Urteil des VG Minden vom 27.11.2003
VG Minden: grundstück, eigentümer, wesentlicher grund, stadt, gemeinde, werterhöhung, preisentwicklung, behörde, unterschutzstellung, verfügung
Verwaltungsgericht Minden, 9 K 4252/03
Datum:
27.11.2003
Gericht:
Verwaltungsgericht Minden
Spruchkörper:
9. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
9 K 4252/03
Tenor:
Der Bescheid des Beklagten vom 10. Dezember 2002 in der Fassung
des Widerspruchsbescheides vom 04. April 2003 wird aufgehoben.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe
von 110 Prozent des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig
vollstreckbar.
Tatbestand:
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Der Kläger ist Eigentümer des Grundstücks Gemarkung E. Flur 12 Flurstücke 62 und
301 (Lange Straße 63) in E. . Das Grundstück liegt in einem förmlich festgelegten
Sanierungsgebiet.
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Mit Schreiben vom 23. August 1996 kündigte die Landesentwicklungsgesellschaft
Nordrhein-Westfalen GmbH (künftig: LEG) die Erhebung von Ausgleichsbeträgen zur
Finanzierung der Sanierung an: Die Stadt E. habe sie zum Treuhänder für die
Vorbereitung und Durchführung der Sanierungsmaßnahme "Altstadt E. - I.
Sanierungsabschnitt" bestellt. Der von den Eigentümern zu entrichtende
Ausgleichsbetrag entspreche der Erhöhung des Bodenwertes, die durch die Sanierung
bedingt sei. Die Erhöhung des Bodenwertes bestehe aus dem Unterschied zwischen
dem Bodenwert, der sich für das Grundstück ergeben würde, wenn eine Sanierung nicht
durchgeführt worden wäre (Anfangswert), und dem Bodenwert, der sich für das
Grundstück durch die rechtliche und tatsächliche Neuordnung des förmlich festgelegten
Sanierungsgebiets ergebe (Endwert). Der Gutachterausschuss für Grundstückswerte in
der Stadt E. habe die Anfangs- und Endwerte ermittelt, sodass die Ausgleichsbeträge
errechnet und erhoben werden könnten. Dem Eigentümer werde Gelegenheit gegeben,
vor der endgültigen Festsetzung des Ausgleichsbetrages Stellung zu nehmen. Die
Bodenrichtwertkarten mit den Anfangs- und Endwerten könnten eingesehen werden.
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In dem folgenden Schriftwechsel führte die LEG bzw. der Beklagte auf entsprechende
Einwände des Klägers aus: Die Satzung über die förmliche Festlegung des
Sanierungsgebietes bestimme den östlich der Lange Straße gelegenen Altstadtbereich
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wegen der dort bestehenden städtebaulichen Missstände zum Sanierungsgebiet. Der
erste Sanierungsabschnitt in der Altstadt E. umfasse den Bereich zwischen Lange
Straße/Woldemarstraße/Leopoldstraße/Hornsche Straße/Gartenstraße/ Baumstraße.
