Urteil des VG Minden vom 15.01.2008

VG Minden: anerkennung, wahrscheinlichkeit, widerruf, ausländer, bevölkerung, behandlung, unzumutbarkeit, beweisantrag, religion, karte

Verwaltungsgericht Minden, 8 K 1733/06.A
Datum:
15.01.2008
Gericht:
Verwaltungsgericht Minden
Spruchkörper:
8. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
8 K 1733/06.A
Tenor:
Die Klage wird auf Kosten der Kläger abgewiesen. Gerichtskosten
werden nicht erhoben.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger
können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des
beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor in
derselben Höhe Sicherheit leistet.
Tatbestand:
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Die 1943 und 1950 in der Türkei geborenen Kläger reisten 1987 mit zehn Kindern in die
Bundesrepublik Deutschland ein. Sie gaben in ihrem Asylantrag an, sie seien Jeziden.
Sie wurden mit Bescheid vom 21.06.1988 als Asylberechtigte anerkannt; dabei wurde
einen Gruppenverfolgung der Jeziden angenommen. Die Entscheidung wurde im Juni
1993 rechtskräftig, nachdem der Bundesbeautragte für Asylangelegenheiten seine
Anfechtungsklage gegen den Anerkennungsbescheid im Verfahren vor dem OVG NRW
zurückgenommen hat. Im Mai 2005 leitete die Beklagte ein Widerrufsverfahren ein.
Nach vorheriger Anhörung der Kläger widerrief sie ihre Anerkennung als
Asylberechtigte mit Bescheiden vom 28.04.2006 und stellte fest, die Voraussetzungen
des § 60 Abs. 1 AufenthG und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG
lägen nicht vor. Zur Begründung führte sie aus, die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1
Satz 1 AsylVfG lägen vor. Dabei ging sie davon aus, hier sei eine bereits erlittene
Vorverfolgung zu berücksichtigen; ein Widerruf erfordere also hinreichende Sicherheit
vor einer Wiederholung der Verfolgung. Türkische Staatsangehörige jezidischen
Glaubens, die ihren Glauben praktizierten, hätten nach bisherigen Erkenntnissen seit
etwa 1990 in ihren angestammten Siedlungsgebieten in der Südosttürkei einer
mittelbaren regionalen Gruppenverfolgung unterlegen; zumutbare Fluchtalternativen
fehlten. Mangels nachgewiesener aktueller Referenzfälle zur Verfolgung von Jeziden
seitens der muslimischen Bevölkerung lasse sich eine mittelbare regionale
Gruppenverfolgung nach Art. 16 a Abs. 1 GG bzw. eine nicht staatliche regionale
Gruppenverfolgung nach § 60 Abs. 1 Satz 4 c AufenthG inzwischen nicht mehr bejahen.
Das OVG NRW habe in seinem Urteil vom 14.02.2006 festgestellt, in Anbetracht der
erheblichen Verbesserung der Lage in den einschlägigen Siedlungsgebieten bestehe
keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer mittelbaren staatlichen Gruppenverfolgung
wegen jezidischer Religionszugehörigkeit mehr. Zu § 60 Abs. 1 AufenthG wurde
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ausgeführt, es seien keine individuell konkreten Anhaltspunkte dafür vorgetragen, dass
die Kläger nach einer Rückkehr in ihre Heimatregion in der Türkei mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit relevante Beeinträchtigungen zu befürchten hätten. Zu § 60 Abs. 2
bis 7 AufenthG wurde ausgeführt, das Vorliegen von Abschiebungsverboten sei weder
vorgetragen noch ersichtlich.
