Urteil des VG Minden vom 29.01.2004

VG Minden: abschiebung, verschlechterung des gesundheitszustandes, trennung, ausreise, aufenthalt, ausländer, erlass, versorgung, zeugnis, alter

Verwaltungsgericht Minden, 7 L 61/04
Datum:
29.01.2004
Gericht:
Verwaltungsgericht Minden
Spruchkörper:
7. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
7 L 61/04
Tenor:
1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens.
3. Der Streitwert wird auf 2.000 EUR festgesetzt.
G r ü n d e :
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Der Antrag,
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dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, keine von den
übrigen Familienangehörigen (Ehemann sowie minderjährige Kinder) getrennte
Abschiebung der Antragsteller durchzuführen,
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hilfsweise,
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dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu untersagen, für die Dauer
des bei dem Verwaltungsgericht Minden anhängigen Verfahrens 4 K 3974/02.A
aufenthaltsbeendende Maßnahmen durchzuführen,
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hat keinen Erfolg.
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Es fehlt jedenfalls an der Darlegung bzw. Glaubhaftmachung (vgl. § 123 Abs. 3 VwGO,
§§ 920 Abs. 2, 294 ZPO) des für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung
erforderlichen Anordnungsanspruchs. Es ist nicht erkennbar, dass der Aufenthalt der
Antragsteller im Bundesgebiet weiterhin zu dulden ist bzw. ihrer Abschiebung vom
Antragsgegner zu berücksichtigende Abschiebungshindernisse entgegenstehen.
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Insbesondere ist eine Reiseunfähigkeit der Antragstellerin zu 1. nicht dargetan bzw.
glaubhaft gemacht. Dabei ist von Folgendem auszugehen: Ein Duldungsanspruch auf
Grund von Reiseunfähigkeit setzt voraus, dass unmittelbar durch die Abschiebung bzw.
als Folge der Abschiebung der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich
verschlechtert wird.
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 21.09.1999 - 9 C 8.99 -, NVwZ 2000, 206.
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Dabei bestimmen sich die Anforderungen an die staatliche Schutzpflicht nach den
Besonderheiten des Einzelfalles. Der Ausländerbehörde obliegt es, ggf. durch eine
entsprechende Gestaltung der Abschiebung die notwendigen Vorkehrungen - etwa
durch ärztliche Hilfen bis hin zu einer Flugbegleitung - zu treffen, damit eine
Abschiebung verantwortet werden kann.
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Vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 16.04.2002 - 2 BvR 553/02 -, InfAuslR 2002, 415.
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Dies kann beispielsweise auch erfordern, dass die Schutzpflicht nicht bereits mit der
Ankunft des Ausländers im Zielstaat endet, sondern zeitlich bis zum Übergang in eine
Versorgung und Betreuung im Zielstaat fortdauert.
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Vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 07.05.2001 - 11 S 389/01 -, InfAuslR
2001, 384.
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Allerdings führt nicht jede mit der Erkenntnis der Aussichtslosigkeit eines Bleiberechts
für Deutschland und einer bevorstehenden Rückkehr ins Heimatland einhergehende,
mithin also letztlich abschiebungsbedingte Gefährdung bzw. Verschlechterung des
Gesundheitszustandes zu einem Duldungsgrund wegen Reiseunfähigkeit. Indem das
Ausländergesetz die Abschiebung vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer unter
bestimmten Voraussetzungen vorsieht, nimmt es in diesem Zusammenhang vielfach zu
erwartende Auswirkungen auf den gesundheitlichen, insbesondere psychischen
Zustand der Betroffenen in Kauf und lässt diese erst dann als Duldungsgründe gelten,
wenn eine akute Reiseunfähigkeit gegeben ist.
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Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 01.07.2002 - 18 B 1516/01 -, vom 09.01.2003 - 18 B
2409/02 - und vom 28.03.2003 - 18 B 35/03 -; VG Minden, Beschluss vom 28.05.2003 -
7 L 453/03 -.
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Davon ausgehend hat die Antragstellerin zu 1., die insoweit darlegungs- und
beweispflichtig ist, einen Duldungsanspruch nicht dargetan.
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Tragfähige Anhaltspunkte für eine akute Reiseunfähigkeit der Antragstellerin zu 1. sind
aus den Angaben in der Antragsschrift und insbesondere dem ausführlichen Gutachten
von Dr. med. T. vom 18.12.2003 (Bl. 10 ff der Akten) nicht zu entnehmen. Zwar führt
dieses Gutachten in der Zusammenfassung unter anderem aus, dass bei der
Antragstellerin zu 1. eine schwere posttraumatische Belastungsstörung festgestellt
worden sei und außerdem ein Hochdruckleiden, eine Hyperlipidämie mit Adipositas
sowie der Zustand nach einem Schlaganfall vor zwei Jahren bestünden. Dass dies
jedoch zu einer akuten Reiseunfähigkeit der Antragstellerin zu 1. führt, ist dem
Gutachten gerade nicht zu entnehmen; insbesondere auch nicht aus dem Hinweis, dass
aus psychiatrischer Sicht für die Antragstellerin zu 1. wirklich Ruhe geschaffen werden
müsse. Entsprechendes ergibt sich auch nicht aus der Art der Erkrankungen als solcher.