Die Einbeziehung der Lange Straße in das Sanierungsgebiet hätte für die Anlieger den
Vorteil, dass eine Kostenumlegung nicht vorzunehmen gewesen sei. Die
Ausgleichsbetragregelung stelle keinen Kostenersatz dar, sondern schöpfe lediglich
den Wertvorteil ab, den der Grund und Boden eines im Sanierungsgebiet gelegenen
Grundstückes durch die Sanierung erfahren habe. Mit den Sanierungsmaßnahmen sei
im Jahre 1972 begonnen worden. Im Bereich des streitgegenständlichen Grundstückes
seien folgende Sanierungs- und Ordnungsmaßnahmen durchgeführt worden, die zu den
ermittelten Bodenwertsteigerungen geführt hätten: Ausbau der Fußgängerzone "Lange
Straße", verkehrsberuhigter Ausbau der Meierstraße und der Karlstraße, Umgestaltung
bzw. Neubau der Friedrichstraße, der Adolfstraße und der Schülerstraße, Entkernung
und Freimachung im rückwärtigen Bereich Lange Straße/Karlstraße/Meierstraße und
der Werreausbau einschließlich Brückenneubau im Zuge der Meierstraße. Nicht zuletzt
durch die Geschäftsansiedlung der Firmen L. und N. , die im Rahmen der
Stadtsanierung ermöglicht worden seien, hätte die Lage der übrigen
Einzelhandelsgeschäfte in der Innenstadt erheblich an Attraktivität gewonnen. Die
Feststellungen zum sanierungsbedingten Wertvorteil seien vom Gutachterausschuss für
Grundstückswerte in der Stadt E. auf der Grundlage langjähriger Marktbeobachtungen
und dabei festgestellter Preisveränderungen getroffen worden. Sowohl der
sanierungsunbeeinflusste Wert als auch der durch die Sanierung beeinflusste sei zum
Stichtag 31. Dezember 1991 ermittelt worden. Mangels unbebauter Grundstücke sei für
die Ermittlung von Bodenwerten die allgemeine Preisentwicklung des
Grundstückmarktes berücksichtigt und zwischen den unmittelbar an der Lange Straße
angrenzenden Flächen (60,00 DM/n.²) und dem rückwärtigen Bereich (45,00 DM/n.²)
unterschieden worden. Der Gutachterausschuss für Grundstückswerte in der Stadt E.
habe die Anfangs- und Endwerte als zonale Grundwerte (Bodenrichtwerte) ohne
Begründung festgesetzt und sehe sich daher außer Stande, in Einzelfällen
Bewertungen oder andere Unterlagen zur Verfügung zu stellen. Eventuell vorhandene
Besonderheiten jedes einzelnen Grundstücks hätten Beachtung gefunden. Dass die
Grundstücke im Bereich Meierstraße/Adolfstraße, Meierstraße/Karlstraße bzw.
Meierstraße/Friedrichstraße nur einen geringen Wertzuwachs durch die Sanierung
erfahren hätten, sei darauf zurückzuführen, dass die Struktur dieses Gebietes auch nach
der Sanierung unverändert geblieben sei. Die Bebauung rückwärtiger Flächen des
Grundstückes durch den Kläger sei ausschließlich in seinem Interesse zum Zwecke
einer stärkeren Ausnutzung des Grundbesitzes durchgeführt worden und stelle keine
Ordnungsmaßnahme dar.
Mit Schreiben vom 19. Dezember 1997 teilte der Kläger gegenüber der LEG mit: Zur
Begründung der sanierungsbedingten Bodenwerterhöhung könnte sich die LEG nicht
auf die rückwärtige Erschließung des Grundbesitzes von der Meierstraße her berufen.
Das Grundstück sei lediglich durch die Lange Straße als öffentliche Straße erschlossen.
Der im rückwärtigen Gebäudeteil befindliche Notausgang gehe auf den privaten
Parkplatz der benachbarten Å. X. -M. , der wiederum durch eine Schranke von der
Meierstraße abgetrennt sei. Wenn eine Belieferung über das Grundstück der Å. X. -M.
erfolgen könne, so sei dies auf die durch ihn gezahlte Baulast und das dadurch bedingte
gut nachbarschaftliche Verhältnis zur Å. X. -M. begründet, nicht aber durch das
Sanierungskonzept der Stadt E. . Aus baulicher Sicht wäre eine Belieferung über die
Lange Straße, die allerdings auf Grund der Sanierungsplanung Fußgängerzone sei,
genauso gut möglich, da der Warenlift sich in der Gebäudemitte befinde. Werde von
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zonalen Grundwerten ausgegangen, würde dem Eigentümer die Möglichkeit gegeben,
bestimmte Rechnungsposten dem Ausgleichsbetrag entgegenzustellen und ihn dadurch
zu mindern.
