Urteil des VG Minden vom 06.01.2004

VG Minden: aufschiebende wirkung, verfügung, polizei, wohnung, gewalt, gefahr, hauptsache, leib, freiheit, berufsausübung

Verwaltungsgericht Minden, 11 L 7/04
Datum:
06.01.2004
Gericht:
Verwaltungsgericht Minden
Spruchkörper:
11. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
11 L 7/04
Tenor:
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte.
Der Streitwert wird auf 4.000,- EUR festgesetzt.
Gründe:
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Der von den Antragstellern sinngemäß gestellte Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO, die
aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs gegen die Verfügung des Antragsgegners
vom 03.01.2004 anzuordnen, hat keinen Erfolg.
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Abgesehen von der Frage der Antragsbefugnis der Antragstellerin zu 1., gegen die sich
die polizeiliche Verfügung nicht richtet, ist der Antrag bereits deshalb unzulässig, weil
bisher kein Widerspruch erhoben worden ist. Die Zulässigkeit eines Antrags nach § 80
Abs. 5 VwGO setzt jedoch voraus, dass jedenfalls bis zum Ergehen der gerichtlichen
Entscheidung ein Rechtsbehelf in der Hauptsache erhoben sein muss.
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Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 05.05.1995 - 10 B 894/95 -, DVBl. 1996, 115 f.;
Schmidt, in: Eyermann, VwGO, 11. Auflage 2000, § 80 Rn. 65; Schoch, in:
ders./Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), VwGO, Stand: September 2003, § 80 Rn. 314.
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Der in der Hauptsache einzulegende Rechtsbehelf ist der Widerspruch gem. §§ 69, 70
VwGO. Dies geht auch aus der Rechtsbehelfsbelehrung in der Verfügung vom
03.01.2004 hervor. Ein Widerspruch ist bisher nach Auskunft des Antragsgegners nicht
erhoben worden. Die Antragsteller haben auch nicht behauptet, dass ein Widerspruch
erhoben worden sei. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ersetzt den Widerspruch nicht.
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Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 05.05.1995, a.a.O.
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Im Übrigen wäre der Antrag voraussichtlich auch unbegründet. Die nach § 80 Abs. 5
VwGO gebotene Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der sofortigen
Vollziehbarkeit der polizeilichen Verfügung und dem Interesse der Antragsteller am
einstweiligen Nichtvollzug fällt zu Lasten der Antragsteller aus. Die
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Interessenabwägung richtet sich in erster Linie nach den Erfolgsaussichten in der
Hauptsache. Die polizeiliche Verfügung ist offensichtlich rechtmäßig.
Rechtsgrundlage für das angeordnete vorläufige Rückkehrverbot ist § 34a Abs. 1 Satz 1
PolG NRW. Danach kann die Polizei eine Person zur Abwehr einer von ihr
ausgehenden Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer anderen Person aus einer
Wohnung, in der die gefährdete Person wohnt, sowie aus deren unmittelbarer
Umgebung verweisen und ihr die Rückkehr in diesen Bereich untersagen. Gem. § 34 a
Abs. 1 Satz 3 PolG NRW können die Maßnahmen in besonders begründeten
Einzelfällen auf Wohn- und Nebenräume beschränkt werden.
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Es ist davon auszugehen, dass von dem Antragsteller zu 2. eine gegenwärtige Gefahr
im Sinne von § 34a Abs. 1 Satz 1 PolG NRW ausging und weiterhin ausgeht. Dabei ist
zu berücksichtigen, dass die Polizei bei Gewalttaten, die sich im häuslichen Bereich
und damit typischerweise unter Ausschluss der Öffentlichkeit abspielen, für ihre
Beurteilung der Sachlage in besonderem Maße auf Feststellungen angewiesen ist, die
sich bei den unmittelbar beteiligten Personen treffen lassen.
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Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 15.02.2002 - 5 B 278/02 -, NJW 2002, 2195 f. = NWVBl.
2002, 437 f.; VG Minden, Beschluss vom 29.01.2003 - 11 L 117/03 -.
