Urteil des VG Münster vom 03.06.2003

VG Münster: gemeinde, wohnung, gewöhnlicher aufenthalt, örtliche zuständigkeit, lebensmittelpunkt, eltern, sozialhilfe, aufenthaltswechsel, absicht, behandlung

Verwaltungsgericht Münster, 5 K 2956/99
Datum:
03.06.2003
Gericht:
Verwaltungsgericht Münster
Spruchkörper:
5. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
5 K 2956/99
Tenor:
Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 8.499,32 DM = 4.345,63 EUR
nebst 4 % Zinsen seit dem 8. Dezember 1999 zu zahlen.
Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 4.345,63 EUR
vorläufig vollstreckbar.
T a t b e s t a n d
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Die Beteiligten streiten darüber, ob die beklagte Stadt verpflichtet ist, dem klagenden
Landkreis die Kosten zu erstatten, die ihm dadurch entstanden sind, dass seine
Delegationsnehmerin, die Gemeinde H., in der Zeit vom 1. November 1997 bis zum 31.
Oktober 1999 Frau L. und ihrem 1994 geborenen Sohn laufende Hilfe zum
Lebensunterhalt in Höhe von 8.499,32 DM gewährt hat.
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Frau L. durchlief in N eine Ausbildung zur Augenoptikerin. Seit 1983 lebte sie in I und
arbeitete dort in ihrem erlernten Beruf. 1996 heiratete sie einen griechischen
Staatsangehörigen. Am 9. Mai 1997 trennte sie sich von ihrem Ehemann und begab
sich mit ihrem Sohn in ein Frauenhaus in I.
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Am 11. September 1997 meldete sich Frau L. mit ihrem Sohn in einem Frauenhaus in N.
In dem unter diesem Datum gefertigten Aufnahmeprotokoll des Frauenhauses heißt es:
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„Am 11.09.97 bat Frau L. mit ihrem Sohn N. um Schutz und Aufnahme im Frauen- und
Kinderschutzhaus. Frau L. flüchtete nach jahrelangen Misshandlungen ins Frauenhaus
I. Da ihr Mann sie noch immer sucht und verfolgt, ist sie in I nicht sicher und bat um
Schutz in unserer Einrichtung."
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Zugleich beantragte das Frauenhaus die Übernahme der Kosten für die Unterkunft und
für die Betreuung von Frau L. und ihres Sohnes.
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Frau L. und ihr Sohn beantragten unter dem 15. September 1997 bei dem Sozialamt der
Beklagten Hilfe zum Lebensunterhalt.
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Zur Begründung ihres Antrages gab Frau L. an:
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„Ich bin nach wiederholten psychischen und vor allem physischen Misshandlungen
durch meinen Mann am 09.05.1997 mit meinem inzwischen dreijährigen Sohn in ein
Frauenhaus in I geflüchtet. Da mein Mann uns beide weiterhin an Leib und Leben
bedroht, sehe ich keine Möglichkeit, mir in I eine neue Existenz aufzubauen. Auch
meine in H lebenden Eltern werden von meinem Mann bedroht, und die Adresse ist ihm
natürlich bekannt. Da meine Eltern beide über 70 und nicht mehr ganz gesund sind,
möchte ich in der Zukunft zumindest in greifbarer Nähe wohnen, um im Notfall schneller
da zu sein. Der Wohnort N, das mir durch meine Berufsschulzeit bekannt ist, schien mir
eine gute Lösung zu sein."
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Das Sozialamt der Beklagten bewilligte Frau L. und ihrem Sohn durch Bescheide vom
23. September 1997 und vom 7. Oktober 1997 Sozialhilfe in Höhe der Kosten für
Unterkunft und Betreuung im Frauenhaus und setzte zugleich eine Kostenbeteiligung in
Höhe des Einkommens von Frau L. fest, das die Regelsätze beider Hilfeempfänger
überstieg.
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Den Antrag der Beklagten vom 26. September 1997, die Frau L. und ihrem Sohn
bewilligte Sozialhilfe zu erstatten, lehnte die Behörde für Arbeit, Gesundheit und
Soziales der I mit Schreiben vom 31. März 1998 mit der Begründung ab, dass Frau L.
und ihr Sohn während ihres Aufenthaltes im Frauenhaus in I dort keinen gewöhnlichen
Aufenthalt begründet hätten und dass die Bagatellgrenze des § 111 BSHG nicht
überschritten werde.
