Urteil des VG Minden vom 07.02.2008

VG Minden: staatliches monopol, besondere gefährlichkeit, eugh, gemeinschaftsrecht, dienstleistungsfreiheit, niederlassungsfreiheit, lizenz, beschränkung, ermessen, obg

Verwaltungsgericht Minden, 3 K 3470/04
Datum:
07.02.2008
Gericht:
Verwaltungsgericht Minden
Spruchkörper:
3. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
3 K 3470/04
Tenor:
1. Das von den Beteiligten übereinstimmend in der Hauptsache für
erledigt erklärte Verfahren wird in entsprechender Anwendung des § 92
Abs. 3 VwGO eingestellt.
2. Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.
3. Der Streitwert wird auf 15.000,00 EUR festgesetzt (§ 52 Abs. 1 GKG).
Die Kostenregelung beruht auf § 161 Abs. 2 VwGO. Es entspricht billigem Ermessen,
dem Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen, weil er ohne das Ereignis, das
die Beteiligten zum Anlass für die Abgabe der Erledigungserklärungen genommen
haben, voraussichtlich unterlegen wäre.
1
Maßgeblich bei einer Kostenentscheidung nach § 161 Abs. 2 VwGO ist die Sach- und
Rechtslage zum Zeitpunkt des erledigenden Ereignisses, hier der Betriebsschließung
im November 2006.
2
Allg. Meinung, vgl. z.B.: OVG NRW, Beschluss vom 03.01.2008 - 4 B 1873/07 -,
Neumann, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 2. Auflage, § 161 Rdnr. 83 m.w.N.
3
In dem für die Kostenentscheidung maßgeblichen Zeitpunkt der Betriebsschließung im
November 2006 war die Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 VwGO zulässig und
begründet. Die angefochtene Ordnungsverfügung des Beklagten vom 29.12.2003 in der
Fassung des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung E. vom 23.09.2004 war
rechtswidrig und verletzte den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO).
4
Die streitgegenständliche Ordnungsverfügung kann nicht auf § 35 Abs. 9, Abs. 1 GewO
gestützt werden. Nach § 35 Abs. 9 GewO finden die Bestimmungen des § 35 Abs. 1 - 8
GewO über die Gewerbeuntersagung Anwendung u.a. auf den Betrieb von
Wettannahmestellen aller Art. Danach könnte eine Gewerbeuntersagung oder eine auf
bestimmte Betätigungen zielende Teiluntersagung der Gewerbeausübung in Betracht
kommen. Eine Gewerbeuntersagung nach § 35 GewO verfolgt aber das Ziel, einen
5
bestimmten Gewerbebetreibenden an der gewerblichen Tätigkeit zu hindern, weil er
unzuverlässig ist. Mit der hier angefochtenen Verfügung soll demgegenüber nicht der
Ausschluss eines bestimmten Gewerbetreibenden erreicht werden, sondern die
Verhinderung einer bestimmten Betätigung.
Vgl.: BVerwG, Urteil vom 21.06.2006 - 6 C 19.06 -, GewArch 2006, Seite 412 f.
6
§ 15 Abs. 2 GewO kommt im vorliegenden Fall als Ermächtigungsgrundlage für die
Betriebsschließung ebenfalls nicht in Betracht. Nach dieser Vorschrift kann eine
gewerberechtlich genehmigungsfähige Tätigkeit, für die die erforderliche Genehmigung
nicht vorliegt, untersagt werden. Dies setzt voraus, dass die Tätigkeit dem Grunde nach
genehmigungsfähig ist, es jedoch versäumt wurde, diese einzuholen. § 15 Abs. 2 GewO
ist jedoch vorliegend nicht einschlägig, da das Veranstalten von Sportwetten ein nach
der Gewerbeordnung grundsätzlich nicht genehmigungsfähiges Veranstalten eines
Glücksspiels ist.
7
Vgl. dazu: BVerwG, Urteil vom 21.06.2006, a.a.O., Bay. VGH, Urteil vom 29.09.2004 - 24
BV 03.3162 -, GewArch 2005, Seite 78.
