Urteil des VG Minden vom 19.08.2008

VG Minden: befreiung, grundstück, treu und glauben, nutzungsänderung, genehmigung, bebauungsplan, freifläche, öffentliches recht, industriebetrieb, lagerplatz

Verwaltungsgericht Minden, 1 K 1671/07
Datum:
19.08.2008
Gericht:
Verwaltungsgericht Minden
Spruchkörper:
1. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
1 K 1671/07
Tenor:
Die der Beigeladenen vom Beklagten am 21.09.1999 erteilte
Baugenehmigung zur Nutzungsänderung von Wohnräumen in
Sozialräume sowie zur Errichtung eines Lagerplatzes auf dem
Grundstück Gemarkung O. , Flur 8, Flurstücke 282 und 283 wird
aufgehoben.
Der Beklagte und die Beigeladene tragen die Gerichtskosten und die
außergerichtlichen Kosten des Klägers je zur Hälfte. Ihre
außergerichtlichen Kosten tragen der Beklagte und die Beigeladene
jeweils selbst.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Dem
jeweiligen Vollstreckungsschuldner wird nachgelassen, die
Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des
vollstreckbaren Betrags abzuwenden, soweit nicht der
Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in Höhe von 120 % des jeweils
zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand:
1
Der Kläger ist Eigentümer des mit einem Wohnhaus bebauten Grundstücks Gemarkung
O1. , Flur 8, Flurstück 15, C.-----weg 6. Nördlich und östlich des Grundstücks schließt
sich jeweils Wohnbebauung an, südlich und westlich grenzt das Grundstück an das
Betriebsgelände der Fa. F. L. GmbH, O2. N. , die gegenwärtig von der Beigeladenen
betrieben wird.
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Das Grundstück des Klägers und das der Beigeladenen liegen im Bereich des seit dem
30.07.1973 rechtsverbindlichen Bebauungsplans Nr. 203 "T.--straße " der Stadt S. . Für
das Grundstück des Klägers und das Gelände des Betriebs der Beigeladenen weist der
Bebauungsplan unterschiedliche Festsetzungen auf. Für das Grundstück des Klägers
sowie die nördlich, westlich und östlich angrenzende, umliegende Wohnbebauung setzt
der Bebauungsplan eine Nutzung als Gewerbegebiet fest, ergänzt durch die textliche
Festsetzung, dass in diesem Bereich "nur Büro-, Geschäfts-, Verwaltungs- und
Sozialgebäude, dazu allgemein Wohnungen für Aufsichts- und Bereitschaftspersonen
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sowie Betriebsinhaber und Betriebsleiter zulässig" sind. In diesem Bereich liegt auch -
westlich des Grundstücks des Klägers - auf dem Flurstück 282 ein Gebäude, das zum
Betrieb der Beigeladenen gehört. Das heutige Flurstück 283, das südlich des
Grundstücks des Klägers liegt, weist der Bebauungsplan im Wesentlichen als
Industriegebiet aus. Der Plan enthält diesbezüglich noch die textliche Festsetzung, dass
das Industriegebiet für den dort ansässigen Betrieb (Fa. F. L. oder evtl.
Rechtsnachfolger) ausgewiesen ist und dass eine Erweiterung oder Änderung des
Betriebs im Rahmen der wirtschaftlichen Entwicklung zulässig ist, soweit der
Emissionsschutz gewahrt werden kann. Für die zwischen diesem Bereich, dem
eingeschränkten Gewerbegebiet im Norden und dem Industriegebiet im Süden,
bestehende Freifläche - auf den Flurstücken 282 und 283 - sieht der Bebauungsplan als
Festsetzung die Anpflanzung von standortgerechten, hochwachsenden Gehölzen nicht
unter zwei Metern vor. Diese Bepflanzung soll - ausweislich der Begründung des
Bebauungsplans - "zur Vermeidung bzw. Milderung der vom Gewerbegebiet
ausgehenden Immissionen" dienen.
Auf einen Hinweis des Klägers im Juli 1998 stellte der Beklagte fest, dass die
Beigeladene ein auf dem Betriebsgelände befindliches Wohngebäude als
Sozialgebäude (Umkleiden und Duschen) nutzte, und dass sie einen im
Bebauungsplan für die Anpflanzung von Gehölzen vorgesehenen Teil des Geländes als
Stellfläche für Pkw und als Lagerplatz nutzte.
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Zur Legalisierung dieses bestehenden Zustandes stellte die Fa. X. G. GmbH & Co. KG
daraufhin einen entsprechenden Bauantrag für die Nutzungsänderung des Gebäudes
und die Errichtung des Lagerplatzes.
