Urteil des VG Minden vom 13.03.2007

VG Minden: grobe fahrlässigkeit, verwaltungsakt, vertrauensschutz, vermögensanlage, eltern, form, sorgfalt, rechtswidrigkeit, vollstreckbarkeit, zukunft

Verwaltungsgericht Minden, 6 K 3582/06
Datum:
13.03.2007
Gericht:
Verwaltungsgericht Minden
Spruchkörper:
6. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
6 K 3582/06
Tenor:
Das Verfahren wird eingestellt, soweit der Kläger die Klage
zurückgenommen hat.
Im Übrigen wird der Bescheid des Beklagten vom 00.00.0000 i.d.F. des
Widerspruchsbescheides der C1. L. vom 00.00.0000 aufgehoben, soweit
die Rücknahme- und Rückforderungsentscheidung des Beklagten den
Betrag von 1.067,00 EUR übersteigt.
Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens tragen der Kläger zu ¼
und der Beklagte zu ¾.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand:
1
Der am 00.00.0000 geborene Kläger beantragte am 00.00.0000 beim Beklagten die
Gewährung von Ausbildungsförderung für den Besuch des S. -- X. -C6. in Q. .
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Mit Bescheid vom 00.00.0000 bewilligte der Beklagte dem Kläger die beantragte
Ausbildungsförderung für den Bewilligungszeitraum September 2004 bis Juli 2005 in
Höhe von 348,00 EUR monatlich. Bei der Berechnung der Höhe der gewährten
Ausbildungsförderung ging der Beklagte entsprechend den Angaben des Klägers im
Antragsformular davon aus, dass er zum Antragszeitpunkt über kein auf seinen
förderungsrechtlichen Bedarf anzurechnendes Vermögen verfügte.
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Nachdem der Beklagte gemäß Aktenvermerk vom 00.00.0000 durch einen
Datenabgleich mit dem Bundesamt für Finanzen gemäß § 45 b des
Einkommenssteuergesetzes (EstG) Hinweise auf das Vorhandensein auf den Bedarf
anzurechnender Vermögenswerte erhielt (der Kläger hatte für das Jahr 2004 bei der W.
C2. . -und der V. -J. -Q1. einen Freistellungsbetrag in Höhe insgesamt 145,00 EUR in
Anspruch genommen), forderte er den Kläger mit Schreiben vom 00.00.0000 auf,
Angaben zu dem zum Antragszeitpunkt vorhandenen Vermögen zu machen und
geeignete Belege vorzulegen.
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Im Mai 2006 teilte der Kläger dem Beklagten unter Angabe der jeweiligen
Guthabenbeträge mit, dass er zum Antragszeitpunkt bei der C3. T1. I. über einen am
00.00.0000 abgeschlossenen Bausparvertrag, bei der V. J. T2. C4. B. über ein
Wertpapier-Guthaben sowie bei der W. C2. /T3. über Geschäftsanteile, ein Girokonto,
zwei Sparbücher und einen Sparvertrag verfügt habe. Der Gesamtwert des
nachgewiesenen Vermögens belief sich auf mehr als 16.000,00 EUR.
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Mit Bescheid vom 00.00.0000, gestützt auf §§ 45, 50 SGB X, forderte der Beklagte den
Kläger unter Rücknahme des Bewilligungsbescheides vom 00.00.0000 auf, die
während der Förderungsdauer vom 01.09.2004 bis zum 31.07.2005 in Höhe von
3.828,00 EUR erhaltene Ausbildungsförderung zu erstatten. Der Bewilligungsbescheid
vom 29.09.2004 sei von Anfang an rechtswidrig gewesen, da dem Kläger auf Grund
seiner Vermögenssituation keine Ausbildungsförderung zugestanden habe. Da der
Kläger im Antragsformular zumindest grob fahrlässig falsche Angaben zu seinem
Vermögensstand gemacht habe, könne er sich auch nicht auf Vertrauensschutz berufen.