8
Die angefochtene Verfügung kann auch nicht auf § 14 OBG i.V.m. § 284 StGB und §§ 1,
2 Sportwettengesetz NRW, § 12 Abs. 1 Nr. 1 LoStV 2004 gestützt werden.
9
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
10
Beschluss vom 22.11.2207 - 1 BvR 2218/06 -
11
waren alle sportwettenrechtlichen Untersagungsverfügungen, die - wie hier - vor dem
28.03.2006 erlassen worden sind, wegen Verstoßes gegen Art. 12 Abs. 1 GG
rechtswidrig.
12
Im vorliegenden Verfahren ist bis zur Betriebsschließung im November 2006 auch keine
Heilung eingetreten.
13
Soweit die Verfügung auf § 14 OBG i.V.m. § 284 StGB gestützt worden ist, folgt dies
bereits daraus, dass Verfügungen, die auf Grund des allgemeinen Polizei- und
Ordnungsrechts ergehen und der Gefahrenabwehr dienen, grundsätzlich nach der
Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung zu beurteilen
sind. Spätere Änderungen der Sach- und Rechtslage können sich auf die
Rechtmäßigkeit der Behördenentscheidung nicht mehr auswirken.
14
Vgl.: BVerwG, Urteil vom 06.09.1974 - I C 17.73 -, BVerwGE 47, 31 f., Urteil vom
01.07.1975 - I C 35.70 -, BVerwGE 49, 36 f., Urteil vom 21.06.2006, a.a.O.,
Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, 9. Auflage, Seite 601.
15
Unabhängig davon ist die Ordnungsverfügung im für die Sach- und Rechtslage
maßgeblichen Zeitpunkt der Betriebsschließung aber auch deshalb rechtswidrig
(geblieben), weil die §§ 1, 2 des Sportwettengesetzes NRW, § 12 Abs. 1 Nr. 1 LoStV
2004 gegen die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit gemäß Art. 43 und 49 EGV
verstoßen. Wegen des Anwendungsvorranges des Europäischen Gemeinschaftsrechts
führt dies zur Unanwendbarkeit der §§ 14 OBG, 284 Abs. 1, 27 StGB i.V.m. §§ 1, 2
Sportwettengesetz und § 12 Abs. 1 Nr. 1 LoStV 2004.
16
Das Sportwettengesetz NRW a.F. begründete ein staatliches Monopol für die
Durchführung von Sportwetten.
17
Das Bundesverfassungsgericht
18
vgl. Urteil vom 28.03.2006 - 1 BvR 1054/01 - NJW 2006, 1261
19
hat in Übereinstimmung mit dem Europäischen Gerichtshof
20
vgl. Urteil vom 06.11.2003 - C 243/01 - (Gambelli), GewArch 2004, 30
21
festgestellt, dass ein staatliches Wettmonopol nur dann gerechtfertigt ist, wenn es der
Bekämpfung der Spiel- und Wettsucht dient (98) und/oder dem Schutz der Spieler vor
betrügerischen Machenschaften seitens der Wettanbieter und dem Verbraucherschutz,
insbesondere vor der besonders naheliegenden Gefahr irreführender Werbung (103).
Legitimes Ziel eines staatlichen Wettmonopols ist außerdem die Abwehr von Gefahren
aus mit dem Wetten verbundener Folge- und Begleitkriminalität (105). Demgegenüber
scheiden fiskalische Interessen des Staates als solche zur Rechtfertigung der Errichtung
eines Wettmonopols aus (107).
22
Das Bundesverfassungsgericht hat ausgeführt, dass das staatliche Monopol für
Sportwetten in der damaligen Ausgestaltung mit dem Grundrecht der Berufsfreiheit
unvereinbar war. Insoweit folgt die Kammer den Feststellungen des
Bundesverfassungsgerichts zur Rechtslage nach dem Bayerischen Staatslotteriegesetz
vom 29.04.1999, die auf die in Nordrhein-Westfalen geltende Rechtslage in allen
wesentlichen Punkten übertragbar sind.
23
Ebenso: OVG NRW, Beschluss vom 31.10.2006 - 4 B 1046/06 -.