Soweit Dr. T. in seiner weiteren Stellungnahme vom 21.01.2004 ausführt, aus den in
seinem Gutachten vom 18.12.2003 genannten Gründen folge, dass die Reisefähigkeit
aus psychiatrischer Sicht zu verneinen sei, kann auch dies den Anordnungsanspruch
nicht glaubhaft machen. Es wird vielmehr erneut nur ausgeführt, welche Folgen im Falle
der Abschiebung befürchtet werden, nicht jedoch dargelegt, dass und vor allem warum
die Antragstellerin zu 1. aktuell nicht reisefähig sein sollte. Im Übrigen stützt Dr. T. seine
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Aussagen zu einer etwaigen Gesundheitsverschlechterung ganz überwiegend auf den
Umstand der Auflösung des Familienverbundes. Zu einer solchen muss es jedoch nicht
kommen. Es ist allein Sache des vollziehbar ausreisepflichtigen Ehemannes, seine
Ehefrau zu begleiten.
Soweit Dr. T. außerdem ausführt, im Heimatstaat der Antragstellerin sei eine adäquate
Behandlung nicht zu erwarten, stehen dieser Annahme die rechtskräftigen
Feststellungen des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge
entgegen, an die der Antragsgegner - wie ihm nachfolgend auch das
Verwaltungsgericht - gebunden ist. Für eine Reisefähigkeit spricht darüber hinaus auch
das amtsärztliche Zeugnis des Dr. med. N. vom 09.01.2004, in dem ausdrücklich in
Kenntnis der vorgenannten Erkrankungen festgestellt wird, dass die Antragstellerin zu 1.
flugreise- und haftfähig sei. Wenn in diesem Gutachten des Weiteren ausgeführt wird,
dass im Zusammenhang mit Maßnahmen zur Abschiebung darauf zu achten sei, dass
eine engmaschige Blutdruckkontrolle erfolgen müsse, um eventuelle Entgleisungen
frühzeitig zu erkennen und erforderlichenfalls zu behandeln, hat der Antragsgegner in
seinem Schriftsatz vom 26.01.2004 erklärt, dass er dafür Sorge tragen werde, dass die
Abschiebung von einem Arzt begleitet und die gegebenenfalls erforderlichen
Medikamente während der Abschiebung bereitgehalten würden. Dass der
Antragsgegner diese Zusage bei einer Abschiebung nicht beachten könnte, ist unter
keinem Gesichtspunkt zu erkennen. Außerdem hat der Antragsgegner unter dem
28.01.2004 ergänzend mitgeteilt, dass der Antragstellerin zu 1. die für einen Zeitraum
von sechs Monaten erforderlichen Medikamente mitgegeben würden.
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Soweit die Antragstellerin zu 1. und ihr Sohn, der Antragsteller zu 2., weiter geltend
machen, ihre von den anderen Familienangehörigen getrennte Abschiebung verstoße
gegen Art. 6 GG, kann auch dies einen Anordnungsanspruch nicht begründen.
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Art. 6 GG, dessen Schutzbereich sich nicht auf Deutsche beschränkt, gewährt
unmittelbar keinen Anspruch auf Aufenthalt im Bundesgebiet. Er verpflichtet aber als
wertentscheidende Grundsatznorm die zuständigen Behörden und Gerichte, bei der
Entscheidung über den weiteren Aufenthalt eines Ausländers die bestehenden
familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen in einer Weise zu
berücksichtigen, die der Bedeutung entspricht, welche das Grundgesetz in Art. 6 dem
Schutz von Ehe und Familie beimisst. Der Schutzumfang ist abhängig von den
Umständen des Einzelfalles, insbesondere von der Intensität der familiären
Beziehungen, dem Alter etwaiger Kinder, der Betreuungsbedürftigkeit einzelner
Familienmitglieder und der voraussichtlichen Dauer der bevorstehenden Trennung.
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Vgl. BVerfG, Beschluss vom 31.08.1999 - 2 BvR 1523/99 -, NVwZ 2000, 59 = InfAuslR
2000, 67 = AuAS 2000, 34 = EZAR 622 Nr. 37; BVerwG, Urteil vom 21.09.1999 - 9 C
12.99 -, BVerwGE 109, 305 = InfAuslR 2000, 93 = DVBl. 2000, 419 = EZAR 043 Nr. 41 =
Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 23; OVG NRW, Beschluss vom 17.07.2002 - 18 B
1326/02 -.
