben zu befähigen. Dies ist ein lang
andauernder Prozess, der mit Eintritt der Volljährigkeit nicht beendet ist, ohne dass in
allen Fällen die Gewährung von Hilfe gemäß § 41 SGB VIII angezeigt ist.
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Auch soweit die Hilfeempfängerin im März 1996 einen Suizidversuch unternommen hat,
nachdem sich herausgestellt hatte, dass sie das Abitur nicht erreichen konnte, führt dies
zu keinem anderen Ergebnis. Zum einen ist für die Beurteilung der Hilfemaßnahme auf
dem jeweiligen Zeitpunkt der Gewährung der Maßnahme abzustellen, so dass aus dem
Suizidversuch kein Rückschluss auf den Stand der Persönlichkeit im Sommer 1994
gezogen werden kann. Zum anderen ist ein solcher Suizidversuch entweder Ausdruck
einer situationsbezogenen Kurzschlussreaktion oder aber einer seelischen Erkrankung.
Beides weist jedoch nicht auf eine unausgereifte Persönlichkeit hin. Vielmehr finden
sich Suizidversuche in allen Altersgruppen und stellen kein jugendspezifisches Problem
dar. Hierauf ist grundsätzlich nicht mit Mitteln der Jugendhilfe, sondern entweder mit
Mitteln der Krisenintervention oder mit medizinischen/psychiatrischen/psychologischen
Hilfen zu reagieren.
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