Mit Bescheid vom 10. Dezember 2002 erhob der Beklagte vom Kläger einen
Ausgleichsbetrag in Höhe von 12.953,58 EUR. Zur Begründung führte er aus: Der
Gutachterausschuss für Grundstückswerte in der Stadt E. habe für das Grundstück als
Anfangswert 1.025,00 bzw. 435,00 DM/n.² und als Endwert 1.085,00 bzw. 480,00 DM/n.²
ermittelt. Die sich daraus ergebene Werterhöhung von 60,00 bzw. 45,00 DM/n.² sei als
Ausgleichsbetrag zu entrichten. Bei einer Grundstücksgröße von 508 n.² betrage der
Ausgleichsbetrag für 165 n.² á 60,00 DM mithin 9.900,00 DM, und für 343 n.² á 45,00
DM mithin 15.435,00 DM, und daher insgesamt 25.335,00 DM = 12.953,58 EUR.
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Hiergegen legte der Kläger mit Schreiben vom 13. Januar 2003 unter Bezugnahme auf
sein bisheriges Vorbringen und den Inhalt des Widerspruchsschreibens der Klägerin zu
1. im Verfahren 9 K 4181/03 Widerspruch ein: Die nach § 154 Abs. 4 BauGB
vorgeschriebene Anhörung sei unterblieben. Auf die Möglichkeit, den Ausgleichsbetrag
in ein Tilgungsdarlehen umzuwandeln, und auf die dazu notwendigen Voraussetzungen
sei nicht hingewiesen worden. Bei der Ermittlung der Bodenwerte müssten sowohl die
Vorteile als auch die Nachteile mit einfließen. Es sei nicht nur vorteilhaft, dass die Lange
Straße nach der Sanierung eine Fußgängerzone sei. Der Lieferverkehr könne die
Geschäfte nur noch zu bestimmten Zeiten anfahren. Kunden könnten die Geschäfte
ebenfalls nicht mehr direkt anfahren. Die Bewohner der Häuser müssten ihre
Kraftfahrzeuge weit von den Wohnungen entfernt parken, was zur Folge habe, dass ein
nicht mehr so hoher Mietpreis für die Wohnungen zu erzielen sei. Ferner sei es durch
die Sanierung in den Jahren 1981, 1984, 1985, 1998 und 2000 zu Hochwasser
gekommen, da nach den Umbauten die Werre über die Ufer getreten sei. Ebenso müsse
berücksichtigt werden, dass die Grundstücke mit denkmalgeschützten Gebäuden
bebaut seien. Daher müsse die Bodenwerterhöhung mit 0,00 EUR angesetzt werden.
Die Gemeinde habe darüber hinaus den Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 GG verletzt.
Führe die Gemeinde in der Sanierung Verbesserungen von Straßen durch, die nach
dem Kommunalabgabenrecht beitragsfähig seien, müsse sie die Eigentümer innerhalb
und außerhalb des Sanierungsgebietes grundsätzlich in gleicher Weise zur
Finanzierung heranziehen. Das Sanierungsgebiet ende jedoch genau an der westlichen
Begrenzung der Lange Straße, unmittelbar vor der Bebauung der angrenzenden
Grundstücke. Die Eigentümer dieser Grundstücke wären daher beitragspflichtig nach §
127 BauGB gewesen. Der Beklagte habe von diesen Eigentümern jedoch keinerlei
Abgaben oder Beiträge verlangt, obwohl diese in genau der gleichen Weise von dem
Ausbau der Lange Straße profitierten wie die Eigentümer an der östlichen Seite der
Lange Straße. Auch die Bruchstraße, die außerhalb des Sanierungsgebietes liege, sei
zur Fußgängerzone ausgebaut worden. Obwohl die Eigentümer an der Bruchstraße nun
auch von den Vorteilen einer Fußgängerzone profitierten, seien diese in großen Teilen
nicht zu Abgaben oder Beiträgen durch die Gemeinde herangezogen worden. Es sei
bislang nicht beachtet worden, dass auf den Ausgleichsbetrag Bodenwerterhöhungen
des Grundstücks anzurechnen seien, die der Eigentümer zulässiger Weise durch
eigene Aufwendungen bewirkt habe. Im Jahre 1990 habe er das Grundstück umfassend
saniert. Es hätten drei Einzelgebäude niedergelegt werden müssen. Die dadurch
entstanden Kosten, seien Kosten die ihm als Eigentümer anzurechnen seien. Darüber
hinaus sei die nach dem Sanierungsplan der Stadt E. vorgesehene eingeschossige
Bebauung des rückwärtigen Hofraumes möglich, weil er sich mit den
Grundstücksnachbarn über die Übernahme einer Baulast einigte. Hierfür habe er einen
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Betrag von 28.329,00 DM zahlen müssen. Von ihm könnten keine Zahlungen verlangt
werden, weil die Sanierung des Grundstückes ausschließlich und allein durch ihn und
auf seine Kosten vorgenommen worden sei.
Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 04. April 2003
zurück. Zur Begründung führte er im Wesentlichen ergänzend aus: Die angeführten
Hochwasserereignisse seien nicht durch den Ausbau der Werre entstanden. Die
Ursache dafür sei vielmehr auf außergewöhnliche Witterungsverhältnisse
zurückzuführen. Die Unterschutzstellung von Gebäuden nach den Bestimmungen des
Denkmalschutzgesetzes NRW stehe in keinerlei Zusammenhang mit der Festlegung
des Sanierungsgebietes. Eine Minderung der Wertsteigerung des Grund- und Bodens
auf Grund der Denkmaleigenschaft aufstehender Gebäude sei im Vergleich zu anderen
Stadtgebieten nicht erkennbar. Auch führe die Unterschutzstellung eines Gebäudes
nicht zwangsläufig zu einem Wertverlust. Ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz
gemäß Art. 3 GG sei nicht erkennbar. Die Umgestaltung der Lange Straße zur
Fußgängerzone habe sowohl für die Grundstücke im Sanierungsgebiet als auch für die
außerhalb desselben (westliche Bauzeile) keine Beitragspflicht nach den
Bestimmungen des BauGB ausgelöst. § 127 BauGB sei nur bei der Neuerstellung von
Erschließungsanlagen anwendbar. Bezüglich des westlichen Stadtgebietes, in dem
sich die Bruchstraße befinde, lägen städtebauliche Missstände, die Voraussetzungen
für eine förmliche Festlegung als Sanierungsgebiet seien, nicht vor.
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Mit seiner am 08. Mai 2003 erhobenen Klage verfolgt der Kläger unter Wiederholung
und Vertiefung seines bisherigen Vorbringens sein Begehren weiter.
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Der Kläger beantragt,
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den Bescheid des Beklagten vom 10. Dezember 2002 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 04. April 2003 aufzuheben.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung führt der Beklagte unter Anderem weiter aus: Die fehlerfreie Ermittlung
der Bodenwerte könne durch ein vom Gericht einzuholendes
Sachverständigengutachten bewiesen werden. Bei der Bewertung der für den Anfangs-
und Endwert maßgeblichen Faktoren stehe der Gemeinde aus der Natur der Sache ein
Schätzungsspielraum zu. Vorliegend seien die Besonderheiten des
streitgegenständlichen Grundstückes beachtet worden. Durch die Sanierung des
Stadtviertels sei die rückwärtige Erschließung verbessert und durch den Abbruch des
Wohnhauses und des Personalgebäudes freier Raum geschaffen worden. Zudem sei
die Kanalisation ergänzt und eine Fußgängerzone eingerichtet worden. Durch die
Schaffung einer Fußgängerzone habe sich insbesondere die Immissionsbelastung für
das streitgegenständliche Grundstück verringert. Eventuelle Nachteile durch die
Einschränkung des Lieferverkehrs sowie der Parkmöglichkeiten von Kunden und
Bewohnern seien bei der Berechnung der Bodenwerte nicht zu berücksichtigen.
Wesentlicher Grund für die Werterhöhung der im Sanierungsgebiet gelegenen
Grundstücke sei nicht der im Rahmen der Stadtsanierung erfolgte Umbau der Lange
Straße zur Fußgängerzone, sondern die Verbesserung der allgemeinen Wohn- und
Lebensverhältnisse durch teilweise Neuordnung des Gebiets nach vorausgegangenem
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Erwerb und Abbruch von Bauwerken.
