Urteil des VG Minden vom 13.06.2007
VG Minden: bundesamt für migration, russische föderation, registrierung, staatliche verfolgung, politische verfolgung, asyl, gefahr, auskunft, anerkennung, leib
Verwaltungsgericht Minden, 4 K 3804/06.A
Datum:
13.06.2007
Gericht:
Verwaltungsgericht Minden
Spruchkörper:
4. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
4 K 3804/06.A
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Die Kosten des Verfahrens, für das
Gerichtskosten nicht erhoben werden, trägt der Kläger.
Tatbestand:
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Der Kläger besitzt keine Personalpapiere und ist nach seinen Angaben am 1986
geboren worden, katholischer Christ und russischer Staatsangehöriger. Er reiste im
August 2000 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte
beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) die
Anerkennung als Asylberechtigter. Bei der Vorprüfung durch das Bundesamt am
16.10.2000 trug der Kläger u.a. vor, er stamme aus H. in Tschetschenien. Sein Vater sei
Pole, seine 1996 verstorbene Mutter sei Tschetschenin gewesen. Er habe Russland
verlassen, weil in Tschetschenien Krieg herrsche. Es werde überall geschossen. Seine
Mutter sei getötet worden, weil sie einen Polen geheiratet habe. Sein Vater sei
vergewaltigt worden und ihn habe man zum oralen Geschlechtsverkehr gezwungen.
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Durch Bescheid vom 20.02.2002 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Anerkennung
als Asylberechtigter ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des
Ausländergesetzes (AuslG) nicht vorlägen, dass aber wegen der Minderjährigkeit des
Klägers und weil er in seiner Heimat keine Kontaktpersonen habe das
Abschiebungshindernis des § 53 Abs. 6 AuslG hinsichtlich der Russischen Föderation
vorliege. Zugleich wurde der Kläger unter Androhung der Abschiebung aufgefordert, die
Bundesrepublik Deutschland zu verlassen. Der Kläger erhob daraufhin am 06.03.2002
Klage, die durch Urteil des Verwaltungsgerichts Minden vom 12.03.2003 - 4 K 692/02.A
- abgewiesen wurde, weil der Kläger das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs.
1 AuslG in seiner Person hinsichtlich der Russischen Föderation und damit eine dort
erfolgte oder drohende politische Verfolgung nicht glaubhaft gemacht habe.
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Unter dem 29.09.2006 hörte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Kläger,
der am 19.12.2005 wegen schweren Raubes zu einer Einheitsjugendstrafe von 6
Jahren und 6 Monaten verurteilt worden war, zum Widerruf des Abschiebungsschutzes
gemäß § 73 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) an. Der Kläger erwiderte daraufhin
am 13.11.2006, dass er im Fall einer Rückkehr in die Russische Föderation mit einer
Einberufung zum Wehrdienst und mit einem Einsatz in Tschetschenien rechnen müsse.
Wegen seiner tschetschenischen Herkunft müsse er darüber hinaus in der Armee mit
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Misshandlungen und Demütungen rechnen. Es bestehe sogar die Gefahr, verletzt oder
gar getötet zu werden. Eine Überlebenschance in Tschetschenien habe er nicht.
Durch Bescheid vom 11.12.2006 widerrief das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
die mit Bescheid vom 20.02.2002 getroffene Feststellung, dass ein
Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG vorliege, und stellte fest, dass
Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 - 7 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht
vorlägen.
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Der Kläger hat daraufhin am 27.12.2006 die vorliegende Klage erhoben.
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Er beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung von Nr. 1 und 2 des Bescheides des Bundesamtes für
Migration und Flüchtlinge vom 11.12.2006 zu der Feststellung zu verpflichten, dass
Abschiebungshindernisse gemäß § 60 Abs. 2 - 5, 7 AufenthG bezogen auf Russland
vorliegen. Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Akten, die
Akten des Verfahrens 4 K 692/02.A, die Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes und
die in den Generalakten befindlichen gerichtlichen Entscheidungen, Auskünfte des
Auswärtigen Amtes, gutachtlichen Stellungnahmen und Presseberichte zur Lage in der
Russischen Föderation, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, Bezug
genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Klage ist zulässig, aber nicht begründet.
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Die Kammer folgt gemäß § 77 Abs. 2 AsylVfG den Feststellungen des angefochtenen
Bescheides vom 11.12.2006 und weist ergänzend auf Folgendes hin:
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Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat die im Bescheid vom 20.02.2002 zu
Nr. 1 ausgesprochene Aussetzung der Abschiebung gemäß § 73 Abs. 3 AsylVfG zu
Recht widerrufen, da die Voraussetzungen für einen solchen Abschiebungsschutz nicht
mehr vorliegen. Der nach seinen Angaben inzwischen 20-jährige Kläger ist nicht mehr
minderjährig. Es kann ihm daher zugemutet werden, in sein Heimatland zurückzukehren
und sich dort eine Existenz aufzubauen.
