Urteil des VG Minden vom 07.12.2010

VG Minden (italien, bundesrepublik deutschland, abschiebung, rom, durchführung, anordnung, staat, drittstaat, verwaltungsgericht, prüfung)

Verwaltungsgericht Minden, 3 L 625/10.A
Datum:
07.12.2010
Gericht:
Verwaltungsgericht Minden
Spruchkörper:
3. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
3 L 625/10.A
Tenor:
Der Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung
aufgegeben, Maßnahmen zum Vollzug der Verbringung des
Antragstellers nach Italien vorläufig auszusetzen. Soweit bereits eine
Abschiebungsandrohung erlassen und der zuständigen
Ausländerbehörde übergeben wurde, wird der Antragsgegnerin
aufgegeben, dieser mitzuteilen, dass eine Abschiebung des
Antragstellers nach Italien vorläufig nicht durchgeführt werden darf.
Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben
werden, trägt die Antragsgegnerin.
Gründe:
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Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist zulässig und begründet.
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Das Rechtsschutzinteresse für den Antrag ergibt sich daraus, dass nach
übereinstimmenden Mitteilungen der Parteien die Rückschiebung des Antragstellers
nach Italien für den 09.12.2010 vorgesehen ist.
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Der Zulässigkeit des Antrages steht § 34 a Abs. 2 AsylVfG nicht entgegen. Hiernach darf
die Abschiebung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat, der
- wie hier - auf dem Wege des § 27 a AsylVfG ermittelt worden ist, nicht nach § 80 oder
123 VwGO ausgesetzt werden. Die vorläufige Untersagung der Abschiebung kommt
nach § 123 VwGO jedoch in Betracht, wenn eine die konkrete Schutzgewährung nach §
60 AufenthG in Frage stellende Sachlage im für die Durchführung des Asylverfahrens
zuständigen Staat gegeben ist.
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Die Vorschrift des § 34 a AsylVfG ist auch im Hinblick auf die Fälle des § 27 a AsylVfG
verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass sie entgegen ihrem Wortlaut die
Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes im Zusammenhang mit geplanten
Abschiebungen in den sicheren Drittstaat, namentlich auf der Grundlage der Dublin II-
VO, nicht generell verbietet, sondern derartiger Rechtsschutz in Ausnahmefällen nach
den allgemeinen Regeln möglich bleibt. Eine Prüfung, ob der Zurückweisung in den
Drittstaat oder in den nach europäischem Recht oder Völkerrecht für die Durchführung
des Asylverfahrens zuständigen Staat ausnahmsweise Hinderungsgründe
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entgegenstehen, kann der Ausländer danach dann erreichen, wenn es sich auf Grund
bestimmter Tatsachen aufdrängt, dass er von einem der im normativen
Vergewisserungskonzept des Art. 16 a Abs. 2 GG und der §§ 26 a, 27 a, 34 a AsylVfG
nicht aufgefangenen Sonderfälle betroffen ist. Zwar sind an die Darlegung eines
solchen Sonderfalles strenge Anforderungen zu stellen, doch ist ein Antrag nach § 123
VwGO in diesen Fällen auch in Ansehung von § 34 a AsylVfG nicht generell unzulässig.
Vgl. BVerfG, Urteil vom 14.05.1996 - 2 BvR 1938, 2315/93 -, BVerfGE 94, 49 (102),
sowie Beschlüsse vom 08.09.2009 - 2 BvQ 56/09 -, DVBl. 2009, 1304 f., und 08.12.2009
- 2 BvR 2780/09 -, juris, Rdnr. 1 ff.
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Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnung zur Regelung eines
vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese
Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden. Das ist hier der Fall.
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Unter Berücksichtigung des Vorbringens des Antragstellers, der bisherigen
Rechtsprechung zur Überstellung von Asylbewerbern nach Italien auf der Grundlage der
Dublin II-VO und der Auskünfte zur Lage von Asylbewerbern in Griechenland ist im
Hauptsacheverfahren zu prüfen, ob und ggf. welche Vorgaben das Grundgesetz für die
fachgerichtliche Prüfung der Grenzen des Konzepts der normativen Vergewisserung
trifft, wenn eine Abschiebung nach Italien Verfahrensgegenstand ist, und ob etwaige
Vorgaben einer Überstellung nach Italien entgegenstehen.
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Das Gericht verkennt nicht, dass in der Rechtsprechung bisher nur ausnahmsweise
konkrete Hinweise darauf festgestellt worden sind, dass das Asylverfahren in Italien
nicht in vollem Umfang dem Konzept der normativen Vergewisserung entsprechen
könnte. Es ist jedoch nicht zu übersehen, dass es solche Hinweise gibt, die auch Anlass
geben, ihnen nachzugehen. Dem Bericht der Schweizerischen Beobachtungsstelle für
Asyl- und Ausländerrecht vom November 2009 über die "Rückschaffung in den sicheren
Drittstaat Italien" entnimmt das Gericht, dass ein Asylgesuch in Italien laut Gesetz bei
der Polizeistelle an der Grenze oder bei der Questura gestellt werden kann. Das
Asylgesuch wird dann an eine der sieben territorialen Kommissionen weitergeleitet, die
eine einmalige Befragung durchführen und über Asylanträge entscheiden.