Am 05.05.2006 haben die Kläger Klage erhoben. Auf die mündliche Verhandlung vom
27.04.2007 hat das Gericht die zunächst getrennt erhobenen Klagen der beiden Kläger
(8 K 1733/06.A und 8 K 1734/06.A) gemäß § 93 VwGO miteinander verbunden. Die
Kläger wenden sich mit umfangreichem Sachvortrag und Beweisantritten gegen die
Annahme, im Falle einer Rückkehr in ihre Heimatregion seien sie vor an ihren
jezidischen Glauben anknüpfende politischen Verfolgungsmaßnahmen hinreichend
sicher. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vom 27.04.2004 Angaben zu
seinem jezidischen Glauben gemacht. Die Kläger haben weiter sinngemäß vorgetragen,
wegen ihres Gesundheitszustandes sei ihnen eine Rückkehr in die Türkei nicht
zuzumuten. Sie haben dazu mehrere ärztliche Atteste vorgelegt. Der
Gesundheitszustand der Klägerin wird zusammenfassend in einem Attest vom
07.01.2008 des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. Krebs beschrieben. Für den Kläger
wurden insbesondere Atteste des Internisten und Rheumatologen Dr. D. vom
02.03.2001 sowie des Klinikums N. vom 19.10.2005 und 03.11.2005 vorgelegt.
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Die Kläger beantragen jeweils,
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den Bescheid der Beklagten vom 28.04.2006 aufzuheben und sie zu verpflichten
festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1, hilfsweise des § 60 Abs. 2 bis
7 AufenthG vorliegen. Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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In den mündlichen Verhandlungen vom 27.04.2007 und 15.01.2008 gestellte
Beweisanträge hat das Gericht mit begründeten Beschlüssen abgelehnt. Insoweit wird
auf die Protokolle der mündlichen Verhandlungen und die nachfolgenden
Entscheidungsgründe verwiesen.
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Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakten 8 K 1731, 1732, 1733 und 1734/06.A und der beigezogenen
Verwaltungsvorgänge der Beklagten sowie die in den Lageakten enthaltenen und den
Beteiligten zugänglichen Auskünfte, Stellungnahmen und Presseberichte zur Lage in
der Türkei, insbesondere der Jeziden, Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Klage ist nicht begründet. Die Bescheide vom 28.04.2006 sind
rechtmäßig und verletzen die Kläger nicht in ihren Rechten. Sie haben auch keinen
Anspruch auf die Feststellungen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG
oder des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen. Dies hat die Beklagte in den
angefochtenen Bescheiden im Kern zutreffend dargelegt. Das Gericht folgt der
Begründung der Bescheide und verweist gemäß § 77 Abs. 2 AsylVfG auf sie.
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Ergänzend weist die Kammer auf Folgendes hin:
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Gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG in der seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur
Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom
19.08.2007 (Richtlinienumsetzungsgesetz) geltenden Fassung (im Folgenden:
Asylverfahrensgesetz 2007) sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die
Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthH. - früher § 51 Abs. 1
AuslH. - vorliegen, unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht
mehr vorliegen. Nach dem neu eingefügten Satz 2 ist dies insbesondere der Fall, wenn
der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Anerkennung als Asylberechtigter
oder zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen
kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er
besitzt, oder wenn er als Staatenloser in der Lage ist, in das Land zurückzukehren, in
dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.
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Vgl. zur früheren Gesetzesfassung: BVerwG, Urteil vom 01.11.2005 - 1 C 21.04 -,
InfAuslR 2006, 244.
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Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
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Die Kläger sind seinerzeit vom Bundesamt als Asylberechtigte anerkannt worden, weil
sie als glaubensgebundene Jeziden angesehen wurden und sie als solche in früheren
Jahren in der Südosttürkei von einer religiös bedingten Gruppenverfolgung betroffen
waren. Die hierfür maßgeblichen Verhältnisse haben sich indes für Jeziden so weit
verbessert, dass die Anerkennung als Asylberechtigte, die Gewährung von
Abschiebungsschutz und die Feststellung von Abschiebungsverboten nicht länger
aufrechterhalten werden kann.
