Urteil des VG Minden vom 30.06.2008

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Verwaltungsgericht Minden, 11 K 578/08
Datum:
30.06.2008
Gericht:
Verwaltungsgericht Minden
Spruchkörper:
11. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
11 K 578/08
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger
kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des
beizutreibenden Betrages abwenden, wenn der Beklagte nicht vor der
Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand:
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Am 31.1.2008 ordnete der Beklagte die erkennungsdienstliche Behandlung des am
26.6.1994 geborenen Klägers nach § 14 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW an. Er stehe im
dringenden Verdacht, einen Pkw entwendet, in eine Räumlichkeit der
Jugendeinrichtung "H. " eingebrochen und auf dem dortigen Parkplatz drei Fahrzeuge
beschädigt zu haben. Vor diesem Hintergrund bestehe die hinreichende
Wahrscheinlichkeit, dass erkennungsdienstliche Unterlagen zur Erforschung und
Aufklärung künftiger Straftaten erforderlich seien.
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Mit seiner am 18.2.2008 erhobenen Klage wendet der Kläger gegen den Bescheid vom
31.1.2008 im Wesentlichen ein, er sei noch nicht strafmündig, dementsprechend lägen
bisher keine strafbaren Handlungen vor. Insbesondere sei er noch nie verurteilt worden.
Schon allein die fehlende Strafmündigkeit führe zur Unzulässigkeit einer
erkennungsdienstlichen Behandlung. Im Übrigen seien die Vorbelastungen des Klägers
kein hinreichender Anlass für einen so schwerwiegenden Eingriff in seine Privatsphäre.
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Der Kläger beantragt,
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den Bescheid des Beklagten vom 31.1.2008 aufzuheben.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung verweist er auf den angefochtenen Bescheid. Der Kläger sei im
Zeitraum 2006 bis 2008 insgesamt ca. 15 Mal auffällig geworden, u.a. wegen (Laden-)
Diebstahls, vorsätzlicher Körperverletzung, gefährlicher Körperverletzung,
Sachbeschädigung, Einbruchsdiebstahls und Verstoßes gegen das BtmG. Nach Erlass
der umstrittenen Verfügung sei er allein im März 2008 in 5 Fällen polizeilich aufgefallen,
zweimal wegen Diebstahls, einmal wegen Einbruchsdiebstahls, einmal wegen
vorsätzlicher Körperverletzung und in einem Fall wegen Verstoßes gegen das BtmG.
Vor diesem Hintergrund stehe auch die zum Zeitpunkt der Anordnung fehlende
Strafmündigkeit des Klägers seiner erkennungsdienstlichen Behandlung nicht
entgegen. Bei ihm handele es sich vielmehr offenkundig um einen "Serientäter", die
Vielzahl der Ermittlungsverfahren seien nicht mit kindlicher Naivität zu erklären.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten (1 Hefter)
Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Klage ist zulässig, sachlich aber nicht begründet. Der angefochtene Bescheid des
Beklagten vom 31.1.2008 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger daher nicht in seinen
Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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Rechtsgrundlage der angefochtenen Anordnung der erkennungsdienstlichen
Behandlung des Klägers ist zum hier maßgeblichen Zeitpunkt der letzten
Behördenentscheidung § 14 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW. Danach dürfen Lichtbilder und
Fingerabdrücke eines Betroffenen auch gegen seinen Willen aufgenommen und
Messungen und ähnliche Maßnahmen an ihm vorgenommen werden, soweit es zur
vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten erforderlich ist, weil die betroffene Person
verdächtigt ist, eine Tat begangen zu haben, die mit Strafe bedroht ist und wegen der Art
und Ausführung der Tat die Gefahr der Wiederholung besteht. Die Voraussetzungen
sind insoweit identisch mit den des § 81 b 2. Alt. StPO. § 14 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW ist
dabei nur dann anwendbar, wenn gegen den Betroffenen kein Ermittlungsverfahren
(mehr) anhängig ist. Dies war hier zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses der Fall. Die
gegen den Kläger eingeleiteten Ermittlungsverfahren waren am 31.1.2008 bereits
wegen fehlender Strafmündigkeit des Klägers eingestellt. Damit war er zu diesem
Zeitpunkt nicht mehr "Beschuldigter" im Sinne von § 81 b 2. Alt. StPO, so dass § 14 Abs.
1 Nr. 2 PolG NRW hier nicht von der strafprozessualen Vorschrift verdrängt wird.
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Vgl. zum Verhältnis beider Normen nur BVerwG, Urteil vom 23.11.2005 - 6 C 2/05 -;
OVG NRW, Beschluss vom 13.1.1999 - 5 B 2562/98 -, DVBl. 1999, 1228; VG Minden,
Urteil vom 13.10.2004 - 11 K 5809/03 -.
