Urteil des VG Minden vom 26.10.2005
VG Minden: perücke, ärztliche verordnung, beihilfe, gutachter, erwerb, bvo, vollstreckung, haarausfall, ersatzbeschaffung, abnutzung
Verwaltungsgericht Minden, 4 K 1816/04
Datum:
26.10.2005
Gericht:
Verwaltungsgericht Minden
Spruchkörper:
4. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
4 K 1816/04
Tenor:
Der Beklagte wird unter Aufhebung seiner Bescheide vom 15.5.2003
und 14.11.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom
26.4.2004 verpflichtet, der Klägerin zu den von ihr im März 2003
beschafften beiden Perücken weitere Beihilfe in Höhe von 525,00 EUR
zu gewähren. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Das Urteil
ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die
Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des
Vollstreckungsbetrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der
Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
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Die am ......1953 geborene Klägerin steht als Realschullehrerin im Dienst des beklagten
Landes. Seit mehreren Jahrzehnten leidet sie unter totalem Haarausfall. Aus diesem
Grunde lässt sie sich jährlich zwei in Haarschnitt und Haarfarbe übereinstimmende
Echthaarperücken anfertigen.
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Unter dem 11.5.2003 und 6.11.2003 beantragte die Klägerin die Gewährung einer
Beihilfe u.a. für diejenigen Kosten, die ihr durch die Beschaffung von zwei
Echthaarperücken im März 2003 in Höhe von 2.426,00 EUR entstanden waren.
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Hierauf erkannte der Beklagte durch Bescheide vom 15.5.2003 und 14.11.2003
hinsichtlich einer der beiden genannten Perücken einen Betrag von 1.050,00 EUR als
beihilfefähig an. Bezüglich der zweiten Perücken lehnte er die Gewährung von Beihilfe
mit der Begründung ab, die Klägerin besitze bereits mehrere Perücken, die angesichts
der durchschnittlichen Haltbarkeit einer Echthaarperücke von drei bis vier Jahren noch
als brauchbar anzusehen seien. Künftig sei er bereit, alle zwei Jahre eine neue Perücke
als beihilfefähig anzuerkennen, die nächste somit im Jahre 2005.
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Nach erfolgloser Durchführung des Widerspruchsverfahrens hat die Klägerin am
17.5.2004 Klage erhoben. Sie macht geltend, sie sei wegen ihres chronischen totalen
Haarausfalls darauf angewiesen, ständig eine Perücke zu tragen. Ihre Perücken seien
erheblichen Belastungen und Witterungseinflüssen ausgesetzt; obwohl sie jeweils zwei
Perücken im Wechsel trage, seien sie nach jeweils einem Jahr derartig abgenutzt, dass
sie unbrauchbar seien.
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Die Klägerin beantragt,
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den Beklagten unter Aufhebung seiner Bescheide vom 15.5.2003 und 14.11.2003 in der
Fassung des Widerspruchsbescheides vom 26.4.2004 zu verpflichten, der Klägerin
Beihilfe zu den von ihr im März 2003 beschafften beiden Perücken in gesetzlicher Höhe
unter Anrechnung bereits gezahlter Beträge zu gewähren.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er trägt vor, in der von der Klägerin eingereichten ärztlichen Verordnung vom 27.4.2001
werde die Anschaffung lediglich einer Perücke pro Jahr befürwortet. Es sei der Klägerin
auch zuzumuten, ihre Perücken jeweils zwei Jahre zu tragen, zumal es sich um
Echthaarperücken handele.
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Die Kammer hat zur Frage der Tragedauer einer Echthaarperücke im Falle der Klägerin
Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Landesinnungsmeisters für das
Friseurhandwerk des Verbandes X. -M. , P. L. ; das Gutachten ist unter dem
20.4./24.4.2005 erstellt und in der mündlichen Verhandlung vom Gutachter erläutert
worden.
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Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme und der weiteren Einzelheiten des Sach-
und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der vom Beklagten
beigezogenen Verwaltungsvorgänge, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung
waren, Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Klage ist zulässig und begründet.
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Die Bescheide des Beklagten vom 15.5.2003 und 14.11.2003 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 26.4.2004 sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in
ihren Rechten. Die Klägerin hat einen Anspruch darauf, dass ihr vom Beklagten zu den
von ihr im März 2003 beschafften beiden Perücken weitere Beihilfe in Höhe von 525,00
EUR gewährt wird.
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Gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 10 Satz 1 BVO in der im Jahre 2003 geltenden Fassung
umfassen die beihilfefähigen Aufwendungen die Kosten für vom Arzt schriftlich
verordnete Hilfsmittel, zu denen auch Körperersatzstücke, Kontrollgeräte sowie
Apparate zur Selbstbehandlung rechnen. Beihilfefähig sind nach § 4 Abs. 1 Nr. 10 Satz
2 1. Halbsatz BVO die Aufwendungen für Anschaffung und Reparatur. Die
Angemessenheit der Aufwendungen bestimmt sich gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 10 Satz 13
BVO nach der Anlage 2 zur Beihilfenverordnung. In Nr. 3 jener Anlage 2 ist als
beihilfefähiger Höchstbetrag für die Anschaffung einer Perücke ein Betrag von 1.050,00
EUR festgesetzt worden.
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Ist das Tragen einer Perücke für eine längere Zeit erforderlich, ist auch eine mit der
ersten Perücke gleichzeitig beschaffte Zweitperücke beihilfefähig.