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Die damalige Anerkennung der Kläger beruhte auf der Auffassung, glaubensgebundene
Jeziden unterlägen in ihren angestammten Siedlungsgebieten im Südosten der Türkei
einer religiös motivierten Gruppenverfolgung; eine innerstaatliche Fluchtalternative
stehe ihnen in der Türkei auch in Istanbul nicht zur Verfügung. Die
verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung ging jedenfalls in den 90er Jahren einheitlich
davon aus, Jeziden mit erkennbarer religiöser Bindung lebten in der Südosttürkei wegen
ihrer Religionszugehörigkeit in einem Klima allgemeiner religiöser und
gesellschaftlicher Verachtung und seien einer Vielzahl von Verfolgungsmaßnahmen
ausgesetzt, die im Verhältnis zu der Anzahl der noch in ihren Siedlungsgebieten
verbliebenen Jeziden für jedes Mitglied dieser Bevölkerungsgruppe die Gefahr
begründete, jederzeit zum Ziel und Opfer von religiös motivierten Rechtsverletzungen
werden zu können, ohne dass der türkische Staat bereit wäre, die ihm zur Verfügung
stehenden Machtmittel zum Schutz der Jeziden einzusetzen.
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So zuletzt OVG NRW, Urteil vom 10.09.2003 - 8 A 4224/02.A - m.w.N.
17
Diese Situation hat sich seither grundlegend geändert.
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Nach dem Urteil des OVG NRW vom 14.02.2006 - 15 A 2119/02.A - besteht jetzt keine
beachtliche Wahrscheinlichkeit mehr dafür, dass Jeziden einer asylerheblichen
Gruppenverfolgung in der Türkei ausgesetzt sind. Dieser Rechtsprechung ist das
erkennende Gericht gefolgt. Auch nach Auswertung weiterer neueren Erkenntnisquellen
geht die Kammer in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass derzeit keine
Gruppenverfolgung der Jeziden in der Türkei mehr stattfindet.
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Auch das OVG NRW hat seine Rechtsprechung nach Auswertung weiterer
Erkenntnisquellen bestätigt.
20
OVG NRW, Urteil vom 27.08.2007 - 15 A 4224/02.A -.
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Darüber hinaus steht zur Überzeugung des Gerichts auch fest, dass Jeziden -
ausgehend vom Prognosemaßstab einer bereits erlittenen Verfolgung - bei einer
Rückkehr in ihre Heimat sogar hinreichend sicher vor erneuter Verfolgung sind und
insoweit auch eine gravierende Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 73 Abs. 1
Satz 1 AsylVfG 2007 für solche Jeziden feststellbar ist, die seinerzeit die Türkei wegen
stattgefundener oder unmittelbar bevorstehender eigener Verfolgungsbetroffenheit
verlassen haben. Für das Gericht verbleiben keine ernsthaften Zweifel daran, dass
Jeziden im Südosten der Türkei vor erneut einsetzender Verfolgung sicher sind.
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So inzwischen auch OVG NRW, Urteil vom 31.08.2007 - 15 A 5128/04.A -, zitiert nach
milo.bamf.de.
23
Anhaltspunkte, die die Möglichkeit einer erneuten Verfolgung nicht ganz entfernt
erscheinen lassen, sind nicht ersichtlich. Auch der herabgestufte
Wahrscheinlichkeitsmaßstab erfordert nicht, dass selbst vereinzelte künftige
Verfolgungshandlungen auszuschließen sind.