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Unter dem 21.09.1999 erteilte der Beklagte der Fa. X. G. GmbH & Co. KG die beantragte
Baugenehmigung. Er genehmigte bezüglich des betreffenden Gebäudes auf dem
Flurstück 282 die Änderung der Nutzung von Wohn- zu Sozialräumen und die
Errichtung eines Lagerplatzes auf der Freifläche des Flurstückes 283. Für diese
Freifläche, für die der Bebauungsplan ein Anpflanzungsgebot vorsieht, erteilte der
Beklagte im Rahmen dieser Genehmigung auch die Befreiung gem. § 31 Abs. 2 BauGB
von den Festsetzungen des Bebauungsplans. Zuvor hatte das Staatliche Umweltamt
Bielefeld keine immissionsschutzrechtlichen Bedenken gegen die Befreiung geäußert;
eine spätere Stellungnahme des Staatlichen Amtes für Umwelt und Arbeitsschutz OWL
vom 22.06.2006 bestätigte dieses Ergebnis: Die Immissionen würden durch den
Verzicht auf die Anpflanzungen nicht beeinflusst. Die Befreiung von den Festsetzungen
des Anpflanzgebots verband der Beklagte mit der Auflage, dass der Lagerplatz durch
einen mindestens fünf Meter breiten Pflanzstreifen - bestehend aus standortgerechten,
hochwachsenden Gehölzen - vom C.-----weg und von dem Grundstück des Klägers zu
trennen sei. Mit dem Kläger wurde diese Befreiung nicht abgestimmt.
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Ob der Kläger in der Folgezeit eine Umsetzung dieser die Nutzungsänderungen
gestattenden Genehmigung hat feststellen und erkennen können, ist zwischen dem
Kläger und dem Beklagten ebenso streitig wie die Frage, ob der Beklagte den Kläger
bereits 2005 anlässlich telefonischer Nachfragen seitens des Klägers über die erteilte
Baugenehmigung und die damit verbundene Befreiung vom Anpflanzungsgebot
informiert hat.
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Mitte Mai 2006 fand in der Wohnung des Klägers ein Gespräch statt, an dem neben dem
Kläger, seiner Ehefrau und seinem Sohn sowie eines Nachbarn auch der zuständige
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Vertreter des Beklagten, der Amtsleiter der Bauaufsicht, teilnahm. Im Rahmen dieses
Gesprächs sicherte der Amtsleiter der Bauaufsicht dem Kläger nach dessen Darstellung
zu, dass ein Rechtsmittel für den Kläger erst zu laufen beginne, wenn er eine
Durchschrift der Baugenehmigung erhalten habe.
Bereits mit Schreiben vom 29.04.2005 hatte der Beklagte der Eigentümerin des
Grundstücks, der Fa. F. L. GmbH, O3. N. , mitgeteilt, dass es eine Nachbarbeschwerde
gegeben habe, die die Nichterfüllung der Auflage zur Baugenehmigung vom 21.09.1999
gerügt habe.
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Auf Bitten des Klägers übersandte der Beklagte diesem mit Schreiben vom 30.08.2006
eine Kopie der Baugenehmigung vom 21.09.1999. Das Schreiben war nicht mit einer
Rechtsbehelfsbelehrung versehen.
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Mit Schreiben vom 04.10.2006 wandte sich der Kläger an den Beklagten und teilte ihm
seine Bedenken hinsichtlich der Baugenehmigung mit. Er machte geltend, dass durch
die Nutzungsänderung die Betriebsfläche der Eisengießerei zum Nachteil seines
Grundstücks und der darauf befindlichen Wohnbebauung erheblich erweitert werde,
zumal die in der Auflage der Baugenehmigung vorgesehenen Anpflanzungen auf ein
Minimum beschränkt seien. Zudem widersprächen die Nutzungsänderungen den
Festsetzungen des Bebauungsplanes Nr. 203; und die nach § 31 Abs. 2 BauGB erteilte
Befreiung decke nicht die Abweichung von dessen Festsetzungen des
Bebauungsplans. Durch die Nutzungsänderung seien außerdem wegen eines
Verstoßes gegen das Gebot der Rücksichtnahme seine nachbarlichen Interessen
verletzt. Er bat den Beklagten zugleich um eine Lösung der bestehenden
Konfliktsituation.
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Ein von dem Beklagten dazu mit allen Beteiligten - neben dem Kläger und dem
Beklagten waren auch Vertreter der O3. N. F. L. GmbH und der Beigeladenen
anwesend - am 01.12.2006 durchgeführtes Gespräch blieb ohne Erfolg. Die Beteiligten
konnten sich nicht auf die Kostentragung eines Lärmgutachtens einigen, das die
Möglichkeit und Erforderlichkeit einer Lärmschutzwand beurteilen sollte.