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Die Antragstellerin zu 1. gab gegenüber der Polizei an, dass ihr Ehemann, der
Antragsteller zu 2., sie seit Januar 1989 regelmäßig schlage. Am 01.01.2004 habe er
nach einem Streit das Haus ohne seine Hausschlüssel verlassen. Nachdem sie ihm am
02.01.2004 die Tür geöffnet habe, habe er auf sie eingeschlagen, sie zu Boden gezerrt
und mit einem Schal gewürgt. Er habe versucht, sie aus dem Haus zu zerren. Dabei
habe er sie zwischen der Hauseingangstür eingequetscht. Zudem habe er eine Tür im
Erdgeschoss eingetreten. Sie klagte über Schmerzen am ganzen Körper. Während der
Befragung durch die Polizeibeamten weinte und zitterte die Antragstellerin zu 1. Der
Pflegesohn, Herr S. C. , erklärte gegenüber der Polizei, dass er das von der
Antragstellerin zu 1. geschilderte Geschehen nicht beobachtet habe. Er habe aber
bereits des Öfteren blaue Flecken am Körper seiner Pflegemutter festgestellt. Zudem sei
er ihr einmal zu Hilfe gekommen, als sie vom Antragsteller zu 2. gewürgt worden sei.
Der Antragsteller zu 2. hat nicht bestritten, dass es zu diesen Tätlichkeiten gekommen
ist. Er hat sogar ausdrücklich den Versuch eingeräumt, sich gewaltsam Zutritt zu den
Büroräumen zu verschaffen. Da es nach den - ebenfalls unbestrittenen - Angaben der
Antragstellerin zu 1. und ihres Pflegesohns schon häufig und über einen ungewöhnlich
langen Zeitraum von fünfzehn Jahren zu Gewalttätigkeiten durch den Antragsteller zu 2.
gekommen sein soll, ist davon auszugehen, dass eine fortdauernde gegenwärtige
Gefahr i.S.v. § 34a Abs. 1 Satz 1 PolG NRW für die Antragstellerin zu 1. derzeit nicht mit
Sicherheit ausgeschlossen werden kann.
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Die Entscheidung der Polizeibeamten lässt Ermessensfehler nicht erkennen. Die
Entscheidung überschreitet weder die Grenzen des Ermessens noch wird der Zweck
der Ermächtigung verkannt.
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Auf Grund der vorgenannten Umstände hatte der Antragsgegner auch unter Beachtung
des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes keinen Anlass, das Rückkehrverbot nach § 34 a
Abs. 1 Satz 3 PolG NRW räumlich auf die von der Antragstellerin zu 1. genutzten
Wohnung oder zeitlich auf weniger als 10 Tage zu beschränken. Eine solche
Beschränkung setzt voraus, dass der Schutz der gefährdeten Person auch durch ein auf
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diese Räume oder diesen Zeitraum beschränktes Rückkehrverbot ausreichend
gewährleistet ist.
Vgl. VG Minden, Beschluss vom 27.05.2003 - 11 L 548/03 -; LT- Drucks. 13/1525, S. 13 -
Allg. Begr. zu Art. 1.
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Davon ist in diesem Fall jedoch nicht auszugehen. Nach dem Vortrag der Antragsteller
musste die Antragstellerin zu 1. dem Antragsteller zu 2. die Haustür öffnen, als dieser in
die Büroräume im Erdgeschoss gelangen wollte. Dies deutet darauf hin, dass zumindest
eine Verbindung zwischen den Räumen der Firma des Antragstellers zu 2. und des
Treppenhauses zur Wohnung im Obergeschoss besteht. Nachdem der Antragsteller zu
2. die Tür zu den Büroräumen eingetreten hat, dürfte auch die Möglichkeit entfallen sein,
die Verbindung zumindest für die Dauer des Rückkehrverbotes so zu verschließen,
dass der Antragsteller zu 2. selbst dann nicht in das Treppenhaus gelangen könnte,
wenn ein separater Eingang zu den Büroräumen bestünde. Es kann aus diesen
Gründen nicht ausgeschlossen werden, dass sich die Antragstellerin zu 1. und der
Antragsteller zu 2. unfreiwillig im Haus oder auf dem Grundstück begegnen und die
Antragstellerin zu 1. weiteren Tätlichkeiten des Antragstellers zu 2. ausgesetzt ist. Das
mit dem Rückkehrverbot geschützte Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit (Art. 2
Abs. 1 GG) der Antragstellerin zu 2. stellt sich in der Abwägung mit dem Recht auf freie
Berufsausübung (Art. 12 Abs. 1 GG) und des Rechts am eingerichteten und ausgeübten
Gewerbebetrieb als Ausprägung des Eigentumsrechts (Art. 14 Abs. 1 GG) des
Antragstellers zu 2. als höherwertig dar. Mit Blick auf die von der Antragstellerin zu 1.
