Urteil des VG Minden vom 10.12.2009
VG Minden (geistige behinderung, gutachten, aufschiebende wirkung, förderung, antragsteller, antrag, schule, schüler, behinderung, vollziehung)
Verwaltungsgericht Minden, 2 L 519/09
Datum:
10.12.2009
Gericht:
Verwaltungsgericht Minden
Spruchkörper:
2. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
2 L 519/09
Tenor:
Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO wird abgelehnt.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von
Rechtsanwältin U. -I. , M. , wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 2.500,-- EUR festgesetzt.
Gründe:
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Der Antrag,
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die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers - 2 K 2372/09 - gegen den
Bescheid des Antragsgegners vom 8.9.2009 wiederherzustellen,
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ist unbegründet.
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Die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung genügt den formellen
Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Der Antragsgegner hat ausführlich und
am konkreten Fall orientiert das aus seiner Sicht bestehende besondere öffentliche
Interesse an der sofortigen Vollziehung seines Bescheides vom 8.9.2009 dargelegt.
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Die gemäß § 80 Abs. 5 VwGO gebotene Abwägung zwischen dem öffentlichen
Interesse an der sofortigen Vollziehung der angefochtenen Verfügung und dem
Interesse des Antragstellers, vorläufig bis zum Eintritt der Bestandskraft der Verfügung
von der Vollziehung verschont zu bleiben, fällt zu Lasten des Antragstellers aus. Diese
Abwägung richtet sich in erster Linie nach den Erfolgsaussichten in der Hauptsache.
Nach der im Rahmen des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen
summarischen Prüfung ergibt sich, dass der Bescheid des Antragsgegners vom
8.9.2009 offensichtlich rechtmäßig ist.
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Die Voraussetzungen des § 19 des Schulgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen
(SchulG) für eine sonderpädagogische Förderung des Antragstellers liegen vor. Nach §
19 Abs. 1 SchulG werden Schülerinnen und Schüler, die wegen ihrer körperlichen,
seelischen oder geistigen Behinderung oder wegen ihres erheblich beeinträchtigten
Lernvermögens nicht am Unterricht einer allgemeinen Schule teilnehmen können, nach
ihrem individuellen Bedarf sonderpädagogisch gefördert. Die Voraussetzungen und das
Verfahren zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs sowie zur
Festlegung der Förderschwerpunkte und des Förderorts einschließlich der Beteiligung
der Eltern sind in der Verordnung über die sonderpädagogische Förderung, den
Hausunterricht und die Schule für Kranke (Ausbildungsordnung gemäß § 52 SchulG -
AO-SF) bestimmt.
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Aufgrund der vorliegenden Gutachten zur Feststellung des sonderpädagogischen
Förderbedarfs ergibt sich, dass im Fall des Antragstellers ein sonderpädagogischer
Förderbedarf im Bereich geistige Entwicklung besteht. Eine geistige Behinderung liegt
gem. § 6 AO-SF vor bei hochgradigen Beeinträchtigungen im Bereich der kognitiven
Funktionen und in der Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit und wenn hinreichende
Anhaltspunkte dafür sprechen, dass der Schüler zur selbstständigen Lebensführung
voraussichtlich auch nach dem Ende der Schulzeit auf Dauer Hilfe benötigt.
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Die Kammer hat dazu bereits im Verfahren 2 L 73/09 bezüglich der Feststellung eines
sonderpädagogischen Förderbedarfs beim Antragsteller mit dem Förderschwerpunkt
Lernen im Beschluss vom 5.3.2009 ausgeführt, es spreche für die Rechtswidrigkeit der
Feststellung dieses Förderschwerpunktes, dass es Anhaltspunkte dafür gebe, dass die
Förderschule mit diesem Förderschwerpunkt nicht der geeignete Förderort für den
Antragsteller sei. Aus den Ausführungen seiner Klassenlehrerin und der den
Antragsteller im Wege der Einzelintegration fördernden Sonderschullehrerin vom
18.12.2008 ergebe sich, dass der Antragsteller auch an der Förderschule mit dem
Förderschwerpunkt Lernen nicht angemessen gefördert werden könne, da dort in
Klassenstärken mit bis zu 16 Schülern unterrichtet werde. Zudem werde er an dieser
Schulform nicht mehr die für ihn so wichtige Einzelförderung erhalten. Er werde auch an
der Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen mit großer Wahrscheinlichkeit
nicht in der Lage sein, Aufgabenstellungen ohne intensive Betreuung zu bearbeiten.
Hinzu komme, dass weitere Hinweise auf eine geistige Behinderung des Antragstellers
vorliegen. So werde im schulärztlichen Gutachten vom 20.3.2007 ausgeführt, dass die
durchgeführten Untersuchungen Hinweise auf eine geistige Behinderung des
Antragstellers ergeben hätten. Das pädagogische Gutachten vom 27.3.2007 enthalte
den Satz: "D. ist geistig behindert". Die Gutachter hätten den Förderschwerpunkt des
Antragstellers im Bereich geistige Entwicklung gesehen. Aufgrund dieser Tatsachen
lasse sich ohne Einholung eines weiteren Gutachtens zur Förderung des
sonderpädagogischen Förderbedarfs des Antragstellers mit Blick auf einen evtl.
Förderschwerpunkt geistige Entwicklung nicht beurteilen, welche Förderschule der für
den Antragsteller geeignete Förderort sei.