Das Vermögen aus dem Sparvertrag Nr. bei der W. C2. /T3. das aus einer Abfindung
einer Unfallversicherung stamme, bleibe gemäß § 29 Abs. 3 BAföG anrechnungsfrei.
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Gegen den Rücknahme- und Rückforderungsbescheid vom 28.07.2006 erhob der
Kläger am 11.08.2006 Widerspruch. Zur Begründung machte er im Wesentlichen
geltend, die Anlage auf dem Sparvertrag Nr. bei der W. C2. /T3. in Höhe von 5.282,94
EUR dürfe seinem Vermögen nicht zugerechnet werden, da dieses Geld nicht ihm,
sondern seinem Vater gehöre. Bereits im Jahre 1991 habe sein Vater dieses Konto
eröffnet, auf das er regelmäßig aus seinem Verdienst eingezahlt habe. Das Geld auf
diesem Sparvertrag sei bis zum 01.01.2006 festgelegt gewesen. Bis etwa zum
19.09.2005 habe er gar keine Kenntnis vom Vorhandensein dieses Geldes gehabt.
Seinerzeit habe ein Mitarbeiter der W. seinen Vater "bei Seite genommen" und ihn
darauf hingewiesen, dass dort noch ein Konto auf seinen - des Klägers - Namen laufe
und dieser das Geld jederzeit ohne Probleme an sich nehmen könne. Um dem
vorzubeugen habe sein Vater ihm dann die Existenz des Kontos mitgeteilt und ihn
gleichzeitig gebeten, die für die Umschreibung des Kontos auf seinen Vater notwendige
Unterschrift zu leisten, damit das Geld bei Ablauf des Vertrages direkt an seinen Vater
ausgezahlt werden konnte. Der Bitte seines Vaters habe er dann entsprochen. Er selbst
habe sich nicht weiter um diese Angelegenheit gekümmert, da es sich bei dem Betrag
aus dem Sparvertrag ja auch nicht um sein Geld gehandelt habe. Das
Kontoeröffnungsblatt vom 06.02.1991 zu dem fraglichen Sparvertrag sowie den
Kontoumschreibungsantrag vom 14.09.2005 reichte der Kläger in Fotokopie nach.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 09.11.2006 wies die C1. L. den Widerspruch des
Klägers als unbegründet zurück.
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Am 04.12.2006 hat der Kläger Klage erhoben und die Aufhebung des Bescheides vom
28.07.2006 beantragt,
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Zur Begründung der Klage wiederholt er im Wesentlichen sein Vorbringen aus dem
Vorverfahren, wonach ihm das auf dem fraglichen Sparvertrag angelegte Vermögen
nicht als sein Vermögen zuzurechnen sei. Somit verbleibe aus den übrigen
Geldanlagen ein zum Zeitpunkt der Antragstellung berücksichtigungsfähiges Vermögen
von (nur noch) 6.268,30 EUR.
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Der Kläger beantragt,
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den Bescheid des Beklagten vom 28.07.2006 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides der C1. L. vom 09.11.2006 insoweit aufzuheben, als die
Rückforderungssumme in dem angefochtenen Bescheid den Betrag von 1.067,00 EUR
übersteigt.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er hält die Darstellung des Klägers, von der Anlage auf dem fraglichen Sparvertrag bis
zum Antragszeitpunkt keine Kenntnis gehabt zu haben, für nicht glaubhaft.
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Mit Schriftsatz vom 26.02.2007 legte der Beklagte eine Kontrollberechnung vor, wonach
sich, ausgehend von einem berücksichtigungsfähigen Vermögen des Klägers zum
Antragszeitpunkt in Höhe von 6.238,30 EUR, ein Rückforderungsbetrag in Höhe von
1.067,00 EUR ergibt.
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Die Kammer hat in der mündlichen Verhandlung vom 13. März 2007 den Kläger als
Partei und den Vater des Klägers als Zeugen vernommen. Wegen des Ergebnisses wird
auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf
den Inhalt der Gerichtsakte sowie des beigezogenen Verwaltungsvorangs des
Beklagten.