24
Die Frage der hinreichenden Sicherheit vor erneuter Verfolgung steht tatsächlich in
engem Zusammenhang mit der § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG 2007 zu entnehmenden
Voraussetzung, dass die für die Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse sich
erheblich und nicht nur vorübergehend geändert haben müssen. In Bezug auf beide
Fragestellungen ist festzuhalten, dass asylerhebliche Übergriffe der Häufigkeit und Art,
die in den 80er und 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts die Annahme einer
Gruppenverfolgung der Jeziden begründet haben, seit 2003 nur noch ganz vereinzelt
vorgekommen sind. Weitere erhebliche Änderungen lassen sich im Verhältnis der
derzeit in der Region lebenden Jeziden zur moslemischen Mehrheitsbevölkerung und
bei der Schutzbereitschaft des türkischen Staates feststellen; seine Schutzfähigkeit ist
schon im Urteil des OVG NRW vom 24.11.2000 - 8 A 4/99.A - nicht in Zweifel gezogen
worden. Für das Verhältnis zwischen Jeziden und moslemischer Mehrheitsbevölkerung
gilt Folgendes: Nach der Stellungnahme des jezidischen Forums Oldenburg vom
04.07.2006 lebten am 30.03.2006 524 Jeziden in der Region, davon die meisten in den
Kreisen Viransehir, Besiri und Nusaybin. Zu diesen gehören neben denjenigen, die die
Türkei nie für längere Zeit verlassen haben, auch eine nicht unerhebliche Anzahl von
Rückkehrern, vor allem aus der Bundesrepublik Deutschland. Die Jeziden, die immer in
der Türkei und insbesondere in dieser Region geblieben sind, sind von
Verfolgungshandlungen verschont geblieben, weil sie entweder für die moslemische
Mehrheitsbevölkerung unbedeutend waren oder sich arrangiert hatten. Die Rückkehrer
werden von der sozialen Umgebung sicher aufmerksam beobachtet, sind aber aufgrund
ihres relativen Wohlstandes offenbar in der Lage, auch mit der einheimischen
moslemischen Bevölkerung geschäftliche Kontakte zu knüpfen und darüber
Anerkennung sowohl bei der Bevölkerung als auch bei den staatlichen Stellen zu
finden. Für diese Bewertung der Dinge spricht das Gesamtbild der Schilderungen und
Angaben, die sich in den Berichten aus den Jahren 2006 und 2007 finden.
Insbesondere spricht das Auswärtige Amt in seiner Stellungnahme vom 26.01.2007
(Seite 8) ebenso wie im aktuellen Lagebericht vom 25.10.2007 (Seite 20) von einer
nennenswerten Anzahl von Jeziden in der Region, die "zeitweise auch in Deutschland"
25
leben (allein im Kreis Besiri 150). Gerade diese Jeziden, die ohne Not in die Region
zurückkehren, belegen damit eindrucksvoll, dass sie auf eine erhebliche und dauerhafte
Veränderung der Verhältnisse vertrauen. Auch wenn dieses Vertrauen aus
unterschiedlichen Gründen in dem einen oder anderen Fall enttäuscht worden sein
sollte, kann der Rückkehrbewegung das Gewicht nicht abgesprochen werden, das für
die Annahme einer dauerhaften Veränderung der Verhältnisse erforderlich ist. In Bezug
auf die konkreten Zahlen von Rückkehrern wirken im Übrigen die Angaben des
jezidischen Forums in der Stellungnahme vom Juni 2006 (Seite 12) keinesfalls
vertrauenswürdiger als die genannten Zahlen des Auswärtigen Amtes.
Diese Einschätzung wird auch nicht dadurch infrage gestellt, dass - wie in diesen
Verfahren regelmäßig vorgetragen wird - die Moslems in der Türkei den Jeziden
gegenüber nach wie vor feindlich eingestellt sind und sie religiös bedingt ablehnen.
Denn eine nur innerlich gebliebene Ablehnung vonseiten der Moslems gibt keinen
Hinweis auf eine religionsbedingte Verfolgung der Jeziden, sofern sie nicht durch
asylerhebliche Eingriffe auch nach außen hin zutage tritt. Auch ein ihrer Religion
feindlich gesonnenes Umfeld lässt für sich allein gesehen Zweifel an der hinreichenden
Verfolgungssicherheit der Jeziden in der Türkei nicht zu. Deshalb kommt es auf die mit
dem in der mündlichen Verhandlung vom 15.01.2008 gestellten Beweisantrag zu 1.
unter Beweis gestellte Tatsache nicht an.