Auf den Hinweis des Gerichts, dass die Verwaltungsvorgänge zur Beurteilung der
Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide nicht ausreichten, hat der Beklagte
mitgeteilt, dass für die betroffenen Grundstücke keine anderen als die bereits
überlassenen Akten geführt würden. Die sanierungsbedingten Werterhöhungen der
Grundstücke seien vom Gutachterausschuss für Grundstückswerte ermittelt und als
Anfangs- und Endwerte in den Bodenrichtwertkarten ausgewiesen worden. Weiter
gehende Unterlagen, insbesondere Aussagen darüber, wie die Werte ermittelt worden
seien, stünden der Stadt E. nicht zur Verfügung. Diesbezüglich werde an den
Gutachterausschuss für Grundstückswerte verwiesen.
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Die Beteiligten haben übereinstimmend auf die Durchführung einer mündlichen
Verhandlung verzichtet.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte dieses Verfahrens und der Gerichtsakten in den Verfahren 9 K 4181/03
und 9 K 4224/03 sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten
verwiesen.
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Entscheidungsgründe:
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Mit Einverständnis der Beteiligten entscheidet die Kammer gemäß § 101 Abs. 2 VwGO
ohne mündliche Verhandlung.
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Auf die zulässige Anfechtungsklage ist der an den Kläger gerichtete Bescheid des
Beklagten vom 10. Dezember 2002 in der Fassung des Widerspruchbescheides des
Beklagten vom 04. April 2003 ohne Entscheidung in der Sache aufzuheben. Nach § 113
Abs. 3 Sätze 1 und 4 VwGO kann das Gericht binnen sechs Monaten seit Eingang der
Akten der Behörde, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und
den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art und Umfang die noch
erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter
Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Diese Voraussetzungen
liegen vor.
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Die Entscheidung ergeht binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten bei Gericht am
20. Juni 2003.
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Für die Beurteilung der materiellen Rechtmäßigkeit der erhobenen Ausgleichsbeträge
sind unter Berücksichtigung der Anforderungen, die in Verfahren dieser Art an die
Sachverhaltsermittlung zu stellen sind, noch erhebliche Ermittlungen erforderlich.
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Der in § 154 Abs. 1 und 2 BauGB grundsätzlich definierte Ausgleichsbetrag ist unter
Beachtung des § 196 BauGB und der Vorschriften der Wertermittlungsverordnung,
insbesondere der §§ 26 ff. WertV, zu bestimmen. § 196 BauGB ist zu entnehmen, dass
grundsätzlich Bodenrichtwerte für einzelne Grundstücke zu ermitteln sind
23
- vgl. OVG NRW, Urteil vom 09. April 1990 - 22 A 1185/89, NWVBl. 1990, 412 (416) -.
24
Die Ermittlung der Anfangs- und Endwerte ist in der Regel mit erheblichen
Schwierigkeiten verbunden, da eine Vielzahl von Faktoren, die selbst von
25
Sachverständigen oft nicht einheitlich bewertet werden, zu berücksichtigen sind
- vgl. OVG NRW, Urteil vom 09. April 1990 - 22 A 1185/89, NWVBl. 1990, 412 (416) -.
26
Deshalb kommt der Ermittlung der Grundlagen der Bewertung eine erhöhte Bedeutung
zu. Sie ist dementsprechend den Betroffenen und den zur Kontrolle der Entscheidung
berufenen Verwaltungsgerichten mitzuteilen
27
- vgl. VG Frankfurt, Beschluss vom 25. August 1999 - 8 G 3502/98 (3), NVwZ 2000, 227 -
.
28
Denn nur so kann beurteilt werden, ob sich die Behörde innerhalb des ihr in § 154 Abs.