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Unter dem 01.03.2007 forderte der Kläger den Beklagten auf, schallschützende
Maßnahmen an den Betriebsgebäuden der Beigeladenen zu veranlassen.
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Am 10.08.2007 hat der Kläger Klage erhoben. Er macht geltend, er habe eine
Realisierung der Baugenehmigung durch die Beigeladene nicht erkennen können, da
diese lediglich ihre zuvor begonnenen - damals illegalen - Nutzungen fortgesetzt habe.
Er habe durch die Fortsetzung der Nutzung seitens der Beigeladenen von der Erteilung
der Baugenehmigung keine Kenntnis gehabt und hätte eine Kenntnis auch nicht haben
müssen. Er behauptet, dass die vom Beklagten angeführten Telefonate im Jahre 2005
nicht von ihm, sondern von seinem Sohn mit dem Beklagten geführt worden seien.
Diese Gespräche habe sein Sohn auch nicht als sein Vertreter geführt. Er bestreite
auch, dass der Beklagte seinem Sohn anlässlich eines Telefonats vom 21.03.2005
mitgeteilt habe, dass eine Baugenehmigung und eine Befreiung erteilt worden seien.
Erstmals durch Übersendung der Kopie der Baugenehmigung durch das Schreiben des
Beklagten vom 30.08.2006 habe er gesicherte Kenntnis von der Baugenehmigung und
der Befreiung erhalten. Er sei daher der Auffassung, dass eine Rechtsbehelfsfrist erst ab
diesem Zeitpunkt beginnen konnte. Auch für die Beurteilung, ob er sein Klagerecht
verwirkt habe, sei dieser Zeitpunkt maßgeblich.
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Der Kläger beantragt,
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die der Beigeladenen am 21.09.1999 erteilte Baugenehmigung zur Nutzungsänderung
von Wohnräumen in Sozialräume sowie zur Errichtung eines Lagerplatzes aufzuheben.
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Der Beklagte und die Beigeladene beantragen,
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die Klage abzuweisen.
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Der Beklagte behauptet, der Kläger habe sich mehrfach - u. a. am 21.03.2005 und am
17.05.2005 - telefonisch nach dem Verfahrensstand des ordnungsbehördlichen
Verfahrens erkundigt. Anlässlich dieser Telefonate habe er den Kläger im Gespräch
vom 21.05.2005 über die am 21.09.1999 erteilte Baugenehmigung informiert und ihm
auf Nachfrage auch mitgeteilt, dass der Beigeladenen bezüglich des
Anpflanzungsgebots auf der Freifläche eine Befreiung von den Festsetzungen des
Bebauungsplans erteilt worden sei. Er sei daher der Auffassung, dass die Klage bereits
unzulässig sei. Denn der Kläger habe bereits am 21.03.2005 von der Baugenehmigung
erfahren, so dass der Kläger seine Klage erst nach über zwei Jahren nach gesicherter
Kenntnis von der erteilten Baugenehmigung erhoben habe und die Klage somit wegen
Verwirkung des Klagerechts unzulässig sei. Die Klage sei aber auch unbegründet. Zum
einen verstoße die Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans nach § 31
Abs. 2 BauGB nicht gegen nachbarschützende Vorschriften. Die Befreiung vom
Anpflanzungsgebot sei städtebaulich vertretbar und mit den öffentlichen Belangen und
insbesondere den nachbarlichen Interessen vereinbar. Von der nun als Lagerfläche
genutzten Freifläche gingen keine verstärkten Störungen des Nachbarn aus, zumal die
Befreiung nicht vollständig den im Bebauungsplan vorgesehenen Grünstreifen entferne,
sondern die Baugenehmigung in einer Auflage einen fünf Meter breiten Pflanzstreifen
mit standortgerechten, hochwachsenden Gehölzen vorsehe. Auch die Genehmigung der
Änderung der Nutzung des auf dem Grundstück des Beigeladenen befindlichen
Wohngebäudes für soziale Zwecke sei rechtmäßig. Die Nutzung als Sozialräume sei in
einem Gewerbegebiet - wie es der Bebauungsplan für den betroffenen Bereich vorsehe
- grundsätzlich zulässig und führe nicht zu einer Störung des Nachbarn.