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Vgl. Mohr/Sabolewski, Beihilfenrecht, B I § 4 Anmerkung 10.
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Denn eine Perücke kann nicht langfristig ununterbrochen getragen werden: Nach einer
gewissen Zeit der Nutzung, die vom Maß und der Art der Beanspruchung abhängt,
benötigt sie eine Regenerationsphase, muss gepflegt und evtl. getrocknet werden;
manchmal ist es auch unumgänglich, dass sie für einige Tage zur Aufarbeitung im
Haarstudio verbleibt.
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Die Ersatzbeschaffung einer Perücke ist beihilferechtlich wie eine erstmalige
Beschaffung zu behandeln. Sie ist u.a. erforderlich, wenn die Perücke durch natürliche
Abnutzung unbrauchbar geworden ist. Wann dies der Fall ist, hängt von den Umständen
des Einzelfalles ab.
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Vgl. Mohr/Sabolewski, Beihilfenrecht, a.a.O.
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Seit dem Jahre 1996 hat sich die Klägerin jährlich zwei in Haarschnitt und Haarfarbe
übereinstimmende Echthaarperücken anfertigen lassen. Der vom Gericht beauftragte
Gutachter hat nach Inaugenscheinnahme eines Teils jener Perücken in seinem
schriftlichen Gutachten vom 20.4./24.4.2005 festgestellt, die Perücken wiesen starke
Abnutzungserscheinungen auf: Im Bereich der Tampel waren die Perücken eingerissen.
Der Unterbau der Perücken hatte sich im Bereich des Kunststoffrandes zum Teil gelöst
und Blasen gebildet. Die Befestigungsgummis der Perücken (im Nackenbereich) hatten
sich im Laufe der Zeit durch Schweißbildung aufgelöst. Weiterhin war ein unnatürlicher
Geruch wahrzunehmen. Durch den Luftsauerstoff waren die Perücken stark aufgehellt.
Sie zeigten alle partiellen Haarausfall.
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In der mündlichen Verhandlung hat der Gutachter ergänzend dargelegt, die Behaarung
der ihm von der Klägerin vorgelegten Perücken sei im oberen Bereich und an den
Tampeln bereits dünner geworden; nach seiner Ansicht hätten die Perücken im Laufe
der nächsten 6 bis 8 Wochen durch neue Perücken ersetzt werden müssen.
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An der Richtigkeit der Ausführungen des Gutachters bestehen nach Ansicht des
Gerichts keine Zweifel. Anhaltspunkte dafür, dass der Gutachter sein Gutachten nicht
sachgemäß und unparteilich erstellt hat, sind nicht ersichtlich.
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Hiernach ist davon auszugehen, dass die von der Klägerin vor dem Jahre 2003
angeschafften Perücken im März 2003 derartig abgenutzt waren, dass sie nicht mehr
brauchbar waren. Folglich war seinerzeit eine Ersatzbeschaffung erforderlich. Da die
Klägerin ihre Kopfbehaarung zumindest in absehbarer Zeit voraussichtlich nicht
wiedererlangen wird, ist sie dauerhaft und ständig auf das Tragen einer Perücke
angewiesen. Deshalb sind in ihrem Fall diejenigen Kosten beihilfefähig, die durch die
Beschaffung zweier Perücken im März 2003 entstanden sind.
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Der Umstand, dass der Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten Dr. T. unter dem
27.4.2001 ausgeführt hat "die einmal jährliche Anschaffung einer Perücke" sei
erforderlich, steht der Beihilfefähigkeit der von der Klägerin im März 2003 zugleich
beschafften Zweitperücke nicht entgegen.
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Zwar sind die Aufwendungen für den Erwerb eines Hilfsmittels nicht beihilfefähig, wenn
es ohne vorherige ärztliche Verordnung angeschafft worden ist.
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Vgl. Mohr/Sabolewski, Beihilfenrecht, a.a.O.
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Es ist jedoch zu beachten, dass es nicht Aufgabe des Arztes ist, zu der Frage Stellung
zu nehmen, ob im konkreten Einzelfall die Anschaffung einer Perücke ausreicht oder ob
der gleichzeitige Erwerb einer Zweitperücke geboten ist. Der Arzt hat auf Grund seiner
fachlichen Kompetenz allein zu beurteilen, ob es aus medizinischer Sicht möglich und
geboten erscheint, dass - überhaupt - eine Perücke getragen wird. Dabei hat er Art,
Ausmaß und voraussichtliche Dauer des Haarausfalles, die zu Grunde liegenden
Ursachen sowie alle sonstigen individuellen Besonderheiten des Einzelfalles zu
berücksichtigen. Ob eine Zweitperücke benötigt wird, ist hingegen keine medizinische
Frage; ein Arzt ist zu ihrer Beantwortung nicht berufen. Deshalb ist es für die Bejahung
der Beihilfefähigkeit im vorliegenden Fall ausreichend, dass Dr. T. unter dem 27.4.2001
das Tragen einer Perücke aus medizinischer Sicht - generell - für geboten hielt.
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Im Übrigen hatte der Beklagte die genannte ärztliche Stellungnahme in den Jahren
2001 und 2002 zum Anlass genommen, der Klägerin Beihilfe zu den Aufwendungen für
den Erwerb von jeweils zwei Perücken zu gewähren. Darauf, dass in der
Stellungnahme die Anschaffung lediglich einer Perücke erwähnt wird, hatte er sich
seinerzeit nicht berufen.
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Nach alledem war der Klage mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO
i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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