2 BauGB gewährten (begrenzten) Schätzungsspielraumes gehalten hat.
29
Die vom Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgänge und seine Ausführungen im
gerichtlichen Verfahren lassen eine derartige Beurteilung nicht zu. Ihnen lässt sich
lediglich entnehmen, dass die sanierungsbedingte Werterhöhung der im
Sanierungsgebiet liegenden Grundstücke vom Gutachterausschuss ermittelt wurde und
die auf den Stichtag 31. Dezember 1991 bezogenen Anfangs- und Endwerte von ihm in
den Bodenrichtwertkarten nach Zonen getrennt ausgewiesen wurden. Mangels
unbebauter Grundstücke ist dabei von dem Gutachterausschuss auf die allgemeine
Preisentwicklung des Grundstücksmarktes zurückgegriffen worden. Für die Grundstücke
Lange Straße 55 bis 71 ist weiter zwischen den unmittelbar an die Lage Straße
angrenzenden Flächen und dem rückwärtigen Bereich unterschieden worden. Für das
Grundstück des Klägers ermittelte der Gutachterausschuss danach einen Anfangswert
von 1.025,00 DM bzw. 435,00 DM und einen Endwert von 1.085,00 DM bzw. 480,00
DM.
30
Es ist schon nicht ersichtlich, ob der Gutachterausschuss in Übereinstimmung mit § 28
Abs. 2 WertV als Wertermittlungsstichtag den 31. Dezember 1991 zu Grunde gelegt hat
31
- vgl. zum Wertermittlungsstichtag: OVG Bremen, Urteil vom 13. Dezemer 1994 - 1 BA
37/93, juris; OVG Lüneburg, Beschluss vom 13. März 1997 - 1 M 4892/96, juris; Kleiber,
in Ernst/Zinkhahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, Loseblatt- Kommentar,
Band 5, München, Stand: 01. Mai 2003, § 28 WertV Rn. 18 und 29; Fislake, in: Berliner
Kommentar zum Baugesetzbuch, Loseblatt, Band 2, Köln, Berlin, Bonn, München,
Stand: August 2002, § 154 Rn. 20 - .
32
Weiter lässt die Mitteilung des Beklagten, der Gutachterausschuss habe mangels
unbebauter Grundstücke auf die allgemeine Preisentwicklung zurückgegriffen und nach
Zonen unterschieden, offen, ob dabei die allgemein anerkannten Grundsätze der
Wertermittlungsverordnung beachtet worden sind
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- vgl. zum Bewertungsverfahren: BVerwG, Urteil vom 17. Mai 2002 - BVerwG 4 C 6.01,
DVBl. 2002, 1479 (1481); BVerwG, Beschluss vom 16. Januar 1996 - BVerwG 4 B
69.95, BRS 48 Nr. 243; OVG Lüneburg, Urteil vom 30. Mai 2001 - 1 L 3314/00, ZMR
2002, 233 (234); VG Frankfurt, Beschluss vom 25. August 1999 - 8 G 3502/98 (3), NVwZ
2000, 227; Fislake, in: Berliner Kommentar zum Baugesetzbuch, Loseblatt, Band 2,
Köln, Berlin, Bonn, München, Stand: August 2002, § 154 Rn. 21 -.
34
Diese Angaben lassen allenfalls den Schluss zu, dass die Ermittlung des Anfangs- und
35
des Endwertes auf dem sog. Bodenrichtwertverfahren oder mittelbaren
Vergleichswertverfahren beruht
- vgl. zum Bodenrichtwertverfahren: OVG Lüneburg, Beschluss vom 13. März 1997 - 1 M
4892/96, juris; Kleiber, in: Ernst/Zinkhahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch,
Loseblatt- Kommentar, Band 5, München, Stand: 01. Mai 2003, § 13 Rn. 35 ff. - .
36
Ob das Verfahren den §§ 13 und 14 WertV entspricht, kann auf Grund der Angaben des
Beklagten hingegen nicht beurteilt werden. Es ist nicht einmal ersichtlich, welche Zonen
im Einzelnen gebildet und weshalb die gebildeten Zonen, für die einheitliche Anfangs-
und/oder Endwerte festgelegt wurden, wie geschehen abgegrenzt wurden.