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Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat zu Nr. 2 des Bescheides vom
11.12.2006 auch zu Recht festgestellt, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 - 7
AufenthG in der Person des Klägers hinsichtlich der Russischen Föderation nicht
vorliegen. In Frage kommt im Fall des Klägers allenfalls ein Abschiebungsschutz
gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, für den Voraussetzung ist, dass in der Russischen
Föderation für ihn eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
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Solche Gefahren für den Kläger hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge jedoch
zu Recht verneint. Es besteht keine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass der
Kläger bei einer Rückkehr in die Russische Föderation zum Wehrdienst herangezogen
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wird, da jeweils nur etwa 11 % eines Jahrgangs einberufen werden. Im Übrigen hat der
Kläger nach dem zu Anfang 2004 in Kraft getretenen "Gesetz über den alternativen
Zivildienst" die Möglichkeit, den Wehrdienst zu verweigern.
Vgl. Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in
der Russischen Föderation vom 26.03.2004, S. 14 ff.
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Sollte der Kläger, wie er behauptet, aber durch Personalpapiere nicht belegt hat, aus
Tschetschenien stammen und dort von den allgemeinen und schweren
Beeinträchtigungen der Bevölkerung durch den zweiten Tschetschenien-Krieg betroffen
gewesen sein, besteht gleichwohl keine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass ihm
im Falle der Rückkehr in die Russische Föderation eine erhebliche konkrete Gefahr für
Leib und Leben droht. Zwar ist in den von russischen Truppen kontrollierten Gebieten
des nördlichen Kaukasus (Tschetschenien, Dagestan) eine hinreichende Sicherheit der
Zivilbevölkerung nicht gegeben. In anderen Gebieten der Russischen Föderation findet
aber eine unmittelbare oder mittelbare staatliche Verfolgung bestimmter
Personen(Gruppen) wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität oder politischen
Überzeugung nicht (mehr) statt.
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Die russische Verfassung, die eine Demokratie präsidialen Zuschnitts begründete,
enthält ein umfassendes Diskriminierungsverbot (Art. 2) und garantiert die klassischen
Menschen- und Freiheitsrechte, u. a. die Religionsfreiheit (Art. 28) und die
Meinungsfreiheit (Art. 29). Die Achtung dieser Grundrechte ist in der Praxis zumeist
gewährleistet; allerdings ist die Kluft zwischen Verfassungstext und
Verfassungswirklichkeit unübersehbar. Weltanschauliche Neutralität des Staates und
politischer Pluralismus haben ein Klima geschaffen, in dem politische und religiöse
Bekenntnisse und Betätigungen im Regelfall keinen Beschränkungen unterworfen sind.
Politische Gruppierungen, Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen können sich in
der Russischen Föderation betätigen und artikulieren. Die Betätigungsmöglichkeiten für
die politische Opposition sind grundsätzlich nicht eingeschränkt.
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Eine rassisch diskriminierende Gesetzgebung gibt es nicht. In der Praxis werden jedoch
kaukasische oder mittelasiatische Minderheiten in überwiegend russisch besiedelten
Gebieten der Russischen Föderation faktisch benachteiligt, z. B. durch häufigere
Personenkontrollen in Moskau und durch administrative Schwierigkeiten insbesondere
beim Zuzug. Gelegentliche Übergriffe von Seiten Dritter sind dem Staat weder
unmittelbar noch mittelbar zuzurechnen; sie wurden mehrmals vom Präsidenten
öffentlich verurteilt.
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Vgl. Lageberichte Russische Föderation des Auswärtigen Amtes vom 22.05.2000 und
28.08.2001.
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Art. 27 der russischen Verfassung garantiert jedem, der sich legal auf dem Territorium
der Russischen Föderation aufhält, Freizügigkeit und die freie Wahl des Wohnortes.
Dieses Recht ist in der Praxis allenfalls dadurch eingeschränkt, dass eine Pflicht zur
Registrierung bei der Wohnsitznahme besteht. Registrierungen sind mit den früher bei
Wohnsitznahmen erforderlichen Erlaubnissen nicht vergleichbar; sie können jedoch in
den Großstädten wie Moskau und St. Petersburg recht teuer sein und stellen daher de
facto für viele Flüchtlinge ein Zuzugshindernis dar. Dennoch halten sich selbst in
Moskau Zehntausende von Flüchtlingen kaukasischer Herkunft (u.a. Tschetschenen)
auf, und zwar illegal ohne Registrierung. Dies ist wegen der nur eingeschränkten
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Überwachungsmöglichkeiten in der Stadt Moskau nicht sonderlich schwierig; ferner
lassen sich Probleme mit den Sicherheitsbehörden durch Zahlung von
Bestechungsgeldern üblicherweise vermeiden. Das Institut der "Propiska"
(Zuzugsgenehmigung) ist abgeschafft.
Vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 27.08.1998 an das VG Weimar.
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Außerhalb der großen Ballungsgebiete Moskau und St. Petersburg ist es für Flüchtlinge
einfacher, Wohnraum zu erhalten.
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Vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 23.11.2000 an das VG Schleswig.
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Prinzipiell können Kaukasier damit auch ohne Registrierung in jeweils anderen
Gebieten des Landes zuziehen und dort eine Existenz finden. So leben z. B. ca.
100.000 Tschetschenen in Moskau bzw. ca. 50.000 Tschetschenen in der Wolgaregion.
Eingeschränkt wird dieser Zuzug allerdings durch die allgemeinen
Zuzugsbeschränkungen in den großen Städten und das Registrierungssystem,
zunehmende Ressentiments in der Bevölkerung gegen Menschen kaukasischen
Aussehens sowie, in der Tendenz, ebenfalls zunehmendes benachteiligendes bis
diskriminierendes Verhalten der Sicherheitskräfte und Behörden.
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Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 11.1.2003 an das Bundesamt.
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Die Sicherung der materiellen Existenz ist wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage
in der Russischen Föderation zwar mit Schwierigkeiten verbunden, das Vorhandensein
großer Gruppen von Kaukasiern in Moskau und in der Wolgaregion zeigt aber, dass für
Kaukasier auch außerhalb ihrer engeren Heimat in der Russischen Föderation die
Möglichkeit besteht, sich mit und ohne Registrierung eine materielle Lebensgrundlage
zu schaffen.
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Im Übrigen besteht für den Kläger aber auch die Möglichkeit der Registrierung. Falls der
Kläger mit Passersatzpapieren in die Russische Föderation zurückkehrt, reichen diese
für eine dauerhafte Registrierung, die wiederum Voraussetzung für den Zugang zu
Sozialhilfe, staatlich geförderten Wohnungen und zum kostenlosen Gesundheitssystem
sowie zum legalen Arbeitsmarkt ist, allerdings nicht aus.
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Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der
Russischen Föderation (einschließlich Tschetschenien) vom 17.03.2007, IV., Nr. 2., S.
29.
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Er muss sich deshalb für eine dauerhafte Registrierung zunächst bei der für ihn früher
zuständigen Meldebehörde einen Inlandspass ausstellen lassen, um sich mit diesem
dann an dem von ihm gewünschten Aufenthaltsort dauerhaft registrieren zu lassen.
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Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der
Russischen Föderation (einschließlich Tschetschenien) vom 17.03.2007, IV., Nr. 3.1, S.
30.
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In den großen Städten (wie z.B. Moskau und St. Petersburg) wird es für einen
Tschetschenen auch mit einem gültigen Inlandspass nicht ohne Weiteres möglich sein,
eine Registrierung zu erhalten. Vor allem in Südrussland (Region Krasnodar,
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Stawropol) sind Registrierungen aber leichter möglich, weil Wohnraum dort erheblich
günstiger ist.
Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der
Russischen Föderation (einschließlich Tschetschenien) vom 17.03.2007, IV., Nr. 2., S.
30.
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Falls der Kläger nicht aus Tschetschenien stammt, ist es ihm nach Rückkehr in die
Russische Föderation selbstverständlich zumutbar, sich bei seiner früheren
Meldebehörde einen Inlandspass ausstellen zu lassen. Die Kammer hält es aber auch
für zumutbar, wenn er vor der Ausreise in Tschetschenien gelebt haben sollte, seine
frühere Meldebehörde dort zu diesem Zweck aufzusuchen. Sollte er einen Inlandspass
nicht schon beim ersten Aufsuchen der Meldebehörde dort erhalten können, kann er
Tschetschenien vorübergehend wieder verlassen, um seinen Inlandspass dann später
nur noch abzuholen. Zwei eintägige Aufenthalte dürften genügen, um unter Vorlage der
Passersatzpapiere dort einen Inlandspass ausgestellt zu bekommen. Eine erhebliche
konkrete Gefahr für Leib und Leben besteht nach Einschätzung der Kammer für einen
Tschetschenen nämlich nicht, wenn er sich in dieser Weise nur kurzfristig in
Tschetschenien aufhält und er - wie der Kläger - weder von russischen noch von
tschetschenischen Behörden gesucht wird.
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Nach alledem war die Klage mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b
AsylVfG abzuweisen.
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