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Die Kammer hat mit Beschluss vom 24.01.2007 den Rechtsstreit auf den Berichterstatter
als Einzelrichter übertragen (§ 6 Abs. 1 VwGO).
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Entscheidungsgründe:
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Der Kläger hat im Verlauf des Klageverfahrens den zunächst auf uneingeschränkte
Aufhebung des angefochtenen Bescheides des Beklagten vom 28.07.2006 gerichteten
Klageantrag dahingehend eingeschränkt, dass nur noch die Aufhebung des Bescheides
begehrt wird, soweit die Rückforderung des Beklagten den Betrag von 1.067,00 EUR
übersteigt. Diese Einschränkung des Klageantrages ist als (teilweise) Klagerücknahme
i.S.v § 92 Abs. 1 VwGO zu werten, sodass das Verfahren insoweit gemäß § 92 Abs. 3
VwGO einzustellen war.
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Im Übrigen ist die Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 VwGO) zulässig und begründet.
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Der Bescheid des Beklagten vom 28.07.2006 i.d.F. des Widerspruchsbescheides der
C1. L. vom 09.11.2006 ist rechtswidrig, soweit die Rücknahme- und
Rückforderungsentscheidung des Beklagten den Betrag von 1.067,00 EUR übersteigt
und verletzt insoweit den Kläger auch in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Rechtsgrundlage für den angefochtenen Bescheid sind die §§ 45, 50 SGB X.
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Nach § 45 Abs. 1 Satz 1 SGB X darf ein rechtswidriger, begünstigender Verwaltungsakt,
auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der
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Absätze 2 - 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit
zurückgenommen werden. Mit dem hier zurückgenommen Bewilligungsbescheid vom
29.09.2004 hatte der Beklagte dem Kläger für die Zeit von September 2004 bis Juli 2005
Ausbildungsförderung in Höhe von monatlich 348,00 EUR bewilligt und damit einen
begünstigenden Verwaltungsakt erlassen. Im Ergebnis mag dahinstehen, ob dieser
Bewilligungsbescheid wegen anzurechnenden Vermögens in Form des im
vorliegenden Verfahren fraglichen Sparplans bei der W1. C2. /T. -zu Unrecht ergangen
ist, denn gemäß § 45 Abs. 2 SGB X darf auch ein rechtswidriger begünstigender
Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den
Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem
öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der
Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine
Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren
Nachteilen rückgängig machen kann. Das ist hier der Fall.
Der Kläger hat die hier für den streitigen Bewilligungszeitraum September 2004 bis Juli
2005 gewährte Ausbildungsförderung verbraucht.
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Der Berufung des Klägers auf Vertrauensschutz steht die Regelung des § 45 Abs. 2
Satz 3 Nr. 2 SGB X nicht entgegen. Danach kann sich der Begünstigte auf Vertrauen
nicht berufen, soweit der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte
vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig
gemacht hat. Nach der Legaldefinition des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 Halbsatz 2 SGB X
liegt grobe Fahrlässigkeit dann vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in
besonders schwerem Maße verletzt hat. Grob fahrlässig handelt, wer im gegebenen Fall
unbeachtet lässt, was jedem hätte einleuchten müssen. Dabei sind die persönliche
Urteils- und Kritikfähigkeit sowie das Einsichtsvermögen des Begünstigten und
besondere Umstände des Einzelfalls zu würdigen.
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Bei Anwendung dieser Kriterien vermag die Kammer in der unterlassenen Mitteilung
des zum hier maßgeblichen Antragszeitpunkt (27.07.2004) bestehenden Guthabens auf
dem fraglichen Sparplan bei der W. C2. /T3. kein vorsätzliches oder grob fahrlässiges
Verhalten des Klägers zu erkennen. Insbesondere unter Berücksichtigung der
Aussagen des in der mündlichen Verhandlung als Partei vernommenen Klägers und
seines als Zeugen vernommenen Vaters lässt sich nicht mit der erforderlichen
Sicherheit feststellen, dass er zum Zeitpunkt der Antragstellung positiv Kenntnis von
dem auf seinen Namen angelegten Sparplan hatte oder hätte haben müssen.