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Frau L. zog mit ihrem Sohn zum 1. November 1997 aus dem Zuständigkeitsbereich der
Beklagten in die Gemeinde H. im Zuständigkeitsbereich des Klägers. Die Gemeinde H.
bewilligte Frau L. und ihrem Sohn auf ihren Antrag vom 16. Oktober 1997 ab dem 1.
November 1997 Hilfe zum Lebensunterhalt, indem sie laufende Leistungen und
einmalige Beihilfen gewährte.
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Mit Schreiben vom 13. November 1997 beantragte die Gemeinde H. als
Delegationsnehmerin des Klägers bei der I die Erstattung ihrer Kosten. Diesen Antrag
lehnte die Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales der I in Schreiben vom 31. März
1998 und vom 9. Dezember 1998 mit der Begründung ab, dass der gewöhnliche
Aufenthalt von Frau L. und ihrem Sohn vor Beginn des Aufenthaltes in der Gemeinde H.
nicht in I gewesen sei, sondern im Zuständigkeitsbereich der Beklagten.
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Die Klägerin ließ daraufhin durch ihre Delegationsnehmerin Ermittlungen zum
Aufenthaltsort von Frau L. und ihrem Sohn durchführen. Im Rahmen dieser Ermittlungen
gab Frau L. unter dem 28. Mai 1999 folgende Erklärung ab:
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„Mir wurde seitens des Jugendamtes I im August 1997 geraten, I komplett zu verlassen,
da mein Ehemann in Erfahrung gebracht hatte, dass ich im Frauenhaus in I Zuflucht
gefunden hatte. Da er uns massiv bedroht hat, konnte ich dort nicht länger bleiben. Im
Gespräch mit Bediensteten des Frauenhauses konnte ich dann Wünsche äußern, in
welche Stadt ich umziehen möchte. Da meine Eltern in H wohnen und ich in N zur
Schule gegangen bin, habe ich mich dann für das Frauenhaus in N entschieden. Ich
wollte mir dann von dort aus eine Wohnung in N suchen, da ich dort gerne bleiben
wollte. Die Wohnungssuche gestaltete sich aber derart schwierig, dass ich dann auch
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begonnen habe, in den Nachbargemeinden nach einer Wohnung zu suchen. Zufällig
habe ich dann von einer Mitbewohnerin im Frauenhaus, die einen Makler mit der
Wohnungssuche beauftragt hatte, erfahren, dass die Wohnung, die ich jetzt bewohne,
zur Vermietung stand. Ich habe diese Wohnung dann angemietet, da meine
Mitbewohnerin kein Interesse an der Wohnung hatte. Ich bin nach N gezogen mit der
Absicht, mich dort auf Dauer niederzulassen. Zu keinem Zeitpunkt habe ich damals
beabsichtigt, mir eine Wohnung in einem anderen Bereich als in N zu suchen. Da ich
aber auf Grund der beengten Verhältnisse den Aufenthalt im Frauenhaus möglichst kurz
halten wollte, habe ich dann nach vielen vergeblichen Bemühungen um eine Wohnung
in N die Wohnung in I angemietet."
Daraufhin beantragte der Kläger mit Schreiben vom 7. Juli 1999 unter Bezugnahme auf
den am 29. April 1998 erfolgten Kostenerstattungsantrag der Gemeinde H. und unter
Bezugnahme auf die ablehnende Antwort der Beklagten vom 11. Mai 1998 erneut die
Übernahme der von der Gemeinde H. bewilligten Hilfe zum Lebensunterhalt mit der
Begründung, dass der gewöhnliche Aufenthaltsort von Frau L. und ihrem Sohn vor dem
Aufenthalt in der Gemeinde H. im Zuständigkeitsbereich der Beklagten gewesen sei,
weil Frau L. selbst erklärt habe, ihren neuen Lebensmittelpunkt nunmehr dort begründen
zu wollen.
