Urteil des VG Minden vom 13.06.2007

VG Minden: russische föderation, bundesamt für migration, medikament, russland, krankheit, grundversorgung, eltern, ausreise, behandlung, leib

Verwaltungsgericht Minden, 4 K 1928/06.A
Datum:
13.06.2007
Gericht:
Verwaltungsgericht Minden
Spruchkörper:
4. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
4 K 1928/06.A
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Die Kosten des Verfahrens, für das
Gerichtkosten nicht erhoben werden, trägt der Kläger.
Tatbestand:
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Der am 1995 geborene Kläger ist russischer Staatsangehöriger tatarischer
Volkszugehörigkeit. Er reiste am 10.09.2002 mit seinen Eltern und einem Bruder auf
dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte zusammen mit
ihnen beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) die
Anerkennung als Asylberechtigter. Vor der Ausreise hatte die Familie in der Nähe der
Stadt V. am südlichen Ural gewohnt.
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Durch Bescheid vom 26.09.2002 lehnte das Bundesamt den Asylantrag ab. Der Kläger
und seine Eltern erhoben daraufhin am 14.11.2002 vor dem Verwaltungsgericht Minden
im Verfahren 4 K 3665/02.A Klage und trugen zur Begründung u.a. vor, der Kläger und
sein Bruder litten seit Geburt an der Krankheit Hydrocephalus, bei dem Kläger komme
es auch zu cerebralen Krampfanfällen.
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Durch Urteil vom 08.06.2005 wies das Verwaltungsgericht Minden diese Klage ab und
führte zur Begründung u.a. aus, die Erkrankungen des Klägers stellten insbesondere
kein Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes
(AufenthG) dar. Die Krampfanfälle des Klägers würden in Deutschland erfolgreich mit
dem Medikament Luminal behandelt. Ein ähnliches Medikament gebe es auch in der
Russischen Föderation, das eine ausreichende medikamentöse Versorgung des
Klägers in einem Zeitraum von 50 Tagen für etwa 20,00 EUR zulasse. Eine erhebliche
konkrete Gefahr für Leib und Leben des Klägers im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1
AufenthG bei einer Rückkehr nach Russland könne deshalb nicht angenommen
werden, zumal die Familie des Klägers aus dem Ural stamme und bei einer Rückkehr
keine Probleme haben werde, sich registrieren zu lassen und damit wie vor der
Ausreise einen Anspruch auf eine kostenfreie medizinische Grundversorgung zu
erwerben.
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Am 08.05.2006 stellte der Kläger beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einen
erneuten Antrag auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG
und trug unter Vorlage verschiedener ärztlicher Atteste vor, er leide unverändert an
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epileptischen Krampfanfällen. Eine adäquate Behandlungsmöglichkeit gebe es für ihn
in der Russischen Föderation nicht. Er habe daher einen Anspruch auf
Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, denn in der Russischen
Föderation müsse er mit einer dramatischen Verschlimmerung seines Leidens und mit
akuter Lebensgefahr rechnen.
Durch Bescheid vom 15.05.2006 lehnte das Bundesamt eine Abänderung des
Bescheides vom 26.09.2002 bezüglich der Feststellungen gemäß § 53 Abs. 1 bis 6
AuslG ab.
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Der Kläger hat daraufhin am 24.05.2006 die vorliegende Klage erhoben. Er legt weitere
ärztliche Atteste des Klinikums N. vom 13.07. und 26.07.2006 und des
Universitätsklinikums N1. vom 07.12.2006 vor. Nach dem Attest des
Universitätsklinikums N1. erhält er zur Behandlung eines fokalen Anfallsleidens seit
September 2006 eine Timox-Monotherapie mit dem Medikament Oxcarbazepin in der
Dosierung 450-0-600 mg pro Tag, die gut vertragen wird.
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Der Kläger beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 15.05.2006 zu verpflichten, ein
weiteres Verfahren durchzuführen und festzustellen, dass die Voraussetzungen des §
60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Die Kammer hat zur Verfügbarkeit und zu den Kosten des Medikaments Oxcarbazepin
in der Russischen Föderation eine Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 28.03.2007
eingeholt. Das Sozialamt der Stadt F. hat sich bereiterklärt, dem Kläger bei Rückkehr in
die Russische Föderation den notwendigen Tablettenbedarf für ein Jahr bis zu einem
Betrag von 800,00 EUR mitzugeben oder zu finanzieren.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Akten, die
Akten des Verfahrens 4 K 3665/02.A, die Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes und
die in den Generalakten befindlichen gerichtlichen Entscheidungen, Auskünfte des
Auswärtigen Amtes, gutachtlichen Stellungnahmen und Presseberichte zur Lage in der
Russischen Föderation, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, Bezug
genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Klage ist zulässig, aber nicht begründet.
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Die Beklagte hat die Änderung des Bescheides vom 26.09.2002 und die hier allein in
Betracht kommende Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7
Satz 1 AufenthG zu Recht abgelehnt, da dem Kläger bei einer Rückkehr in die
Russische Föderation im Sinne dieser Vorschrift keine erhebliche konkrete Gefahr für
Leib und Leben droht.