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Der Berichterstatter hat die Örtlichkeit anlässlich eines Erörterungstermins in
Augenschein genommen. Wegen des Ergebnisses wird auf das Protokoll vom
13.03.2008 verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte
sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Klage ist zulässig und begründet. Die angefochtene Baugenehmigung des
Beklagten vom 21.09.1999 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, §
113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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Dem Kläger steht ein baunachbarliches Abwehrrecht gegen die angefochtene
Baugenehmigung zu, denn die Genehmigung verstößt gegen öffentlich-rechtliche
Vorschriften, die auch seinem Schutz als Nachbarn dienen.
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Die Klage ist zulässig.
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Der Kläger musste vor der Erhebung seiner Klage kein Vorverfahren nach § 68 Abs. 1
VwGO durchführen. Nach § 3 Nr. 6 Satz 1 Nr. 6 des Gesetzes zum Bürokratieabbau in
der Modellregion Ostwestfalen-Lippe (Bürokratieabbaugesetz OWL), geändert durch
das Gesetz zur Änderung des Gesetzes zum Bürokratieabbau in der Modellregion
Ostwestfalen-Lippe (Ergänzungsgesetz OWL) muss ein Vorverfahren i. S. d. § 68 VwGO
bei Verwaltungsakten, die von einer Bauaufsichts- oder Baugenehmigungsbehörde
nach dem 18.05.2005 dem jeweiligen Adressaten bekanntgegeben worden sind, nicht
durchgeführt werden. Die streitgegenständliche Baugenehmigung vom 21.09.1999 ist
ein Verwaltungsakt, der vom Beklagten als Baugenehmigungsbehörde erlassen wurde.
Dieser Verwaltungsakt ist dem Kläger nicht vor dem 18.05.2005 wirksam
bekanntgegeben worden.
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Eine Bekanntgabe i. S. d. § 41 Abs. 1 VwVfG NRW bedeutet die mit dem Willen und
Wissen der erlassenden Behörde erfolgende Eröffnung eines Verwaltungsaktes - d. h.
die Mitteilung der Tatsache des Ergehens und des Inhalts des Verwaltungsaktes -
gegenüber dem Betroffenen. Dem Kläger gegenüber wurde die Tatsache des Ergehens
und der Inhalt der Baugenehmigung möglicherweise telefonisch oder anlässlich eines
Gesprächs in der Wohnung des Klägers mit einem Vertreter des Beklagten mitgeteilt.
Für die Bekanntgabe von bauaufsichtsrechtlichen Verwaltungsakten wie der
streitgegenständlichen Baugenehmigung ist nach §§ 12 Abs. 2, 20 Abs. 1 OBG NRW i.
V. m. § 60 Abs. 2 Satz 1 BauO NRW die Schriftform vorgesehen. Daher stellte weder
eine telefonische Mitteilung von der Baugenehmigung noch ein Gespräch in der
Wohnung des Klägers Mitte Mai 2006 eine wirksame Bekanntgabe i. S. d. § 41 VwVfG
NRW dar, da sie nicht in der vorgeschriebenen Form erfolgt sind. Denn wenn die
Bekanntgabe in einer anderen als der vorgeschriebenen Form erfolgt, ist sie unwirksam.
27
Vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 41 Rdnr. 25.
28
Die Übersendung der Kopie der Baugenehmigung mit Schreiben vom 30.08.2006 durch
den Beklagten wahrte hingegen die Schriftform und bedeutet damit eine wirksame
Bekanntgabe; diese erfolgte aber erst nach dem 18.05.2005, so dass es eines
Vorverfahrens nicht mehr bedurfte.
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Die Klage ist auch nicht wegen Verwirkung unzulässig. Eine Verwirkung des
Klagerechts tritt ein, wenn die späte Klageerhebung gegen Treu und Glauben und das
öffentliche Interesse am Rechtsfrieden verstößt. Dies ist der Fall, wenn der Kläger eine
Klage, obwohl er von dem für die Klageerhebung maßgeblichen Sachverhalt bereits
längere Zeit Kenntnis hatte oder hätte haben müssen, erst zu einem Zeitpunkt erhebt, zu
dem der Beklagte oder ein anderer Beteiligter nicht mehr mit einer Klage rechnen
musste, d. h. darauf vertrauen durfte, dass keine Klage mehr erhoben wird.
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 25.01.1974 - IV C 2.72 -, BVerwGE, 294 ff. = NJW 1974, 1270
ff. = BRS 28, 285 ff. ‚= BauR 1974, 401; Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl. 2007, § 74
Rdnr. 19.
31
Die Verwirkung setzt demnach eine Kenntnis des Klägers von dem von ihm
anzugreifenden Verwaltungsakt und ein in Kenntnis des Verwaltungsakts gezeigtes
Verhalten voraus, durch das der Kläger beim Beklagten und bei sonst einem durch den
Verwaltungsakt Begünstigten eine Vertrauensgrundlage dafür geschaffen hat, dass mit
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einer Klage von ihm nicht mehr zu rechnen sei.