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Zur Änderung der Lage hinsichtlich der Schutzbereitschaft des türkischen Staates
verweist das Gericht auf die entsprechenden Ausführungen im Urteil des OVG NRW
vom 14.02.2006 - 15 A 2119/02.A -, S. 23 ff., denen es folgt.
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Die Kläger sind bei einer Aufenthaltnahme in der Türkei außerdem hinreichend sicher
vor einer asylerheblichen Verletzung des religiösen Minimums. Das OVG NRW hat
hierzu in seinem Urteil vom 14.02.2006 bereits ausgeführt, dass dabei nicht die
Bedeutung verkannt wird, die der religiösen Betreuung durch einen Scheich oder einen
Pir für ein funktionierendes Gemeindeleben der Jeziden zukommt. Nicht jede
Beeinträchtigung eines funktionierenden Gemeindelebens führe jedoch bereits zu einer
Verletzung des religiösen Existenzminimums. Auch für glaubensgebundene Jeziden
schließe das Fehlen ausreichender priesterlicher Betreuung und das Leben ohne eine
funktionierende Gemeinde aber die Religionsausübung in ihrem Kernbereich nicht ohne
weiteres aus. Unabhängig davon läge eine Verletzung des religiösen
Existenzminimums nur dann vor, wenn die Religionsausübung in ihrem unverzichtbaren
Kern durch staatliche oder dem Staat zurechenbare Eingriffe unmöglich gemacht würde.
Der Heimatstaat sei nicht zur Gewährleistung einer bestimmten religiösen Infrastruktur
verpflichtet. Religiöse Beeinträchtigungen der Jeziden beruhten nicht auf staatlichen
oder dem Staat zurechenbaren Eingriffen, sondern seien lediglich tatsächliche Folge
der vergleichsweise geringen Zahl von in der Türkei lebenden Jeziden (Bl. 26 des
amtlichen Umdrucks).
28
Dieser Wertung schließt sich das erkennende Gericht an. Zu berücksichtigen ist hierbei
auch, dass Jeziden ohnehin nicht nach außen hin erkennbar auf gemeinsame Gebete
oder rituelle Handlungen in einer speziellen Versammlungsstätte oder Kirche
angewiesen sind, sich die Ausübung der Religion im Alltag vielmehr auf den
innerfamiliären bzw. innerhäuslichen Bereich beschränkt. Auch ist davon auszugehen,
dass die die ganzen Jahre über in der Türkei verbliebenen Jeziden eine für sie als noch
ausreichend empfundene religiöse Betreuung und Betätigung erfahren haben dürften,
an der die Kläger künftig teilhaben könnten. Im Zuge der Rückkehr weiterer Jeziden in
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diese Region wird sich die Situation durch eine Vergrößerung der Gemeinden weiter
verbessern. Insofern teilt das Gericht nicht die Befürchtung der Kläger, in der Türkei sei
für Jeziden das religiöse Existenzminimum nicht gewährleistet.
Im Ergebnis ebenso nach Auswertung zahlreicher neuerer Erkenntnisquellen:
Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 17.07.2007 - 11 LB 332/03 -, S.
44 ff.; vgl. zu dieser Frage auch den einen Antrag auf Zulassung einer Berufung
ablehnenden Beschluss des OVG NRW vom 28.06.2007 - 15 A 1922/07.A - und das
Urteil vom 31.08.2007, a.a.O.
30
Ausgehend von dem vorstehenden rechtlichen Ansatz und den dazu getroffenen
tatsächlichen Feststellungen kommt es für die Entscheidung auf die mit den in der
letzten mündlichen Verhandlung mit dem Beweisantrag zu 2. unter Beweis gestellten
Tatsachen für die Entscheidung nicht an. Das Gericht geht mit dem
Oberverwaltungsgericht Münster davon aus, dass eine ausreichende priesterliche
Betreuung der noch im Südosten der Türkei lebenden Jeziden nicht mehr
uneingeschränkt gewährleistet ist, gleichwohl aber eine Religionsausübung möglich ist,
die dem religiösen Existenzminimum noch entspricht.