24
Das Bundesverfassungsgericht stellt in seinem Urteil vom 28.03.2006 unter anderem
weiter fest, dass die Anforderungen des deutschen Verfassungsrechts - die zur
Verfassungswidrigkeit der bayerischen gesetzlichen Regelungen führen - parallel zu
den vom Europäischen Gerichtshof formulierten Vorgaben für die Einschränkung der
Niederlassungsfreiheit (Art. 43 EGV) und der Dienstleistungsfreiheit (Art. 49 EGV)
laufen, die vorliegend betroffen sind, weil es um die Vermittlung von Sportwetten geht,
die in anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft veranstaltet werden
(144). Hieraus folgt auf der Grundlage des genannten verfassungsgerichtlichen Urteils
ohne weiteres, dass die bayerischen Regelungen über ein gesetzliches Monopol für die
Veranstaltung von Sportwetten und damit auch die mit ihnen übereinstimmenden
Gesetze in Nordrhein-Westfalen ebenso gegen das europäische Gemeinschaftsrecht
verstoßen. Diese Ausführungen werden durch den Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts vom 27.12.2007 - 1 BvR 3082/06 - nicht in Frage gestellt.
25
Die Annahme der Gemeinschaftsrechtswidrigkeit des durch die genannten Vorschriften
begründeten Sportwettenmonopols beruht im Übrigen auf folgenden Erwägungen:
26
Der Europäische Gerichtshof stellte in seinem Urteil vom 06.03.2007 - C- 338/04, C-
359/04 und C-360/04 (Placanica u.a.) - fest, dass es grundsätzlich möglich ist, auf Grund
sittlicher, religiöser und kultureller Besonderheiten und im Hinblick auf mögliche sittliche
und finanziell schädliche Folgen nationale Beschränkungen der Niederlassungs- und
27
Dienstleistungsfreiheit zu rechtfertigen. Diese Beschränkungen müssen aber den
Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes genügen. Der Europäische
Gerichtshof führt insoweit aus:
"Der Gerichtshof hat bereits festgestellt, dass die in den Ausgangsverfahren fragliche
nationale Regelung, die die Ausübung von Tätigkeiten im Glücksspielsektor ohne eine
vom Staat erteilte Konzession oder polizeiliche Genehmigung unter Strafandrohung
verbietet, eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit und des freien
Dienstleistungsverkehrs darstellt (Urteil Gambelli u.a., Rdnr. 59 und Tenor). ... Unter
diesen Umständen ist zu prüfen, ob solche Beschränkungen auf Grund der in den
Artikeln 45 EG und 46 EG ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmeregelungen zulässig
oder nach der Rechtsprechung des Gerichts aus zwingenden Gründen des
Allgemeininteresses gerechtfertigt sind (Urteil Gambelli u.a., Rdnr. 60). In diesem
Zusammenhang hat die Rechtsprechung eine Reihe von zwingenden Gründen des
Allgemeininteresses anerkannt, nämlich den Verbraucherschutz, die
Betrugsvorbeugung und die Vermeidung von Anreizen für die Bürger zu überhöhten
Ausgaben für das Spielen sowie die Verhütung von Störungen der sozialen Ordnung im
Allgemeinen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24.03.1994, Schindler, C-275/92, Slg.
1994, I-1039, Rdnrn. 57 bis 60, vom 21.09.1999, Läärä u.a., C-124/97, Slg. 1999, I-6067,
Rdnrn. 32 und 33, Zenatti, Rdnrn. 30 und 31, sowie Gambelli u.a., Rdnr. 67). In diesem
Kontext können die sittlichen, religiösen oder kulturellen Besonderheiten und die sittlich
und finanziell schädlichen Folgen für den Einzelnen wie für die Gesellschaft, die mit
Spiel und Wetten einhergehen, ein ausreichendes Ermessen der staatlichen Stellen
rechtfertigen festzulegen, welche Erfordernisse sich aus dem Schutz der Verbraucher
und der Sozialordnung ergeben (Urteil Gambelli u.a., Rdnr. 63). Es steht den
Mitgliedsstaaten in dieser Hinsicht zwar frei, die Ziele ihrer Politik auf dem Gebiet der
Glücksspiele festzulegen und gegebenenfalls das angestrebte Schutzniveau genau zu
bestimmen, jedoch müssen die von ihnen vorgeschriebenen Beschränkungen den sich
aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebenden Anforderungen hinsichtlich ihrer
Verhältnismäßigkeit genügen. Daher ist gesondert für jede mit den nationalen
Rechtsvorschriften auferlegte Beschränkung namentlich zu prüfen, ob die
Beschränkung geeignet ist, die Verwirklichung des von dem fraglichen Mitgliedsstaat
geltend gemachten Ziels oder der von ihm geltend gemachten Ziele zu gewährleisten,
und ob sie nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels oder dieser Ziele
erforderlich ist. Auf jeden Fall dürfen die Beschränkungen nicht diskriminierend
angewandt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil Gebhard, Rdnr. 37, Gambelli u.a., Rdnrn.