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Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Schreiben vom 8. November 1999 mit der
Begründung ab, dass Frau L. mit ihrem Sohn während des Aufenthaltes im Frauenhaus
in N dort nicht ihren Lebensmittelpunkt begründet habe; zwar habe sie erklärt, dass sie I
verlassen wolle, um im Zuständigkeitsbereich der Beklagten ein neues Leben zu
beginnen; sie sei jedoch tatsächlich schon nach kurzer Zeit in die Gemeinde H. im
Zuständigkeitsbereich des Klägers verzogen und habe deshalb keinen gewöhnlichen
Aufenthalt in N. begründen können.
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Der Kläger hat am 8. Dezember 1999 Klage erhoben. Er ist der Ansicht, dass die
Beklagte verpflichtet sei, ihm die Kosten der Bewilligung von Hilfe zum Lebensunterhalt
an Frau L. und ihren Sohn zu erstatten, weil der gewöhnliche Aufenthalt in den Monaten
September und Oktober 1997 im Zuständigkeitsbereich der Beklagten gewesen sei.
Dies ergibt sich nach Auffassung des Klägers aus den eigenen Erklärungen der Frau L.,
dass sie einen neuen Lebensmittelpunkt im Zuständigkeitsbereich der Beklagten habe
begründen wollen. Dem steht nach Ansicht des Klägers nicht entgegen, dass sich die
beiden Hilfeempfänger in einem Frauenhaus aufgehalten haben, denn dieses
Frauenhaus sei nach seiner Organisationsstruktur - es finde keine Rundumbetreuung
der Bewohnerinnen und Bewohner statt - nicht als Einrichtung im Sinne des § 97 Abs. 4
BSHG anzusehen.
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Der Kläger macht Kosten in Höhe von 8.499,32 DM geltend. Zur Erläuterung trägt er vor:
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Für Frau L. und ihren Sohn seien vom 1. November 1997 bis zum 31. Oktober 1998
Kosten in Höhe von 7.744,42 DM aufgewendet worden, und zwar 3.240,85 DM für Frau
L. und 4.503,57 DM für ihren Sohn; da beide als Haushaltsgemeinschaft anzusehen
seien, werde die Bagatellgrenze von 5.000 DM in § 111 Abs. 2 BSHG innerhalb der
Jahresfrist überschritten; da Frau L. in der Zeit vom 1. Januar 1998 bis zum 31. März
1998 keine Hilfe zum Lebensunterhalt gewährt worden sei, habe man nach dem 1. April
1998 die ihr bewilligte Hilfe nicht mehr in Rechnung gestellt; für den Sohn von Frau L.
sei in der Zeit vom 1. November 1998 bis zum 31. Juli 1999 Hilfe zum Lebensunterhalt
in Höhe von 754,90 DM bewilligt worden; dieser Betrag werde ebenfalls geltend
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gemacht, weil im ersten Jahr die o. a. angeführte Bagatellgrenze überschritten worden
sei und mit Rücksicht darauf Kostenersatz für spätere Zeiträume auch dann verlangt
werden könne, wenn die Bagatellgrenze nicht erreicht werde. Wegen weiterer
Einzelheiten der Berechnung wird Bezug genommen auf die der Klageschrift beigefügte
Aufstellung über die den Hilfeempfängern bewilligten Leistungen.
Der Kläger beantragt,
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die Beklagte zu verurteilen, für die Bewilligung von Hilfe zum Lebensunterhalt an Frau
L. und ihren Sohn in der Zeit vom 1. November 1997 bis zum 31. Oktober 1999
Kostenersatz in Höhe von 8.499,32 DM nebst 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit zu
zahlen.
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Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
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Sie ist der Ansicht und legt näher dar, dass sie nicht erstattungspflichtig sei, weil sich
der gewöhnliche Aufenthalt von Frau L. und ihrem Sohn nicht in ihrem
Zuständigkeitsbereich befunden habe, bevor beide Hilfeempfänger in den
Zuständigkeitsbereich des Klägers verzogen seien; zwar habe die Hilfeempfängerin
erklärt, dass sie ihren Lebensmittelpunkt von ihrem bisherigen Wohnort in I nach N
verlegen wolle; ihren Lebensmittelpunkt habe sie dort aber nicht begründen können,
weil sie sich lediglich zusammen mit ihrem Sohn in einem Frauenhaus befunden habe,
das regelmäßig und so auch hier nur vorübergehend als Schutzraum aufgesucht werde;
daraus müsse im Falle der Frau L. geschlossen werden, dass sie in Wirklichkeit nicht
auf Dauer im Zuständigkeitsbereich der Beklagten habe bleiben wollen; diese rechtliche
Würdigung gelte unbeschadet dessen, dass es sich bei dem Frauenhaus im
Zuständigkeitsbereich der Beklagten nicht um eine Einrichtung im Sinne des § 97 Abs.