31
Auch § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG 2007 steht dem Widerruf nicht entgegen. Nach dieser
Vorschrift ist von einem Widerruf abzusehen, wenn sich der Ausländer auf zwingende,
auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den
Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Unabhängig von den
Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG 2007 hat danach aus humanitären
Gründen ein Widerruf zu unterbleiben, wenn im Einzelfall das konkrete
Flüchtlingsschicksal zwingende, auf der damaligen Verfolgung beruhende Gründe
erkennen lässt, die eine Rückkehr zum heutigen Zeitpunkt unzumutbar erscheinen
lassen. Zwischen der früheren Verfolgung und der Unzumutbarkeit der Rückkehr muss
ein Kausalzusammenhang bestehen. Die Vorschrift schützt aber nicht gegen allgemeine
Gefahren. Auch können aus ihr keine allgemeinen, von den gesetzlichen
Voraussetzungen losgelöste Zumutbarkeitskriterien hergeleitet werden, die einem
Widerruf der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung entgegenstehen. § 73 Abs. 1 Satz 3
AsylVfG 2007 trägt der psychischen Sondersituation solcher Personen Rechnung, die
ein besonders schweres, nachhaltig wirkendes Verfolgungsschicksal erlitten haben und
denen es deshalb selbst lange Zeit danach auch ungeachtet veränderter Verhältnisse
nicht zumutbar ist, in den früheren Verfolgerstaat zurückzukehren.
32
BVerwG, Urteil vom 01.11.2005 - 1 C 21.04 -, InfAuslR 2006, 244 (249 f.).
33
Vorliegend ist eine Unzumutbarkeit der Rückkehr auch dann nicht anzunehmen, wenn
im Heimatort der Kläger keine Familienangehörigen oder sonstigen jezidischen
Familien mehr leben sollten. Das Gericht geht nämlich davon aus, dass die Kläger,
gegebenenfalls mit weiteren Familienangehörigen, in eines der Dörfer oder
Wohngebiete in den Kreisen Besiri oder Viransehir ziehen können, in denen noch eine
nennenswerte Anzahl von Jeziden lebt (vgl. dazu die Ausführungen im Gutachten von
Baris vom 17.04.2006, S. 2-5, und die Stellungnahme des jezidischen Forums
Oldenburg vom 04.07.2006, S.12). Für die Zumutbarkeit der Rückkehr unter
wirtschaftlichen Aspekten gilt im Rahmen von § 73 Abs. 1 S. 3 AsylVfG 2007 dasselbe
wie nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG. Das Gericht geht insoweit mit dem OVG NRW
davon aus, dass Rückkehrer in der Türkei, wenn auch oft nicht ohne anfängliche
Schwierigkeiten, den notwendigen Lebensunterhalt finden können. Es ist die Solidarität
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in der Großfamilie, aber auch vonseiten sonstiger Bezugspersonen im Sinne des in der
Türkei geltenden Verwandtschaftsbegriffs, die es in den allermeisten Fällen verhindert,
dass in der Türkei zur Migration gezwungene Menschen Schaden an Leib und Seele
nehmen. Im Falle der Kläger kommt hinzu, das sie voraussichtlich Unterstützung von
ihren in Deutschland verbleibenden Familienangehörigen erwarten können. Im Übrigen
sind die vom Bundesverwaltungsgericht genannten Voraussetzungen für eine
psychische Sondersituation, auf die § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG 2007 abzielt, im Falle
der Kläger nicht ersichtlich.
Eine Unzumutbarkeit in diesem Sinne lässt sich hier auch nicht aus den möglicherweise
eingeschränkten Möglichkeiten der Religionsausübung, die schon weiter oben im
Rahmen des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG 2007 erörtert worden ist, herleiten. Insofern
kann nach § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG 2007 im Ergebnis kein anderer Maßstab gelten.