Vgl. Brenner in: Sodann/Ziekow, VwGO, § 74 Rdnr. 57, 63.
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Der Kläger hatte noch nicht z. Zt. des Erlasses der Baugenehmigung im Jahre 1999
Kenntnis von dieser. Ihm wurde weder eine Durchschrift der Genehmigung übergeben
noch wurde er damals auf andere Weise von dem Erlass der Baugenehmigung
unterrichtet. Der Kläger hätte zu dieser Zeit auch keine Kenntnis von der
Baugenehmigung haben müssen. Das Kennenmüssen einer Baugenehmigung ist in der
Regel dann gegeben, wenn sich dem Nachbarn der Erlass einer Genehmigung förmlich
aufdrängen muss und er sich durch etwaige Nachfragen beim Bauamt oder beim
Bauherrn Gewissheit verschaffen kann. Das ist regelmäßig dann der Fall, wenn für
einen Nachbarn aufgrund von Bauarbeiten oder sonstigen Verhaltensweisen des von
der Genehmigung Begünstigten deutlich wird, dass dieser von einer ihm erteilten
Genehmigung Gebrauch macht.
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Für den Kläger war ein solches Gebrauchmachen von der Baugenehmigung jedoch
nicht deutlich erkennbar. Zwar wurde das Wohnhaus - entsprechend der
Baugenehmigung - als Sozialgebäude und die Freifläche als Lagerplatz genutzt. Aus
dieser Nutzungsänderung war für den Kläger jedoch nicht zwingend der Rückschluss zu
ziehen, dass eine die Nutzungsänderungen gestattende Baugenehmigung vorlag. Denn
bereits vor der Erteilung nutzte die Beigeladene das Wohngebäude als Sozialgebäude
und die Freifläche als Lagerplatz. Auf Grund dieser vorherigen illegalen Nutzungen
musste sich dem Kläger eine spätere Legalisierung durch eine Baugenehmigung nicht
aufdrängen. Vielmehr war auch der Rückschluss möglich, dass die Behörde trotz seines
Hinweises nicht eingeschritten war und dass die Beigeladene sich über ein
behördliches Einschreiten hinweggesetzt hatte.
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Ab welchem Zeitpunkt der Kläger zuverlässig Kenntnis von einer erteilten
Baugenehmigung hatte, ob dies - was vom Kläger bestritten wird - seit März 2005 oder
erst später der Fall war, lässt die Kammer offen. Eine Verwirkung der Rechte des
Klägers kann nämlich keinesfalls angenommen werden. Der Kläger hat sich ab Mitte
2005 des Öfteren dem Beklagten gegenüber darüber beschwert, dass die Vorgaben des
Bebauungsplans von der Beigeladenen nicht eingehalten werden. Der Kläger hat den
Beklagten auf den aus seiner Sicht vorliegenden Missstand aufmerksam gemacht und
der Beklagte hat auch gegenüber der Beigeladenen darauf gedrängt, den in der
Nutzungsänderungsgenehmigung vom 21.09.1999 zur Bepflanzung festgesetzten Fünf-
Meter-Streifen entlang der Grenze zum Grundstück des Klägers einzugrünen. Auch
wenn der Kläger möglicherweise nicht sofort darauf hingewiesen hat, dass er sich eine
Klage gegen die Baugenehmigung vorbehalte, so musste doch sowohl dem Beklagten
als auch der Beigeladenen klar sein, dass sich der Kläger mit dem gegebenen bzw.
genehmigten Zustand nicht abfinden werde. Auch aus der Tatsache, dass unter den
Beteiligten immer wieder verhandelt worden ist, um eine zufriedenstellende Lösung zu
finden, etwa in Form einer Lärmschutzwand, konnten weder der Beklagte noch die
Beigeladene den Schluss ziehen, der Kläger akzeptiere mindestens die
Nutzungsänderungsgenehmigung für den Lagerplatz mit dem Fünf-Meter-Standstreifen
und die Nutzungsänderung des Wohngebäudes in ein Sozialgebäude.
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Auf Seiten der Beigeladenen kommt hinzu, dass eine Verwirkung den Bauherrn davor
schützen soll, unnützige Investitionen zu tätigen. Der Nachbar darf nicht abwarten, bis
vollendete Tatsachen aufseiten des Bauherrn geschaffen und dieser weitere
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Vermögensdispositionen getroffen hat, um dann später diese Vermögensdispositionen
infrage zu stellen. Die Beigeladene hat aber keine Vermögensdispositionen getroffen.