4 BSHG gehandelt habe, weil dort lediglich eine ambulante Betreuung der Bewohner
stattgefunden habe.
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Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, dass über die Klage ohne
mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter als Einzelrichter entschieden wird.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der
Beteiligten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie auf den Inhalt
der Verwaltungsvorgänge des Klägers, seiner Delegationsnehmerin und der Beklagten.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
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Mit Einverständnis der Beteiligten hat das Gericht ohne mündliche Verhandlung durch
den Berichterstatter als Einzelrichter entschieden (vgl. § 101 Abs. 2 i. V. m. § 87 a Abs. 2
und 3 VwGO).
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Die zulässige Leistungsklage des Klägers ist begründet.
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Die Beklagte ist gemäß § 107 BSHG verpflichtet, dem Kläger die Kosten zu erstatten,
die seine Delegationsnehmerin aufwenden musste, um Frau L. und ihrem Sohn in der
Zeit vom 1. November 1997 bis zum 31. Oktober 1999 Hilfe zum Lebensunterhalt zu
bewilligen.
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Verzieht eine Person vom Ort ihres bisherigen gewöhnlichen Aufenthaltes, ist der
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Träger der Sozialhilfe des bisherigen Aufenthaltsortes gemäß § 107 Abs. 1 BSHG
verpflichtet, dem nunmehr zuständigen örtlichen Träger der Sozialhilfe die dort
erforderlich werdende Hilfe außerhalb von Einrichtungen im Sinne von § 97 Abs. 2 Satz
1 BSHG zu erstatten, wenn die Person innerhalb eines Monats nach dem
Aufenthaltswechsel der Hilfe bedarf. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
Frau L. und ihr Sohn bedurften innerhalb eines Monats nach dem Wechsel des
Aufenthaltes aus dem Zuständigkeitsbereich der Beklagten in den
Zuständigkeitsbereich des Klägers der Hilfe zum Lebensunterhalt. Beide Hilfesuchende
haben zum 1. November 1997 einen Wechsel des Aufenthaltes vorgenommen und
waren zeitgleich mit dem Aufenthaltswechsel auf Hilfe angewiesen, weil die eigenen
Mittel nicht ausreichten, um den notwendigen Lebensunterhalt am neuen Aufenthaltsort
sicherzustellen.
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Entgegen der Ansicht der Beklagten sind Frau L. und ihr Sohn vom Ort ihres bisherigen
gewöhnlichen Aufenthaltes an den neuen Aufenthaltsort verzogen. Das
Tatbestandsmerkmal des „Verziehens" im Sinne des § 107 Abs. 1 BSHG bzw. des
„Umzugs" im Sinne der Überschrift des Abschnittes 9 des Bundessozialhilfegesetzes
setzt voraus, dass die Person die bisherige Unterkunft und den gewöhnlichen Aufenthalt
aufgibt und einen Aufenthaltswechsel in der Absicht vornimmt, an den bisherigen
Aufenthaltsort (vorerst) nicht mehr zurückzukehren. Der Begriff bezeichnet eine
Verlagerung des Mittelpunktes der Lebensbeziehungen und setzt neben der Aufgabe
des gewöhnlichen Aufenthalts am bisherigen Aufenthaltsort die Begründung eines
neuen gewöhnlichen Aufenthaltes am Zuzugsort voraus (BVerwG, Urteil vom 18. März
1999 - 5 C 11.98 -, Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk des
Bundesverwaltungsgerichts, Gliederungsnr. 436.0, § 107 BSHG Nr. 1 = FEVS 49, 434 =
DVBl. 1999, 1126 = NVwZ-RR 1999, 583 = ZfSH/SGB 2000, 29 und Urteil vom 7.