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Zur Entscheidung der vorstehend erörterten Fragen war auch die in der mündlichen
Verhandlung vom 27.04.2007 beantragte Beweiserhebung durch Einholung eines
weiteren Sachverständigengutachtens nicht erforderlich. Für die Einzelfrage, dass es
nach wie vor religiös motivierte Übergriffe auf Jeziden in den traditionellen
Siedlungsgebieten der Türkei gibt, wird auf die obigen Ausführungen verwiesen. Zur
Frage der Schutzbereitschaft des türkischen Staates ist die Einholung eines
Sachverständigengutachtens zusätzlich zu den vorliegenden Gutachten und Auskünften
nicht erforderlich, weil diese ein hinreichend aussagekräftiges Bild ergeben, das das
Gericht aufgrund seiner langjährigen Erfahrung mit Asylverfahren aus der Türkei
aufgrund eigener Sachkunde unter Berücksichtigung der Entscheidungen anderer
Verwaltungsgerichte - insbesondere des OVG NRW - bewerten kann. Die Frage der
hinreichenen Sicherheit vor erneuter Verfolgung ist wohl nicht als selbstständiges
Beweisthema gemeint, sondern als Zusammenfassung der beiden vorangegangenen
Fragen. Zur inländischen Fluchtalternative ist eine Beweiserhebung nicht erforderlich,
weil es darauf für die Entscheidung nicht ankommt; im Übrigen hat das Gericht keine
Anhaltspunkte dafür, dass sich insofern gegenüber der früheren Rechtsprechung etwas
geändert haben könnte.
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Wie hier schon VG N. , Urteil vom 27.04.2007 - 8 K 1731/06.A - im Verfahren des
Sohnes B. der Kläger.
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Die Kläger haben auch keinen Anspruch auf die Feststellung, dass die
Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG für sie in Bezug auf die Türkei
vorliegen. Insoweit wird zunächst auf die entsprechenden Ausführungen in den
angefochtenen Bescheiden verwiesen. Solche Ansprüche ergeben sich für die Kläger
auch nicht wegen ihres Gesundheitszustandes aus § 60 Abs. 7 AufenthG. Nach dieser
Vorschrift kann von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat
abgesehen werden, wenn dort für ihn eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben
oder Freiheit besteht. Der Begriff der Gefahr im Sinne dieser Vorschrift ist im Grundsatz
kein anderer als der im asylrechtlichen Prognosemaßstab der beachtlichen
Wahrscheinlichkeit angelegte, wobei allerdings das Element der Konkretheit der Gefahr
für "diesen" Ausländer das zusätzliche Erfordernis einer einzelfallbezogenen, individuell
bestimmten und erheblichen Gefahrensituation begründet. Für eine beachtliche
Wahrscheinlichkeit reicht es nicht aus, wenn eine Verfolgung oder sonstige
Rechtsgutverletzung im Bereich des Möglichen liegt; vielmehr muss eine solche mit
überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein. Das ist anzunehmen, wenn die für
die Rechtsgutverletzung sprechenden Umstände größeres Gewicht haben als die
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dagegen sprechenden Tatsachen und deshalb ihnen gegenüber überwiegen. Dieses
größere Gewicht ist nicht rein quantitativ zu verstehen, sondern im Sinne einer
zusammenfassenden Bewertung des Sachverhalts bei verständiger Würdigung aller
objektiven Umstände dahingehend, ob sie bei einem vernünftig denkenden,
besonnenen Menschen eine ernsthafte Furcht vor der Rechtsgutverletzung rechtfertigt.
Dabei sind auch die Zumutbarkeit eines mit der Rückkehr verbundenen Risikos und der
Rang des gefährdeten Rechtsgutes von Bedeutung.
So OVG NRW, Beschluss vom 16.12.2004 - 13 A 4512/03.A -, m.w.N. zur
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts.