Das zur Anpflanzung ursprünglich vorgesehene Grundstück ist von ihr immer als
Lagerplatz genutzt worden. Ebenso verhält es sich mit dem Wohnhaus, das ohne
vorherige Nutzungsänderungsgenehmigung in ein Sozialgebäude umgewandelt
worden ist. Wirtschaftlicher Schaden ist der Beigeladenen durch die relativ späte
Klageerhebung des Klägers nicht entstanden. Nach Abwägung aller Umstände ist daher
nicht von einer Verwirkung des Klagerechts durch den Kläger auszugehen.
Die damit zulässige Klage ist auch begründet. Der Kläger wird durch die
Nutzungsänderungsgenehmigung und die Befreiung von den Festsetzungen des
Bebauungsplanes in nachbarlichen Rechten verletzt.
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Die Klage ist zunächst hinsichtlich der in der Baugenehmigung vom 21.09.1999
gestatteten Änderung der Nutzung des Gebäudes auf dem Flurstück 282 von der Wohn-
zur Sozialnutzung begründet. Denn diese Nutzungsänderung verstößt gegen
nachbarschützende Vorschriften. Sie widerspricht den Festsetzungen des
Bebauungsplanes Nr. 203 "T.--straße ". Dieser sieht für das Flurstück 282 ein
Gewerbegebiet vor, wobei nach den textlichen Festsetzungen nur Büro-, Geschäfts-,
Verwaltungs- und Sozialgebäude zulässig sind. Mit dieser Festsetzung ist die Art der
genehmigten Nutzung nicht vereinbar. Die Festsetzung der Art der baulichen Nutzung
entfaltet nachbarschützende Wirkung, denn die Festsetzungen hinsichtlich der Art
verleihen dem Nachbarn ein subjektives öffentliches Recht. Die nachbarschützenden
Festsetzungen bezüglich der Art der Nutzung werden von der genehmigten Nutzung
verletzt. Bei der Frage der planungsrechtlichen Zulässigkeit der Art der Nutzung des
betreffenden Gebäudes kommt es dabei auf die planungsrechtliche Zulässigkeit des
(Haupt-)Betriebes, dem die Umkleide- und Duschräume dienen sollen, an.
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Vgl. hierzu: BVerwG, Urteil vom 15.11.1991 - 4 C 17/88 -, NVwZ-RR 1992, 402 ff.
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Denn es handelt sich bei den genehmigten Umkleide- und Duschräumen um eine
unselbständige Anlage zu dem Betrieb der Beigeladenen. Für die Annahme einer
unselbständigen Anlage ist maßgeblich, dass die Anlage lediglich eine gegenüber dem
Hauptbetrieb dienende Funktion hat.
41
BVerwG, Urteil vom 15.11.1991, a. a. O.
42
Dies ist bei den Umkleide- und Duschräumen der Fall. Sie sollen lediglich den im
Betrieb der Beigeladenen Beschäftigten die Möglichkeit geben, sich "vor Ort"
umzuziehen und zu duschen. Die sich daher nach dem (Haupt-)Betrieb der
Beigeladenen zu beurteilende planungsrechtliche Zulässigkeit ist nicht gegeben. Bei
dem Betrieb der Beigeladenen handelt es sich als N. um einen Gewerbebetrieb. Ein
solcher ist nach den (textlichen) Festsetzungen des Bebauungsplanes jedoch auf dem
betreffenden Flurstück 282 nicht zulässig. Dass lediglich die geänderte Nutzung des
Wohngebäudes - also die unselbständige Anlage - Gegenstand der
bauplanungsrechtlichen Überprüfung beim Antrag auf Genehmigung der
Nutzungsänderung war, ist dabei unerheblich. Denn, ob ein Vorhaben, das zu einer
Gesamtanlage gehört und sie erweitert oder ändert, bauplanungsrechtlich zugelassen
werden darf, kann regelmäßig nicht isoliert, sondern nur unter Berücksichtigung der
Gesamtanlage beurteilt werden.
43
So BVerwG, Urteil vom 15.11.1991, a. a. O.
44
Von diesen Festsetzungen des Bebauungsplans hat der Beklagte auch keine Befreiung
i. S. d. § 31 Abs. 2 BauGB erteilt. Der Beklagte hat mit der Baugenehmigung vom
21.09.1999 nur bezüglich des Anpflanzungsgebots und der Errichtung des Lagerplatzes
auf dem Flurstück 283 eine Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans
gewährt, nicht jedoch für die Änderung der Nutzung des Gebäudes auf dem Flurstück
282. Eine solche Befreiung kann auch nicht darin gesehen werden, dass der Beklagte
die Baugenehmigung erteilt und damit konkludent auch die Befreiung ausgesprochen
hat. Denn § 31 Abs. 2 BauGB verlangt von der zuständigen Behörde eine umfassende
Abwägung der Interessen des Bauherrn mit denen der Öffentlichkeit und der Nachbarn
sowie eine Ermessensentscheidung, bei der die wesentlichen das Ermessen leitenden
Erwägungen in der Begründung des Befreiungsbescheides ihren Niederschlag finden
müssen.