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Die erkennungsdienstliche Behandlung des Klägers ist für die Zwecke des
Erkennungsdienstes auch notwendig. Sie soll präventiv Hilfsmittel für die Erforschung
und Aufklärung von - zukünftigen - Straftaten bereitstellen. Das ist dann erforderlich,
wenn die zu seiner Person vorliegenden polizeilichen Erkenntnisse nach
kriminalistischer Erfahrung unter Berücksichtung aller Umstände des Einzelfalles -
insbesondere Art, Schwere und Begehungsweise der Straftaten, der Persönlichkeit des
Klägers sowie des Zeitraums, in dem er strafrechtlich nicht oder nicht mehr in
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Erscheinung getreten ist - die Annahme rechtfertigen, er könne in Zukunft mit guten
Gründen als Verdächtiger oder potenzieller Beteiligter an einer Straftat in Betracht
kommen und die erkennungsdienstlichen Unterlagen könnten diese Ermittlungen
fördern, den Betroffenen also überführen oder entlasten.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 19.10.1982 - 1 C 29/79 -, BVerwGE 66, 192; Urteil vom
19.10.1982 - 1 C 114/79 -, BVerwGE 66, 202; OVG NRW, Beschluss vom 13.01.1999 - 5
B 2562/98 -, NWVBl. 1999, 257; VGH Mannheim, Urteil vom 18.12.2003 - 1 S 2211/02 -,
NVwZ-RR 2004, 572 ff.
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Die Notwendigkeit der erkennungsdienstlichen Behandlung ergibt sich demzufolge
anhand einer Abwägung zwischen dem Interesse der Öffentlichkeit an einer effektiven
Verhinderung und Aufklärung von Straftaten und dem Interesse der Betroffenen,
entsprechend dem Menschenbild des Grundgesetzes nicht bereits deshalb als
potenzieller Rechtsbrecher behandelt zu werden, weil er sich irgendwie verdächtigt
gemacht hat oder angezeigt worden ist.
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Vgl. OVG NRW, Urteile vom 25.06.1991 - 5 A 1257/90 - und vom 29.11.1994 - 5 A
2234/93 -; Beschlüsse vom 14.07.1994 - 5 B 2686/93 -, 16.10.1996 - 5 B 2205/96 - und
vom 13.01.1999 - 5 B 2562/98 - , NWVBl. 1999, 257 = NJW 1999, 2689 = DVBl. 1999,
1228.
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Im Rahmen der Abwägung ist insbesondere danach zu differenzieren, in welchem
Umfang auch nach Abschluss des Verfahrens noch Verdachtsmomente gegen den
Betroffenen bestehen. Falls die für das Ermittlungsverfahren bestimmenden
Verdachtsmomente ausgeräumt sind, ist eine Abnahme und/oder weitere Aufbewahrung
erkennungsdienstlicher Unterlagen nicht notwendig im Sinne des § 14 Abs. 1 Nr. 2 PolG
NRW. Andernfalls kommt es entscheidend darauf an, welcher Art das Delikt ist, auf das
sich die verbliebenen Verdachtsmomente beziehen. Je schwerer das Delikt wiegt, je
höher der Schaden für die geschützten Rechtsgüter und die Allgemeinheit zu
veranschlagen ist und je größer die Schwierigkeiten einer Aufklärung sind, desto mehr
Gewicht erlangt das oben beschriebene öffentliche Interesse. Anders als im Fall des §
81 g StPO ist es für die Anordnung nach § 14 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW jedoch nicht
erforderlich, dass der zurückliegende oder zukünftig zu erwartende Verdacht Straftaten
von "erheblicher" Bedeutung betrifft.
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Im Übrigen stellt die Verwertung verbliebener Verdachtsmomente in Verfahren, die nicht
oder noch nicht zu einer Strafverurteilung des Betroffenen geführt haben, keinen
Verstoß gegen die im Rechtsstaatsprinzip begründete und auch in Art. 6 Abs. 2 EMRK
zum Ausdruck kommende Unschuldsvermutung dar. Denn weder die Aufnahme der
erkennungsdienstlichen Unterlagen noch ihre Aufbewahrung enthalten eine Aussage
über Schuld oder Unschuld des Betroffenen.
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Vgl. BVerfG, Beschluss vom 16.5.2002 - 1 BvR 2257/01 -, DVBl. 2002, 1110 f.; BVerwG,
Urteil vom 25.10.1960 - 1 C 63.59 -, BVerwGE 11, 181 (183); OVG NRW, Urteil vom
29.11.1994 - 5 A 2234/93 -; Beschluss vom 05.02.1996 - 5 A 1406/93 -.
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Dementsprechend führt eine Einstellung des Verfahrens oder auch ein Freispruch im
anschließenden Strafverfahren nicht ohne weiteres dazu, die Datenerhebung oder -
speicherung zum Zwecke präventiver Verbrechensbekämpfung auszuschließen. Selbst
bei einem Freispruch sind die Ermittlungsbehörden vielmehr befugt, weiterhin davon
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auszugehen, der ursprüngliche, für die Anordnung auch ausreichende Tatverdacht
bestehe fort und sei weiterhin ihre tragfähige Grundlage. Verhältnismäßigkeit und
Rechtsstaatsprinzip verlangen den Ermittlungsbehörde in diesen Fällen jedoch
einschränkend ab, die Erforderlichkeit der Datenerhebung und - speicherung unter
Berücksichtigung des freisprechenden Urteils darzulegen und nachvollziehbar zu
begründen.