gegenüber der Polizei geschilderten körperlichen Übergriffe des Antragstellers zu 2. und
der nach allgemeiner Erfahrung zu berücksichtigenden Tendenz zur Steigerung der
Gewalt bei häuslichen Streitigkeiten -
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vgl. LT-Drucks. 13/1525, S. 11 zu Nr. 5 Abs. 1 -
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sind eventuell eintretende finanzielle Einbußen als vom Antragsteller zu 2. hinnehmbar
anzusehen, um schwere Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit der
Antragstellerin zu 1. zumindest für den vom Gesetzgeber vorgesehenen Zeitraum,
dessen Ausschöpfung sich aus den vorgenannten Gründen nicht als unangemessen
darstellt, möglichst auszuschließen.
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An dieser Einschätzung ändert sich auch nichts unter Berücksichtigung der
Antragstellung der Antragstellerin zu 1., zu deren Schutz das Rückkehrverbot
angeordnet worden war. Die Einwilligung desjenigen, dessen Schutz das
Rückkehrverbot dient, in die Rückkehr des Partners ist zur Beurteilung der
Rechtmäßigkeit der polizeilichen Verfügung nicht von Belang.
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Vgl. VG Köln, Beschluss vom 12.03.2002 - 20 L 571/02 -; VG Düsseldorf, Beschluss
vom 23.10.2002 - 18 L 4163/02 -.
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Dies folgt daraus, dass der Gesetzgeber mit dem Erlass des § 34a PolG NRW in Fällen
häuslicher Gewalt seinen auf Art. 2 und 6 GG beruhenden Schutzauftrag
wahrgenommen hat. § 34 a PolG NRW ermöglicht der Behörde eine erste kurzfristige
Krisenintervention mit dem Ziel, akute Auseinandersetzungen mit Gefahren für Leib,
Leben oder Freiheit einer Person zu entschärfen, den Beteiligten Wege aus der Krise zu
eröffnen und ihnen die Möglichkeit zu verschaffen, in größerer Ruhe und ohne das
Risiko von Gewalttätigkeiten Entscheidungen über ihre künftige Lebensführung sowie
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gegebenenfalls die Inanspruchnahme gerichtlichen Schutzes nach Maßgabe des
Gesetzes zum zivilrechtlichen Schutz vor Gewalttaten und Nachstellungen
(Gewaltschutzgesetz - GewSchG) zu treffen.
Vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.02.2002 - 1 BvR 300/02 -, NJW 2002, 2225 f.
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In diesen Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass Opfer einer
Gewaltbeziehung, die sich über viele Jahre hinweg stabilisiert hat, typischerweise dazu
neigen, das Geschehen zu verharmlosen oder die Person, von der die Gewalt ausgeht,
sogar in Schutz zu nehmen.
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Vgl. VG Köln, Beschluss vom 12.03.2002, a.a.O.
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Eine offensichtliche Rechtswidrigkeit der Androhung des Zwangsgelds für jeden Fall
der Zuwiderhandlung gem. §§ 51, 53 und 56 PolG NRW ist nicht ersichtlich.
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Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 159 Satz 1 VwGO i.V.m. § 100 Abs. 1
ZPO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 GKG.
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