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Nach den glaubhaften Angaben des Klägers und seines Vaters in der mündlichen
Verhandlung hat letzterer diesen Sparplan - wie auch entsprechende auf die Namen der
Geschwister des Klägers lautende Sparpläne - im Jahre 1991 eingerichtet und aus
seinem Einkommen bedient. Der Kläger und sein Vater haben in diesem
Zusammenhang unter Darlegung des familiären Hintergrundes nachvollziehbar
erläutert, dass finanzielle Angelegenheiten der Familie nicht mit den (minderjährigen)
Kindern erörtert und nicht im Zusammenwirken mit ihnen geregelt wurden, zumal es sich
- was den hier fraglichen und auf Anregung des Geldinstituts in dieser Form angelegten
Sparplan angeht - um eine Anlage des Vaters selbst handeln sollte, die gegebenenfalls
zu einem späteren Zeitpunkt seinem Sohn hätte zugute kommen sollen. Objektive
Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger von dieser Vermögensanlage bis zum
maßgeblichen Antragszeitpunkt positive Kenntnis erlangt hätte oder hätte erlangen
müssen, sind nicht vorhanden. Zwar hat der Kläger den Eröffnungsantrag zu diesem
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Sparplan im Jahre 1991 zusammen mit seinen Eltern als seine gesetzlichen Vertreter
unterschrieben. Allerdings hatte der Kläger zu diesem Zeitpunkt gerade erst das siebte
Lebensjahr vollendet, sodass ohne Weiteres unterstellt werden kann, dass ihm
seinerzeit die Bedeutung seiner Unterschriftsleistung nicht bewusst gewesen ist.
Entsprechendes gilt auch für seine ca. ein Jahr später geleistete Unterschrift unter den
Freistellungsauftrag vom 30.09.1992. Auch aus der Unterschrift des Klägers unter den
Freistellungsauftrag vom 29.08.2000 (der Kläger war damals 16 Jahre alt) lässt sich
nicht herleiten, dass er von der hier in Rede stehenden Vermögensanlage Kenntnis
gehabt haben müsste. Zum einen bezieht sich der Freistellungsauftrag nicht auf eine
bestimmte Anlage, sondern auf die Freistellung aller aus allen Anlagen bei der W. C2.
/T3. erzielten Zinseinkünfte des Klägers, zum andern haben der Kläger und der Zeuge
in der mündlichen Verhandlung glaubhaft angegeben, der Freistellungsauftrag sei dem
Vater vom Geldinstitut mit der Bitte um Unterschrift vorgelegt worden und der Kläger
habe im Vertrauen darauf, dass alles seine Richtigkeit habe, ohne Veranlassung zu
einer weiteren Nachfrage zu sehen die Unterschrift geleistet. Dass sich der seinerzeit
noch minderjährige Kläger mit seinen Eltern über Sinn und Zweck der
Unterschriftsleistungen nicht ausgetauscht hat, kann ihm nach Auffassung der Kammer
nicht angelastet werden, mit der Folge, dass ihm grobe Fahrlässigkeit i.S.v. § 45 Abs. 2
Satz 3 Nr. 3 Halbsatz 2 SGB X nicht vorgeworfen werden kann.
Aus den genannten Gründen folgt zugleich, dass dem Kläger die Berufung auf
Vertrauensschutz auch nicht nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 verwehrt ist, weil er zum
Zeitpunkt der Bekanntgabe des Bewilligungsbescheides vom 29.09.2004 die
Rechtswidrigkeit der Förderungsbewilligung gekannt oder infolge grober Fahrlässigkeit
nicht gekannt hätte.
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Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 155 Abs. 2, 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich
aus § 167 VwGO.
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