Vgl. BVerfG, Beschluss vom 16.5.2002 - 1 BvR 2257/01 -, DVBl. 2002, 1110 f.
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Ist damit aber die Anordnung einer erkennungsdienstlichen Behandlung selbst nach
einem freisprechenden Urteil grundsätzlich zulässig, so gilt dies erst recht dann, wenn
ein Verfahren nach §§ 153 ff. StPO eingestellt wurde. Denn hierfür ist es gerade
Voraussetzung, dass ein Straftatverdacht nicht auszuschließen ist. Anderenfalls müsste
die Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO erfolgen.
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Nach diesen Grundsätzen besteht im Fall des Klägers ein öffentliches Interesse an
seiner erkennungsdienstlichen Behandlung, das der Beklagte in ausreichendem
Umfang und nachvollziehbar begründet hat. Die von ihm getroffene
Ermessenentscheidung ist durch das Gericht im Rahmen seiner Prüfungskompetenz (§
114 VwGO) nicht zu beanstanden.
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Der Kläger ist in den letzten zwei Jahren bereits wegen einer Vielzahl strafbarer
Handlungen polizeilich in Erscheinung getreten, die allein deshalb strafrechtlich nicht
verfolgt werden konnten, weil der Kläger zum jeweiligen Tatzeitpunkt (noch) nicht
strafmündig war. In der Sache hat er die gegen ihn erhobenen Vorwürfe dagegen
niemals in Abrede gestellt. Nach dem der Kammer mitgeteilten, unwidersprochen
gebliebenen Sachverhalt war jedoch an der Täterschaft des Klägers nicht zu zweifeln.
Die ihm vorgeworfenen Straftaten weisen dabei eine große Variationsbreite auf; der
Schwerpunkt liegt jedoch in Körperverletzungs-, Diebstahls-, Sachbeschädigungs- und
Btm-Delikten. Angesichts der Vielzahl der dem Kläger in relativ kurzer Zeit zur Last
gelegten Straftaten und ihrer großen Variationsbreite ist nicht zu erwarten, dass er sich
in Zukunft in einer Weise rechtstreu verhalten wird, die die Einleitung von
Ermittlungsverfahren ihm gegenüber ausschlösse. Dies ist allenfalls eine vage
Hoffnung, jedoch keineswegs eine tragfähige Grundlage für die von dem Beklagten
vorzunehmende Prognoseentscheidung. Es spricht nichts dafür, dass der Kläger sein
strafrechtlich relevantes Verhalten nunmehr allein deshalb einstellen wird, weil er
strafmündig geworden ist.
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Im Gegenteil hat sich die vom Beklagten getroffene Prognoseentscheidung nach Erlass
des Bescheides geradezu eindrucksvoll bestätigt. Allein im März 2008 ist der Kläger in
weiteren fünf Fällen aufgefallen. Dass sich aber eine auf eine Wiederholungsprognose
gestützte Anordnung nach § 14 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW als rechtswidrig erweisen
könnte, obwohl sich die Prognose in der Folgezeit bereits bestätigt hat, ist
ausgeschlossen.
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Vor diesem Hintergrund stehen der Rechtmäßigkeit der Anordnung der
erkennungsdienstlichen Behandlung auch nicht das jugendliche Alter des Klägers und
die möglichen negativen Wirkungen für seine künftige Entwicklung entgegen.
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Dazu OVG NRW, Beschluss vom 13.1.1999 - 5 B 2562/98 -; NwVBl. 1999, 257 ff.
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Dem steht letztlich bereits entgegen, dass der Kläger zwischenzeitlich das 14.
Lebensjahr vollendet hat und damit strafmündig geworden ist. In Zukunft besteht also
kein Strafverfolgungshindernis mehr, so dass Ermittlungsverfahren gegen ihn fortgeführt
werden könnten. Bei der Frage, ob es zu solchen Ermittlungsverfahren kommen kann,
sind jedoch auch in der Vergangenheit liegende Erkenntnisse ohne Weiteres
einzubeziehen.
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Vgl. dazu VG Minden, Beschluss vom 29.5.2008 - 11 K 1153/08 -; Urteil vom 20.9.2006 -
11 K 825/06 -.
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Unabhängig davon hat der Beklagte zu Recht darauf abgestellt, dass die dem Kläger
vorgeworfenen Taten nach Art und Umfang bei weitem "jugendtypisches Fehlverhalten"
überschreiten. Angesichts der beharrlichen Verstöße des Klägers gegen strafrechtliche
Vorschriften überwiegt das öffentliche Interesse an präventiven Maßnahmen zum
Schutz vor zukünftigen Taten das private Interesse des Klägers, nicht bereits als
Strafunmündiger als potenzieller Rechtsbrecher behandelt zu werden.
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Vgl. zu vorstehenden Abwägungskriterien OVG NRW, Beschluss vom 13.1.1999 - 5 B
2562/98 -.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung zur vorläufigen
Vollstreckbarkeit aus § 167 Abs. 2, Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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