Asylsuchende sollten bis zum Asylentscheid in einem Empfangszentrum für
Asylsuchende aufgenommen werden. Viele Asylsuchende finden dort jedoch keinen
Aufnahmeplatz. In Rom warteten im November 2009 2.300 Personen auf einen Platz im
Schutzsystem für Asylsuchende und Flüchtlinge; es gab dort damals jedoch nur 200
Plätze. Eine Sprecherin von caritas Rom riet damals dringend davon ab, Asylsuchende
nach Rom zurückzuschaffen. Weiter heißt es in dem genannten Bericht der
Schweizerischen Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht, Dublin-
Rückkehrer/innen würden in Bezug auf Aufnahmeplätze bevorzugt behandelt. Wenn
jedoch kein Platz da sei, würden sie auf eine Warteliste gesetzt. Die meisten nach
Italien zurückgeführten Asylsuchenden und anerkannten Flüchtlinge seien deshalb
obdachlos. Ob über ihr Asylgesuch entschieden worden sei, wüssten in der Regel nur
diejenigen, die in Italien eine feste Postadresse oder eine Rechtsvertretung hätten.
Wenn sie in Italien ein Asylgesuch gestellt hätten und während der Wartezeit auf die
Asylbefragung ausgereist seien, werde in ihrer Abwesenheit entschieden. Gesuche von
Asylbewerbern, die nicht zur Asylbefragung erschienen, würden in der Regel abgelehnt
("abgeschrieben").
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Vor dem Hintergrund dieser Schilderung hält das Gericht es für möglich, dass es zutrifft,
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was der Antragsteller mit Schriftsatz vom 01.12.2010 und der eidesstattlichen
Versicherung vom 22.11.2010 vorträgt. Danach ist er in Rom nicht darüber informiert
worden, dass durch die Abgabe der Fingerabdrücke ein Asylverfahren eingeleitet
wurde. Nach seinen Angaben wurde er weder über den Verfahrensablauf informiert
noch zu seinen Asylgründen befragt; vielmehr wurde er aufgefordert, Italien
unverzüglich zu verlassen. Die Glaubwürdigkeit des Berichtes der Schweizerischen
Flüchtlingshilfe und der genannten Angaben des Antragstellers wird durch das
Vorbringen der Antragsgegnerin in diesem Verfahren nicht in Frage gestellt. In der
Antragserwiderung im Schriftsatz vom 18.11.2010 werden lediglich die normative
Regelung des Flüchtlingsrechts in Italien und die Zielsetzung der dort tätigen
humanitären Organisationen beschrieben. Auf die Frage, wie die Lage tatsächlich ist,
geht die Antragsgegnerin nicht ein.
Bei dieser Sachlage sind die Erfolgsaussichten des in Deutschland gestellten
Asylantrages weder offensichtlich zu verneinen noch zu bejahen. Es ist eine Prüfung
tatsächlich und rechtlich komplexer Fragen erforderlich, die im Verfahren vorläufigen
Rechtsschutzes nicht möglich ist.
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Die danach erforderliche Interessenabwägung geht zu Gunsten des Antragstellers aus.
Bliebe ihm der begehrte Erlass der einstweiligen Anordnung versagt, obsiegte er aber in
der Hauptsache, könnten Rechtsbeeinträchtigungen nicht mehr verhindert oder
rückgängig gemacht werden. Bereits die Erreichbarkeit des Antragstellers in Italien für
die Durchführung des Hauptsacheverfahrens wäre nicht sichergestellt, wenn ihm dort -
wie dargelegt - mit erheblicher Wahrscheinlichkeit die Obdachlosigkeit droht. Auch eine
Abschiebung des Antragstellers aus Italien nach Griechenland erscheint nicht
ausgeschlossen. Die Nachteile, die entstünden, wenn die einstweilige Anordnung
erginge, dem Antragsteller der Erfolg in der Hauptsache aber versagt bliebe, wiegen
dagegen weniger schwer. Insbesondere widerspricht die Gewährung von einstweiligem
Rechtsschutz in Überstellungsverfahren nicht gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen
der Bundesrepublik Deutschland. Es besteht auch keine Pflicht zur Anrufung des
Europäischen Gerichtshofes.
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Vgl. VG Minden, Beschluss vom 28.09.2010 - 3 L 491/10.A -, ständige Rechtsprechung
der Kammer.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83 b AsylVfG.
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Der Beschluss ist gemäß § 80 AsylVfG unanfechtbar.
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