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Erfasst wird von dem Schutzbereich des Art. 6 GG auch ein im Bundesgebiet lebendes
Familienmitglied, das über kein Aufenthaltsrecht verfügt, sondern nur vorübergehend
geduldet wird, und von dem der Ausländer durch eine Beendigung seines Aufenthaltes
getrennt wird. In diesen Fällen hat die verfassungsrechtliche Pflicht, Ehe und Familie zu
schützen und zu fördern, allerdings ein geringeres Gewicht als in den Fällen, in denen
sich ein Familienmitglied auf Grund einer ihm erteilten Aufenthaltsgenehmigung
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berechtigt im Bundesgebiet aufhält.
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 19.11.1999 - 19 B 1599/98 -; OVG Mecklenburg-
Vorpommern, Beschluss vom 19.01.1998 - 3 M 111/97 -, InfAuslR 1998, 343 = NVwZ
1998, Beil. Nr. 8, 82.
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Denn die Bundesrepublik Deutschland ist nicht ohne weiteres verpflichtet,
ausländischen Ehegatten und Familienangehörigen, von denen keiner ein Bleiberecht
für Deutschland hat und die sämtlichst ausreisepflichtig sind, die Führung der Ehe bzw.
familiären Lebensgemeinschaft in Deutschland zu ermöglichen.
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Vgl. BVerwG, Beschluss vom 08.02.1999 - 1 B 2.99 -, InfAuslR 1999, 330 = Buchholz
402.240 § 50 AuslG Nr. 5.
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Hiervon ausgehend steht den Antragstellern ein sich aus Art. 6 ergebendes Bleiberecht
nicht zu, da auch der Ehemann, bzw. der Vater des Antragstellers zu 2. sowie die
weiteren Kinder bzw. Geschwister nach den unbestrittenen Angaben des
Antragsgegners ebenfalls vollziehbar zur Ausreise verpflichtet sind. Dies bedeutet, dass
die Trennung von Ehemann bzw. Vater und Kind bzw. Geschwistern mit weit
überwiegender Wahrscheinlichkeit nur vorübergehend sein wird, nämlich bis zu dem
Zeitpunkt, in dem auch für diese Angehörigen der Antragsteller die erforderlichen
Heimreisedokumente ausgestellt sind, was derzeit offensichtlich nur wegen der
fehlenden Mitwirkung der Angehörigen der Antragsteller noch nicht erfolgt ist. Art. 6 GG
steht einer getrennten Abschiebung jedenfalls dann nicht entgegen, wenn die
gemeinsame Ausreise der sämtlich vollziehbar ausreisepflichtigen
Familienangehörigen - wie hier - allein an der fehlenden Mitwirkung Einzelner scheitert.
Diese Wertungen gelten auch bei Berücksichtigung des Umstandes, dass das jüngste
Kind der Antragstellerin zu 1. erst am 17.07.2003 geboren worden ist. So liegen zum
einen medizinische Gründe, die gegen eine vorübergehende Trennung der
Antragstellerin zu 1. von ihrem Kind sprechen könnten, nach dem amtsärztlichen
Zeugnis vom 19.09.2003 nicht vor; dass sich daran in der Folgezeit etwas geändert
haben könnte, ist nicht zu erkennen. Zum anderen gilt auch hier, dass der durch Art. 6
GG vermittelte Schutz ein nur geringes Gewicht hat, da die Möglichkeit einer zeitnahen
Wiederherstellung der Familiengemeinschaft leicht möglich ist. Zudem kann auch die
Antragstellerin zu 1. als Mutter für ihr gerade geborenes Kind die für die
Passbeschaffung erforderliche Erklärung der freiwilligen Ausreise abgeben. Schließlich
weist Dr. T. in seinem Attest vom 21.01.2004 darauf hin, dass ohnehin die Männer der
Familie die Versorgung des Säuglings übernommen hätten.
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Dass die Antragsteller aus sonstigen Gründen einen Rechtsanspruch auf Erlass der
begehrten einstweiligen Anordnung haben könnten, ist nicht vorgetragen, geschweige
denn glaubhaft gemacht.
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Der Hilfsantrag ist ungeachtet der Frage seiner Zulässigkeit jedenfalls unbegründet.
Allein aus der Stellung eines Asylfolgeantrags folgt hier kein im Wege der einstweiligen
Anordnung zu sicherndes Bleiberecht.
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Der Antrag ist somit mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die
Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 13 Abs. 1, 20 Abs. 32 GKG.
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