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Diese Bedenken der Kammer sind durch das nunmehr vorliegende weitere
sonderpädagogische Gutachten der Sonderschullehrerin an der X. mit dem
Förderschwerpunkt "geistige Entwicklung", Frau F. , vom 26.5.2009 in eindeutiger
Weise bestätigt worden. In diesem Gutachten wird festgestellt, dass die von ihr
durchgeführten Beobachtungen sowie die kognitiven und die informellen Tests als auch
die vorhandenen Ergebnisse der vorhergegangenen Gutachten belegen, dass bei D.
erhebliche Entwicklungsrückstände (IQ unter 60, Referenzalter 5 Jahre) in vielen
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Bereichen (Lern- und Arbeitsverhalten, Motorik/Auge-Hand-Koordination,
Sensorik/Figur-Grund-Wahrnehmung, Kognition/Abstraktes Denken,
Kommunikation/Sprache sowie Sozialverhalten) vorliegen, die sich zum Teil durch die
unterlassene Frühförderung, zum Teil durch die mangelnde Förderung, die an der
Grundschule nicht zu leisten sei, manifestiert hätten und D. bei seiner kognitiven und
sozialen Entwicklung gebremst hätten. Ergänzend hat die Sonderschullehrerin mit
Schreiben vom 5.10.2009 ausgeführt, sie könne die Prognose aufstellen, dass D. nie ein
selbstständiges Leben in dieser Gesellschaft führen und eine berufliche Laufbahn auf
dem freien Arbeitsmarkt einschlagen könne. Er habe großen Förderbedarf wie im
kognitiven so auch im sozialen Bereich. Dieser müsse und könne an einer Förderschule
gewährleistet werden. Es sei anzunehmen, auch wenn D. in seiner Entwicklung weit
vorankommen würde, dass er womöglich trotzdem in der Zukunft eine
Betreuungsperson an seiner Seite benötige, die ihn begleite und im Alltag mit
unterstütze.
Nach diesen Ausführungen, an denen zu zweifeln das Gericht keinen Anlass sieht,
bestehen am Vorliegen der Voraussetzungen des § 6 AO-SF keine durchgreifenden
Bedenken.
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Zwar wendet sich der Antragsteller mit Klage und Antrag gegen die Wertungen der
vorliegenden sonderpädagogischen Gutachten und des Ergänzungsgutachtens und
bezieht sich insoweit auf die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens.
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Die Einholung eines solchen weiteren Gutachtens ist zur Klärung des
sonderpädagogischen Förderbedarfs des Antragstellers jedoch weder geeignet noch
geboten. Die Frage, ob ein Schüler oder eine Schülerin einer sonderpädagogischen
Förderung bedarf, welcher konkrete Förderbedarf besteht und welche Schule der
geeignete Förderort ist, richtet sich nämlich grundsätzlich nach dem in der Schule
gezeigten Leistungsvermögen, dem Lern- und Arbeitsverhalten und dem sonstigen
schulischen Verhalten. Nach ständiger Rechtsprechung ist die Beantwortung der Frage,
ob ein Schüler oder eine Schülerin einer sonderpädagogischen Förderung bedarf, durch
einen den Schüler oder die Schülerin isoliert außerhalb der Schule überprüfenden
Gutachter in der Regel - und so auch hier - nicht zugänglich.
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Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 30.08.2007 - 19 E 227/07 -; Beschluss vom 29.11.2004
- 19 A 3615/04 -, jeweils mit weiteren Nachweisen.
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Auch die Bestimmung der Förderschule mit dem Förderschwerpunkt geistige
Entwicklung als einzig in Betracht kommenden Förderort ist nicht zu beanstanden. Der
Antragsgegner hat dazu im Bescheid vom 8.9.2009 zu Recht darauf verwiesen, dass der
Förderbedarf des Antragstellers im gemeinsamen Unterricht in einer Grundschule nicht
erfüllt werden kann, sondern nur in einer Förderschule. Der von den Eltern des
Antragstellers alternativ gewünschte Wechsel in eine Förderschule mit dem
Förderschwerpunkt Lernen könne aufgrund des festgestellten Förderbedarfs mit dem
Förderschwerpunkt im Bereich geistige Entwicklung nicht erfolgen, da dem
Förderbedarf an einer Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen nicht
entsprochen werden könne. Diese Auffassung wird sowohl durch das
sonderpädagogische Gutachten vom 18.12.2008 als auch durch das
Ergänzungsgutachten vom 26.5.2009 als auch durch die Stellungnahme vom 5.10.2009
bestätigt.
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Ein Anspruch auf Förderung in einer Integrationsklasse einer Regelschule folgt
schließlich auch nicht aus dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom
13.12.2008 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Zwar hat der Bundestag
mit Zustimmung des Bundesrates diesem Übereinkommen mit Gesetz vom 21.12.2008
zugestimmt. Ohne weitere normative Ausfüllung begründet das Übereinkommen jedoch
keine unmittelbaren individuellen Ansprüche.
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So auch VG Freiburg, Urteil vom 25.03.2009 - 2 K 1638/08 -, in: Juris.
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Selbst wenn man hinsichtlich der letzteren Rechtsfrage davon ausginge, dass sich
daraus Bedenken gegen eine offensichtliche Rechtmäßigkeit des angefochtenen
Bescheides ergeben könnten, ergebe sich vorliegend nichts anderes. Die in diesem
Falle erforderliche allgemeine Interessenabwägung fällt ebenfalls zu Ungunsten des
Antragstellers aus. Denn aus den vorliegenden Gutachten und Stellungnahmen ergibt
sich ebenfalls deutlich, dass der auch von den Eltern des Antragstellers nicht mehr in
Abrede gestellte sonderpädagogische Förderbedarf an sich jedenfalls unter den
derzeitigen Bedingungen an einer Grundschule nicht gewährleistet ist.
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Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist abzulehnen, weil die
Rechtsverfolgung - wie bereits ausgeführt - nicht die erforderliche hinreichende Aussicht
auf Erfolg bietet (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 Satz 1 ZPO).
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt
aus § 53 Abs. 3 Nr. 2 GKG i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG.
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