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Im Rahmen der gerichtlichen Prüfung der planungsrechtlichen Zulässigkeit der von der
Baugenehmigung gestatteten Nutzungsänderung bezüglich des Gebäudes auf dem
Flurstück 282 ist es auch unerheblich, ob von den Festsetzungen des Bebauungsplans
rechtsfehlerfrei eine Befreiung erteilt werden könnte. Der Beklagte hat diese Befreiung
nicht ausgesprochen und das Gericht ist nicht befugt, anstelle der Behörde diese
Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB zu erteilen. Denn nach § 31 Abs. 2 BauGB ist die
Erteilung einer Befreiung ins Ermessen der Bauaufsichtsbehörde gestellt. Diese
Ermessensentscheidung darf nicht von dem Gericht vorgenommen werden, es sei denn,
es liegt eine Ermessensreduzierung auf Null vor, d. h. jede andere Entscheidung als der
Erlass der Befreiung wäre ermessensfehlerhaft. Dass jede andere Entscheidung als
eine Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplanes ermessensfehlerhaft
wäre, ist nicht erkennbar.
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Die Klage ist auch begründet, soweit sie sich gegen die Genehmigung des Lagerplatzes
und die Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplanes für diese Fläche
richtet. Denn hinsichtlich der Nutzungsänderung auf dem Flurstück 283 verstößt die
Baugenehmigung vom 21.09.1999 gegen nachbarschützende Vorschriften. Die mit der
Baugenehmigung gestattete Nutzung des Flurstücks 283 als Lagerfläche mit einem fünf
Meter breiten zu bepflanzenden Schutzstreifen zum Grundstück des Klägers hin
widerspricht den Festsetzungen des Bebauungsplans. Dieser sieht für die Fläche des
Lagerplatzes eine Freifläche mit standortgerechter, hochwachsender Bepflanzung vor.
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Von den gültigen Festsetzungen des Bebauungsplanes konnte der Beklagte nicht, ohne
nachbarliche Rechte des Klägers zu verletzen befreien. Nach § 31 Abs. 2 BauGB kann
von den Festsetzungen eines Bebauungsplanes befreit werden, wenn die Grundzüge
der Planung nicht berührt werden und Gründe des Wohls der Allgemeinheit die
Befreiung erfordern oder die Abweichung städtebaulich vertretbar ist, oder die
Durchführung des Bebauungsplans zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führen
würde und wenn die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit
den öffentlichen Belangen vereinbar ist. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen
nicht vor.
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Es fehlt bereits daran, dass im vorliegenden Fall durch die Befreiung die Grundzüge der
Planung berührt werden. Durch das Erfordernis der Wahrung der Grundzüge der
Planung soll sichergestellt werden, dass die Voraussetzungen des Bebauungsplanes
nicht beliebig durch Verwaltungsakte außer Kraft gesetzt werden können. Die Änderung
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eines Bebauungsplans obliegt nach den §§ 1 Abs. 8, 2 Abs. 1 BauGB der Gemeinde
und nicht der Baugenehmigungsbehörde. Diese Regelung darf deshalb nicht durch eine
großzügige Befreiungspraxis aus den Angeln gehoben werden. Ob die Grundzüge der
Planung berührt werden, hängt von der jeweiligen Planungssituation ab. Entscheidend
ist, ob die Abweichung dem planerischen Grundkonzept zuwiderläuft. Je tiefer die
Befreiung in das Interessengeflecht der Planung eingreift, desto eher liegt der Schluss
auf eine Änderung der Plankonzeption nahe, die nur im Wege der Umplanung möglich
ist. Die Befreiung kann nicht als Vehikel dafür herhalten, die von der Gemeinde
getroffene planerische Regelung beiseite zu schieben.
Vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 14.03.2007 - 8 S 1921/06 -, BauR 2007, 1687.