Oktober 1999 - 5 C 21.98 -, FEVS 51, 385). Dies trifft auf Frau L. und ihren Sohn zu,
denn sie hatten im Zeitpunkt ihres Aufenthaltswechsels ihren gewöhnlichen Aufenthalt
im Zuständigkeitsbereich der Beklagten aufgegeben und einen neuen gewöhnlichen
Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich des Klägers begründet.
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Frau L. und ihr Sohn hatten ihren gewöhnlichen Aufenthalt nach dem Verlassen des
Frauenhauses in I im Zuständigkeitsbereich der Beklagten.
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Da das Bundessozialhilfegesetz keine näheren Regelungen zur Bestimmung des
Rechtsbegriffs des gewöhnlichen Aufenthaltes enthält, gilt gemäß § 37 Satz 1 SGB I die
Legaldefinition in § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I (OVG NRW, Urteil vom 12. September 2002
- 12 A 4625/99 -, NDV-RD 2003, 21 = FEVS 54, 271), mit der Maßgabe, dass der
unbestimmte Rechtsbegriff des gewöhnlichen Aufenthaltes unter Berücksichtigung von
Sinn und Zweck sowie Regelungszusammenhang der jeweiligen Norm auszulegen ist
(BVerwG, Urteil vom 31. August 1995 - 5 C 11.94 -, BVerwGE 99, 158 = FEVS 46, 133 =
NJW 1996, 1977 = DVBl. 1996, 309 und Urteil vom 18. März 1999 - 5 C 11.98 -, a. a. O.
sowie OVG NRW, Urteil vom 12. September 2002 - 12 A 4625/99 -, a. a. O.).
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Nach § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I hat jemand den gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich
unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem
Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Zur Begründung eines gewöhnlichen
Aufenthaltes ist ein dauerhafter oder längerer Aufenthalt nicht erforderlich. Es genügt
vielmehr, dass der Betreffende sich an dem Ort oder in diesem Gebiet „bis auf weiteres"
im Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibs aufhält und dort den Mittelpunkt seiner
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Lebensbeziehungen hat (BVerwG, Urteil vom 18. März 1999 - 5 C 11.98 -, a. a. O. und
Urteil vom 18. Mai 2000 - 5 C 27.99 -, BVerwGE 111, 213 = FEVS 51, 546 = NDV-RD
2000, 103 = DVBl. 2000, 1691 sowie OVG NRW, Urteil vom 12. September 2002 - 12 A
4625/99 -, a. a. O.).
Abgesehen von einem zeitlich unbedeutenden oder von vornherein nur kurzbefristeten
Verweilen, wie es für einen Besuch oder die Durchreise typisch ist, setzt die
Begründung eines gewöhnlichen Aufenthaltes also nicht eine bestimmte
Aufenthaltsdauer voraus (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 18. Mai 2000 - 5 C 27.99 -, a. a.
O. und OVG NRW, Urteil vom 12. September 2002 - 12 A 4625/99 -, a. a. O.). Sie kann
gegebenenfalls schon vom ersten Tag der Aufenthaltsnahme an anzunehmen sein. Als
Umstände, welche die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthaltes erkennen lassen,
sind sowohl subjektive als auch objektive Elemente heranzuziehen. Für das subjektive
Element ist der tatsächliche, ausdrücklich oder konkludent geäußerte Wille maßgeblich
(OVG NRW, Urteil vom 12. September 2002 - 12 A 4625/99 -, a. a. O. mit Nachweisen
zur Rechtsprechung und zur Literatur).