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Zudem reicht, um den Vorgaben des § 154 Abs. 2 BauGB gerecht zu werden, eine
Ermittlung der Bodenwerterhöhung nur für Wertzonen nicht aus. Es ist weiter
erforderlich, dass darauf aufbauend für jedes einzelne Grundstück geprüft wird, ob
Besonderheiten hinsichtlich seines Zuschnitts, seiner Lage oder seiner Ausnutzbarkeit
eine von den Grundwerten abweichende Bewertung erfordern
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- vgl. VG Minden, Urteil vom 14. März 2002 - 9 K 3304/98, S. 21; VG Minden, Urteil vom
15. Juni 2000 - 9 K 2687/98, S. 18 -.
39
Entsprechende Einzelgutachen sind vom Beklagten nicht vorgelegt worden. Dass
solche vom Gutacherausschuss erstellt worden sind, hat der Beklagte weder behauptet
noch ist dies sonst ersichtlich. Vielmehr verweist der Beklagte selbst darauf, dass die
rechtsfehlerfreie Ermittlung der Bodenwerte durch ein (erst noch) vom Gericht
einzuholendes Gutachten bewiesen werden könne.
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Ob weiter - § 28 Abs. 3 Satz 2 WertV entsprechend - Beeinträchtigungen der zulässigen
Nutzbarkeit, die sich aus einer bestehen bleibenden Bebauung auf einem Grundstück
ergeben, vom Gutachterausschuss zutreffend berücksichtigt wurden, oder von einer
Berücksichtigung abgesehen wurde, weil es bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise
oder aus sonstigen Gründen nicht geboten erschien, das Grundstück in der bisherigen
Weise zu nutzen, kann gleichfalls anhand der eingereichten Verwaltungsvorgänge des
Beklagten und seinen Ausführungen nicht geklärt werden.
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Die Aufhebung ist auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten
sachdienlich. Denn es ist zunächst Aufgabe des Beklagten die Ermittlung des Anfangs-
und Endwertes durch den Gutachterausschuss zu prüfen, bevor er sich auf die Angaben
verlässt und entsprechende Ausgleichsbeträge festsetzt. Der Gutachterausschuss wird
für den Beklagten nämlich ausschließlich als Gutachter im Rahmen seiner Aufgaben
gemäß § 193 BauGB tätig. Zwar verfügt der Gutachterausschuss über besondere
Sachkunde, Fachwissen und Erfahrung, eine nachvollziehbare und an den gesetzlichen
Bestimmungen orientierte Berechnung des Anfangs- und des Endwertes macht dies
jedoch nicht entbehrlich. Dies hat der Beklagte nicht berücksichtigt, sondern vielmehr -
wie seine Mitteilung, über keine weiter gehenden Unterlagen zu verfügen, zeigt - sich
ohne Prüfung auf die vom Gutachterausschuss mitgeteilten Daten, denen nach den
Angaben der LEG zudem ohne Begründung festgesetzte Bodenrichtwerte zu Grunde
liegen - verlassen. Dass nunmehr das Gericht an Stelle des Beklagten die zur
Beurteilung der Rechtmäßigkeit der erhobenen Ausgleichsbeträge erforderlichen
Informationen, namentlich vor allem ein das Grundstück des Klägers betreffendes
Einzelgutachten einholt, ist nicht gerechtfertigt. Ein derartiges Vorgehen würde die dem
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Beklagten obliegende Ermittlungspflicht in das gerichtliche Verfahren verlagern, ohne
dass dies für die Kläger mit beachtlichen Vorteilen verbunden wäre. Das Gericht darf die
dem Beklagten eingeräumte Schätzungsbefugnis nämlich nicht an dessen Stelle
ausüben. Vielmehr hat es die Schätzungsbefugnis des Beklagten zu respektieren und
kann bei dessen Ausübung lediglich nachprüfen, ob sich die Entscheidung des
Beklagten im Rahmen dessen hält, was der Schätzungsspielraum als rechtlich
vertretbar zulässt
- vgl. zur gerichtlichen Kontrolldichte: OVG NRW, Urteil vom 09. April 1990 - 22 A
1185/89, NWVBl. 1990, 412 (415) -.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.n.. § 709 Sätze 1
und 2 ZPO.
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