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Vorliegend greift die Befreiung in die Grundzüge der Planung ein. Nach den
Festsetzungen des Bebauungsplanes ist das Grundstück, auf dem die Beigeladene ihr
Gewerbe betreibt, als Industriegebiet (GI) ausgewiesen. Nördlich des Industriegebietes,
d. h. dem Betrieb der Beigeladenen, liegt ein eingeschränktes Gewerbegebiet, zu dem
auch das Grundstück des Klägers gehört. Praktisch befinden und befanden sich in
diesem Gebiet nur Wohnhäuser. Daher sind nach den Festsetzungen des
Bebauungsplanes in dem als Gewerbegebiet bezeichneten Bereich nur Büro-,
Geschäfts-, Verwaltungs- und Sozialgebäude, dazu allgemein Wohnungen für
Aufsichts- und Bereitschaftspersonen sowie Betriebsinhaber und Betriebsleiter zulässig.
Um die immissionsschutzrechtlichen Auswirkungen des Industriegebietes im Süden von
dem eingeschränkten Gewerbegebiet im Norden - einem faktischen Wohngebiet -
abzumildern, sieht der Bebauungsplan an der Schnittstelle, d. h. dem heutigen Flurstück
283 vor, dass dieser Bereich mit standortgerechten, hochwachsenden Gehölzen, nicht
unter zwei Meter zu bepflanzen ist. Wenn der Beklagte nunmehr statt dieser
umfangreichen Bepflanzung im Wege der Befreiung von der Beigeladenen nur noch
verlangt, dass nur ein fünf Meter schmaler Streifen noch bepflanzt werden muss und die
übrige Fläche nicht mehr als Schutzgürtel dienen soll, sondern sogar als Lagerfläche
Bestandteil des Gewerbebetriebes sein darf, so läuft diese Abweichung dem
planerischen Grundkonzept, das eine soweit wie mögliche Trennung zwischen dem
Industriebetrieb und der Wohnnutzung vorsieht, zuwider.
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Darüber hinaus sind auch die nachbarlichen Belange des Klägers beeinträchtigt. Auch
wenn das Staatliche Amt für Umwelt und Arbeitsschutz OWL gegen den geplanten
Verzicht des Beklagten auf die Anpflanzungspflicht auf dem Flurstück 283 aus der Sicht
des Immissionsschutzes keine Bedenken geäußert hat, weil durch die vollständige
Bepflanzung des Flurstücks angeblich keine Emissionen beeinflusst werden, so sind
gleichwohl nachbarliche Belange des Klägers beeinträchtigt. Der im Bebauungsplan
vorgesehene Grüngürtel zwischen dem Industriebetrieb des Beigeladenen und den
nördlich angrenzenden Wohngrundstücken, wobei das Grundstück des Klägers am
unmittelbarsten betroffen ist, sollte nicht nur den Zweck haben, Lärmimmissionen
abzumildern, sondern auch Geruchs- und Staubeinwirkungen. Mindestens bezüglich
der Staubimmissionen dürfte es einen Unterschied machen, ob ein 30 Meter breiter
Grüngürtel angepflanzt wird oder lediglich ein fünf Meter breiter bepflanzter
Schutzstreifen.
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Zwischen dem Industriegebiet und den Wohnhäusern im Norden sollte aber gleichzeitig
auch ein optisch wahrnehmbarer Abstand geschaffen werden. Wenn statt einer ca. 30
Meter breiten Anpflanzung von standortgerechten, hochwachsenden Gehölzen nicht
unter zwei Meter Höhe nur ein fünf Meter breiter Schutzstreifen gepflanzt werden muss
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und der übrige Bereich zu einem zum Industriebetrieb gehörenden Lagerplatz erklärt
wird, werden nachbarliche Belange des Klägers beeinträchtigt. Durch die Errichtung
und Genehmigung des Lagerplatzes rückt der Industriebetrieb nicht nur faktisch näher
an das Grundstück des Klägers heran, was durch die Festsetzungen des
Bebauungsplanes gerade verhindert werden sollte. Der Kläger hat durch die fehlende
Begrünung den Industriebetrieb auch ständig vor Augen. Die optische Trennung
zwischen dem Industriebetrieb und den Wohnhäusern sollte offensichtlich ebenfalls
dazu beitragen, die sich ergebenden Spannungen zwischen den unterschiedlichen
Nutzungen abzubauen, denn wenn die Bewohner der Wohnhäuser den Industriebetrieb
nicht ständig vor Augen haben, dürften sich die Spannungen, die sich aus den
unterschiedlichen Nutzungen ergeben, eher verringern als vergrößern. Das aber war
Planungsabsicht. Diese wird durch die Befreiung von den Festsetzungen des
Bebauungsplans zu Lasten des Klägers aufgegeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 und 3 VwGO. Die Entscheidungen
über die vorläufige Vollstreckbarkeit und die Abwendungsbefugnis beruhen auf § 167
VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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