64 und 65, sowie vom 13.11.2003, Lindman, C-42/02, Slg. 2003, I-13519, Rdnr. 25)."
28
Der Europäische Gerichtshof knüpft damit an seine Rechtsprechung an, dass nationale
Maßnahmen, die die vom Vertrag garantierten Grundfreiheiten beschränken, nur unter
vier Voraussetzungen zulässig sind: Sie müssen in nicht diskriminierender Weise
angewandt werden, sie müssen zwingenden Gründen des Allgemeininteresses
entsprechen, sie müssen zur Erreichung des verfolgten Zieles geeignet sein, und sie
dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist.
29
Vgl. dazu: EuGH, Urteil vom 26.10.2006 - C-65/05 -, Rdnr. 49.
30
Auch in seinem Urteil vom 05.06.2007 - C-170/04 - (Rosengren) betreffend das
schwedische Importverbot für Alkohol knüpft der Gerichtshof an diese Grundsätze an.
31
Bereits in dem Urteil vom 23.10.1997 - C-189/95 (Lexezius) Rdnr. 42 heißt es: "Wie der
32
Gerichtshof wiederholt ausgeführt hat, verlangt Art. 37 des Vertrages nicht die völlige
Abschaffung der staatlichen Handelsmonopole, sondern schreibt vor, sie in der Weise
umzuformen, dass jede Diskriminierung in den Versorgungs- und Absatzbedingungen
zwischen den Angehörigen der Mitgliedsstaaten ausgeschlossen ist."
Gemessen an diesen Grundsätzen ist ein staatliches Wettmonopol nur dann mit
Gemeinschaftsrecht vereinbar, wenn es geeignet, erforderlich, angemessen und nicht
diskriminierend ausgestaltet ist. Der Europäische Gerichtshof billigt dem einzelnen
Mitgliedsstaat bei der Umsetzung dieser Grundsätze kein Ermessen zu, prüft ihre
Einhaltung vielmehr an Hand der von ihm selbst gebildeten, als außerordentlich streng
zu wertenden Maßstäbe.
33
So wird in dem Urteil der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofes vom
06.03.2007 im Ergebnis festgestellt, dass nationale Regelungen - wie diejenigen in
Italien -, nach denen ein privatrechtliches Unternehmen eine Lizenz nach den
gesetzlichen Rahmenbedingungen nicht erhalten kann und die nationale Behörde es
unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht ablehnt, entsprechende Lizenzen zu
erteilen, gemeinschaftsrechtswidrig sind. Der Gerichtshof hat in der Entscheidung
ausgeführt, dass selbst das alte italienische Gesetzesmodell - inzwischen ist in Italien
eine Liberalisierung erfolgt -, wonach private Kapitalgesellschaften keine Lizenz
erhalten können, wohl aber Lizenzen an staatlich kontrollierte Annahmestellen erteilt
werden, gegen EU-Recht verstößt, weil Private nach den dortigen Regelungen praktisch
vom Zugang zu einer Lizenz ausgeschlossen waren. Schon diese Regelung hält der
Europäische Gerichtshof für gemeinschaftsrechtswidrig. Die deutsche Regelung a.F.,
nach der ein privatrechtliches Unternehmen überhaupt keine Lizenz erhalten konnte,
war daher erst recht als gemeinschaftsrechtswidrig anzusehen.
34
Eine Diskriminierung von Sportwettenanbietern, die ihren Sitz in anderen
Mitgliedsstaaten der Europäischen Union haben und dort über eine die Veranstaltung
von Sportwetten ermöglichende Erlaubnis oder Konzession verfügen, gegenüber den in
Deutschland zugelassenen Veranstaltern von Sportwetten kann hiernach nur dann
verneint werden, wenn die erstgenannten Sportwettenanbieter ihre Dienstleistung in
Deutschland mindestens in dem Umfang anbieten dürfen, in dem dies deutschen
Sportwettenveranstaltern im Inland möglich ist, wobei dann auch von allen die
Einhaltung von Sicherheitsmaßregeln gefordert werden kann, etwa die Überprüfung der
Identität der Wettteilnehmer, die Erreichung eines Mindestalters, etwa des 21.