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Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
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- vgl. Urteil vom 25.11.1997 - 9 C 58.96 -, BVerwGE 105, 383 -
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kann die Gefahr, dass sich die Krankheit eines ausreisepflichtigen Ausländers in
seinem Heimatstaat verschlimmert, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort
unzureichend sind, ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG
begründen. Eine erhebliche konkrete Gefahr, die diese Vorschrift voraussetzt, liegt
danach dann vor, wenn die dem Kläger drohende Gesundheitsgefahr erheblich ist, also
eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität zu erwarten ist. Das wäre
der Fall, wenn sich der Gesundheitszustand des Klägers wesentlich oder sogar
lebensbedrohlich verschlechtern würde. Konkret wäre die Gefahr, wenn diese
Verschlechterung alsbald nach Rückkehr des Klägers in die Russische Förderation
einträte, weil er dort auf unzureichende Möglichkeiten zur Behandlung seines Leidens
angewiesen wäre und anderswo wirksame Hilfe nicht in Anspruch nehmen könnte.
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 29.07.1999 - 9 C 2.99 -.
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Eine nicht zu erwartende Heilung einer Erkrankung im Zielland stellt dabei keine
Verschlimmerung der Erkrankung und erst recht keine wesentliche Verschlimmerung
dar.
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Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 17.09.2004 - 13 A 3598/04.A -.
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Unter diesen Voraussetzungen stellt die Krankheit des Klägers kein
Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG dar. Zur medizinischen
Versorgung der Bevölkerung in Russland heißt es nämlich im Bericht des Auswärtigen
Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation
(einschließlich Tschetschenien) vom 17.03.2007 (S. 27 ff.):
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"Die medizinische Grundversorgung in Russland ist theoretisch grundsätzlich
ausreichend. Zumindest in den Großstädten, wie Moskau und St. Petersburg, sind auch
das Wissen und die technischen Möglichkeiten für einige anspruchsvollere
Behandlungen vorhanden. Allerdings ist medizinische Hilfe heute in Russland oftmals
eine Kostenfrage: Die Zeiten der kostenlosen sowjetischen Gesundheitsfürsorge sind
vorbei, eine beitragsfinanzierte medizinische Versorgung ist erst in der Planung.
Theoretisch hat jeder russische Bürger das Anrecht auf eine kostenfreie medizinische
Grundversorgung, doch in der Praxis erfolgen zumindest aufwändigere Behandlungen
erst nach privater Bezahlung. Dabei zeigt sich im Alltag häufig, dass von mittelosen und
wenig verdienenden Personen nichts bzw. wenig an Zusatzzahlungen verlangt wird, bei
normal bis gutverdienenden Personen hingegen mehr. Private Praxen nehmen in den
Mittel- und Großstädten deutlich zu. Die Versorgung mit Medikamenten ist zumindest in
den Großstädten gut, aber nicht kostenfrei. Neben russischen Produkten sind gegen
entsprechende Bezahlung auch viele importierte Medikamente erhältlich."
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Nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 28.03.2007 an das Verwaltungsgericht
Minden ist auch das Medikament Oxcarbazepin, mit dem das fokale Anfallsleiden des
Klägers erfolgreich therapiert wird, in der Russischen Föderation verfügbar. 200
Tabletten zu 600 mg kosten danach etwa 170,00 EUR, so dass bei einer täglichen
Dosierung von etwa 1050 mg jeden Tag Kosten in Höhe von 1,50 EUR und im Monat
Kosten in Höhe von etwa 45,00 EUR entstehen.
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Der Kläger und seine Eltern, die als russische Staatsangehörige, die nicht aus dem
Kaukasus stammen, keine Schwierigkeiten haben werden, einen registrierten Wohnsitz
in Russland zu begründen, können für die Krankheit des Klägers dort die kostenfreie
medizinische Grundversorgung in Form von ärztlicher Behandlung und
Medikamentenversorgung in Anspruch nehmen, so wie sie ihnen auch schon vor der
Ausreise gewährt wurde. Sollten sie gezwungen sein, das Medikament für den Kläger
ganz oder teilweise selbst zu bezahlen, dann haben sie im ersten Jahr nach der
Rückkehr die Möglichkeit, dieses Medikament mit Hilfe der von der Stadt F. ihnen für ein
Jahr zur Verfügung gestellten Mittel selbst zu erwerben oder den mit diesen Mitteln in
Deutschland erworbenen Vorrat zu verbrauchen. Auch nach diesem Jahr wird sich nach
Auffassung der Kammer für den Kläger keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder
Leben einstellen. Seinen im erwerbsfähigen Alter stehenden Eltern wird es möglich
sein, ihn aus eigenen Mitteln und unter Inanspruchnahme der staatlichen Leistungen in
ausreichender Weise mit dem in der Russischen Föderation verfügbaren Medikament
Oxcarbazepin zu versorgen, dessen monatliche Kosten sich auf etwa 45,00 EUR
belaufen.
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Die Klage war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylVfG
abzuweisen.
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