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Erheblich ist eine Gefahr, wenn der Umfang der Gefahrenrealisierung von bedeutendem
Gewicht ist. Das ist der Fall, wenn sich durch die Rückkehr der unter dem Gesichtspunkt
der Leibes- und Lebensgefahr hier allein in Betracht kommende Gesundheitszustand
wegen geltend gemachter unzureichender medizinischer Behandlungsmöglichkeiten im
Zielstaaat der Abschiebung in einem angemessenen Prognosezeitraum wesentlich oder
sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde. Dabei kann diese Gefahr sich daraus
ergeben, dass die Behandlungsmöglichkeiten im Heimatstaat unzureichend sind, aber
auch daraus, dass die erforderliche medizinische Behandlung für den betreffenden
Ausländer nicht finanzierbar ist.
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Vgl. OVG NRW, Urteile vom 02.02.2005 - 8 A 59/04.A - und vom 18.01.2005 - 8 A
1242/03.A -.
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Wegen einer bei Rückkehr in die Türkei notwendig werdenden medizinischen
Behandlung kann im Allgemeinen eine erhebliche konkrete Gefahr im Sinne des § 60
Abs.7 Satz 1 AufenthG nicht angenommen werden. Die medizinische Grundversorgung
der Bevölkerung ist durch das öffentliche Gesundheitssystem und den sich
ausweitenden Sektor privater Gesundheitseinrichtungen - wenn auch nicht auf hohem
Niveau - grundsätzlich sichergestellt.
42
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 19.04.2005 - 8 A 273/04.A -, Bl. 126 des amtl. Umdrucks.
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Die dieser Bewertung zugrundeliegenden tatsächlichen Verhältnisse haben sich nach
dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 25.10.2007 tendenziell weiter verbessert.
Das Gericht hat keine Anhaltspunkte dafür, dass die bei den Klägern nach den von
ihnen beigebrachten Attesten vorliegenden Erkrankungen in der Türkei nicht behandelt
werden können. Beim Kläger spricht dafür schon, dass das letzte für ihn vorgelegte
Attest vom 03.11.2005 datiert; es ist also davon auszugehen, dass er allenfalls
routinemäßig ambulant weiter behandelt wird. Nach der zusammenfassenden ärztlichen
gutachtlichen Äußerung über die Klägerin vom 07.01.2008 stehen bei ihr ein
chronisches generalisiertes Schmerzsyndrom und der Verdacht auf eine somatisierte
Depression im Vordergrund. Zur Bewältigung des Alltagslebens und zur Erhaltung der
Lebensqualität ist danach eine permanente Schmerzbehandlung erforderlich. Auch
insofern hat das Gericht keine Anhaltspunkte dafür, dass eine solche Behandlung in der
Türkei nicht zu leisten wäre.
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Es besteht auch keine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Kläger die
erforderlichen medizinischen Behandlungen in der Türkei nicht finanzieren könnten. Bei
Mittellosigkeit haben sie die Möglichkeit, sich von der Gesundheitsverwaltung die
"grüne Karte" (Yesil Card) ausstellen zu lassen, die zu einer kostenlosen medizinischen
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Versorgung im staatlichen Gesundheitssystem berechtigt. Während des Zeitraums bis
zur Ausstellung der grünen Karte, der mehrere Wochen bis zu wenigen Monaten dauern
kann, ist eine sofortige Behandlung akut erkrankter Personen im staatlichen
Gesundheitssystem möglich; die "Stiftung für Sozialhilfe" kann zudem eintreten, wenn
und soweit die Kosten medizinischer Versorgung durch die "Yesil Card" nicht gedeckt
sind.
Vgl. OVG NRW, Urteil vm 19.04.2005 - 8 A 273/04.A -, Bl. 127, m.w.N.
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Es kommt hinzu, dass davon ausgegangen werden kann, dass die Kläger sich auch
insoweit auf die Unterstützung durch ihre Familie, insbesondere ihrer Kinder, verlassen
können.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylVfG. Die
Entscheidungen zur vorläufigen Vollstreckbarkeit und Abwendungsbefugnis folgen aus
§ 167 VwGO, 708 Nr. 11 und 711 ZPO.
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