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In Anwendung dieser Grundsätze hatten Frau L. und ihr Sohn im September und
Oktober 1997 vor dem Aufenthaltswechsel vom Zuständigkeitsbereich der Beklagten in
den Zuständigkeitsbereich des Klägers ihren gewöhnlichen Aufenthalt im
Zuständigkeitsbereich der Beklagten. Sie verweilten dort weder besuchsweise noch
sonst vorübergehend im Sinne eines von vornherein nur zeitlich unbedeutenden oder
kurzbefristeten Aufenthaltes. Vielmehr hielten sie sich im Zuständigkeitsbereich der
Beklagten bis auf Weiteres im Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibs auf. Maßgeblich
ist im vorliegenden Fall nicht die Dauer des Aufenthaltes im Zuständigkeitsbereich der
Beklagten - sie betrug hier nur etwa sechs Wochen -, sondern entscheidend sind die
Erklärungen von Frau L. zu den Gründen ihres Aufenthaltswechsels von ihrem
bisherigen Wohnort in den Zuständigkeitsbereich der Beklagten. Zwar heißt es im
Aufnahmeprotokoll des Frauenhauses vom 11. September 1997, dass Frau L. nach
jahrelangen Misshandlungen durch ihren Ehemann zunächst in das Frauenhaus in I
geflüchtet sei, dort keine Sicherheit vor den Nachstellungen ihres Ehemannes gefunden
habe und sich deshalb in das Frauenhaus in N begeben habe, um dort Schutz zu
suchen. Diese Angaben deuten - wie die Beklagte zutreffend hervorhebt - eher
daraufhin, dass sich Frau L. und ihr Sohn lediglich vorübergehend in den
Zuständigkeitsbereich der Beklagten begeben wollten, um demnächst an anderem Orte
ihren neuen Lebensmittelpunkt zu begründen. Den Angaben im Aufnahmeprotokoll des
Frauenhauses vom 11. September 1997 stehen jedoch die Erklärungen der Frau L.
anlässlich ihres Antrages auf Bewilligung von Sozialhilfe vom 15. September 1997 und
anlässlich der Befragung durch Bedienstete der Delegationsnehmerin des Klägers am
28. Mai 1999 entgegen. Aus beiden Erklärungen ergibt sich, dass Frau L. ihren
Lebensmittelpunkt in den Zuständigkeitsbereich der Beklagten verlegen wollte, um sich
dort eine neue Existenz aufzubauen. Den Ausführungen von Frau L. ist zu entnehmen,
dass sie sich bewusst für den Zuständigkeitsbereich der Beklagten und nicht für den
Wohnort ihrer Eltern entschieden hat, weil sie einerseits Nachstellungen ihres
Ehemannes an dem diesen bekannten Wohnort ihrer Eltern befürchtete und
andererseits in der Nähe ihrer Eltern leben wollte, um sie im Alter unterstützen und
betreuen zu können. Von den beiden Motiven für den Aufenthaltswechsel von I nach N,
Schutz zu finden vor den Nachstellungen des Ehemannes und eine neue Existenz
aufzubauen, ist tragend auf das letztgenannte Motiv abzustellen, weil es aus der Sicht
von Frau L. auf der Grundlage der von ihr abgegebenen Erklärungen entscheidend
darauf ankam, im Zuständigkeitsbereich des Beklagten ein neues Leben zu beginnen
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(vgl. zur rechtlichen Würdigung von mehreren Beweggründen eines Hilfeempfängers
die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 120 Abs. 3 BSHG; u. a. das
Urteil vom 4. Juni 1992 - 5 C 22.97 -, BVerwGE 90, 212 = FEVS 43, 113 = DVBl. 1992,
1487).
Allerdings gelten gemäß § 109 BSHG als gewöhnlicher Aufenthalt im Sinne der
Abschnitte 8 und 9 nicht der Aufenthalt in einer Einrichtung der in § 97 Abs. 2 BSHG
genannten Art. § 97 Abs. 2 regelt die örtliche Zuständigkeit für die Hilfe in einer Anstalt,
einem Heim oder einer gleichartigen Einrichtung. In § 97 Abs. 4 BSHG ist geregelt, dass
Anstalten, Heime oder gleichartige Einrichtungen im Sinne des Abs. 2 alle
Einrichtungen sind, die der Pflege, der Behandlung oder sonstigen in diesem Gesetz
vorgesehenen Maßnahmen oder der Erziehung dienen. Für Frauenhäuser kann dies
zutreffen, wenn sie eine intensive Gesamtbetreuung durch Fachkräfte bieten, d. h. wenn
Pflege, Behandlung oder sonstige im Bundessozialhilfegesetz vorgesehene
Maßnahmen im Rahmen eines Volltagsaufenthaltes bei ständig anwesendem, fachlich
qualifiziertem Betreuungspersonal dargeboten werden (OVG NRW, Urteil vom 20. März
2000 - 16 A 3189/99 -, FEVS 52, 38 = NDV 2000, 94 im Anschluss an W. Schellhorn/H.
Schellhorn, BSHG, Kommentar zum Bundessozialhilfegesetz, 16. Auflage, § 97 Randnr.
103 m. w. N.).
39
Das Frauenhaus in N, in dem sich Frau L. und ihr Sohn in den Monaten September und
Oktober 1997 aufgehalten haben, erfüllt nicht diese Voraussetzungen, weil die
Bewohnerinnen und Bewohner dieses Hauses dort lediglich wohnen, sich ansonsten
selbst versorgen und nur von Fall zu Fall beraten und betreut werden. Dies ergibt sich
aus den übereinstimmenden Angaben des Klägers und der Beklagten, an denen zu
zweifeln das Gericht keinen Anlass sieht mit der Folge, dass das Frauenhaus in N keine
Einrichtung im Sinne des § 97 Abs. 4 BSHG ist. Daraus folgt zugleich, dass Frau L. in N
ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben konnte und auf Grund ihrer eigenen Bekundungen
auch gehabt hat.
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Der Kläger hat seine Aufwendungen innerhalb der gesetzlichen Fristen gegenüber der
Beklagten geltend gemacht. Der Anspruch auf Erstattung ist gemäß § 111 SGB X
ausgeschlossen, wenn der Erstattungsberechtigte ihn nicht spätestens zwölf Monate
nach Ablauf des letzten Tages, für den die Leistung erbracht wurde, geltend macht. Der
Lauf der Frist beginnt frühestens mit dem Zeitpunkt, zu dem der erstattungsberechtigte
Leistungsträger von der Entscheidung des erstattungspflichtigen Leistungsträgers über
seine Leistungspflicht Kenntnis erlangt hat. Diese Anforderungen sind hier erfüllt, denn
die Delegationsnehmerin des Klägers hat schon mit Schreiben vom 29. April 1998
Erstattung der Kosten von der Beklagten geltend gemacht.
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Die aufgewendeten Kosten sind gemäß § 111 Abs. 1 Satz 1 BSHG zu erstatten, soweit
die Hilfe diesem Gesetz entspricht. Auch diese Voraussetzungen sind erfüllt, denn auf
der Grundlage der dem Gericht bekannten Umstände der Hilfebewilligung an Frau L.
und ihren Sohn in den Verwaltungsvorgängen der Delegationsnehmerin des Klägers ist
davon auszugehen, dass beiden Hilfeempfängern rechtmäßig Sozialhilfe gewährt
worden ist.
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Die Bagatellgrenze des § 111 Abs. 2 BSHG in Höhe von 5.000 DM = 2.560 EUR ist
ebenfalls in den ersten zwölf Monaten der Hilfebewilligung überschritten worden auf der
Grundlage dessen, dass eine Haushaltsgemeinschaft zwischen Frau L. und ihrem Sohn
bestand. Der Kläger hat auch die dem Sohn von Frau L. vom 1. November 1998 bis zum
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31. Juli 1999 bewilligte Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe von 754,90 DM zu Recht in
seine Kostenersatzforderung einbezogen, denn es entspricht der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts, dass der erstattungsberechtigte Träger Beträge unterhalb
der Bagatellgrenze geltend machen kann, wenn im ersten Jahr der Bewilligung die
Bagatellgrenze überschritten worden ist (BVerwG, Urteil vom 19. Dezember 2000 - 5 C
30.00 -, BVerwGE 112, 294 = FEVS 52, 221 = NVwZ-RR 2001, 314).
Dem Kläger stehen 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit am 8. Dezember 1999 in
entsprechender Anwendung von § 291 BGB zu (BVerwG, Urteil vom 22. Februar 2001 -
5 C 34.00 -, BVerwGE 114, 61 = FEVS 42, 433).
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 188 Satz 2 VwGO in der Fassung des Sechsten
Gesetzes zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung und anderer Gesetze vom 1.
November 1996, BGBl. I S. 1626 i. V. m. § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Kostenentscheidung ist gemäß § 167 Abs. 1 VwGO i. V. m. § 709 Satz 1 ZPO gegen
Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
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