Lebensjahrs, die Beachtung von Selbst- und Fremdsperren, Beschränkung der
Werbung für Sportwettenangebote, Angebote für die Aufklärung über die Gefahr,
spielsüchtig zu werden, und Zurverfügungstellung von Rat und Hilfe für Spielsüchtige.
Die Tätigkeit von Personen, die den Abschluss von Sportwetten zwischen inländischen
Wettteilnehmern und Sportwettenanbietern mit Sitz in anderen Mitgliedsstaaten der
Europäischen Union vermitteln, ist jeweils insoweit durch Art. 43 und 49 EGV gedeckt,
als diese Vermittlungstätigkeit erforderlich ist, um den Sportwettenveranstaltern aus
anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union als Dienstleistern einen effektiven
Zugang zum deutschen Sportwettenmarkt zu eröffnen.
35
Ferner ist zu berücksichtigen, dass das durch den Lotteriestaatsvertrag a.F. begründete
deutsche Sportwettenmonopol auch gegen die Lindman- Entscheidung,
36
EuGH, RS L-42/02, Lindman, Slg. 2003, I-13519, Rdnrn. 25 und 26
37
auf die die Placanica-Entscheidung ausdrücklich Bezug nimmt, verstoßen haben dürfte.
Nach der Lindman-Entscheidung ist ein Mitgliedsstaat nur dann berechtigt, Eingriffe in
die Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit vorzunehmen, wenn diese Eingriffe
durch tatsächliche Untersuchungen der Verhältnismäßigkeit begleitet sind. Soweit
solche Eingriffe sich - wie in Deutschland - nicht auf alle Formen von Glücksspielen
beziehen, sondern nur auf bestimmte - etwa auf Sportwetten -, müssten solche
Untersuchungen auch die besondere Gefährlichkeit gerade dieser Art von
Glücksspielen erkennen lassen.
38
Der Europäische Gerichtshof führt in der genannten Entscheidung wörtlich aus:
39
"Die Rechtfertigungsgründe, die von einem Mitgliedsstaat geltend gemacht werden
können, müssen von einer Untersuchung zur Zweckmäßigkeit der von diesem Staat
erlassenen beschränkenden Maßnahme begleitet werden ... Im Ausgangsverfahren
weisen die dem Gerichtshof vom vorlegenden Gericht übermittelten Akten kein Element
statistischer oder sonstiger Natur auf, das einen Schluss auf die Schwere der Gefahren,
die mit dem Betrieb von Glücksspielen verbunden sind, und erst recht nicht auf einen
besonderen Zusammenhang zwischen solchen Gefahren und der Teilnahme der
Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedslandes an in anderen Mitgliedsländern
veranstalteten Lotterien zuließe."
40
Dieser Untersuchungspflicht sind die Landesgesetzgeber - wie bereits das
Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 06.03.2006 bemängelt hat - jedenfalls
bei der Schaffung der Sportwettengesetze und des Staatslotteriegesetzes i.d.F. von
2004 nicht nachgekommen.
41
Zwar hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 28.03.2006 eine
Übergangsregelung für die bislang geltenden Sportwettengesetze unter bestimmten
Maßgaben getroffen.
42
Die dem Gesetzgeber vom Bundesverfassungsgericht eingeräumte Übergangsregelung
ist aber auf Grund des Anwendungsvorrangs des Europarechts nicht anwendbar. Die
bis zum 31.12.2007 geltende Rechtslage verstieß - wie bereits ausgeführt - gegen die
Niederlassungsfreiheit (Art. 43 EGV) und gegen die Dienstleistungsfreiheit (Art. 49
EGV).
43
Anders als § 95 Abs. 3 Bundesverfassungsgerichtsgesetz in der Auslegung, die diese
Vorschrift durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erfahren hat,
kennt das Gemeinschaftsrecht nämlich keine Übergangsregelung in dem Sinne, dass
eine an sich verfassungswidrige Norm für einen Übergangszeitraum weiterhin Geltung
hat. Eine Ausnahme hiervon hat der Europäische Gerichtshof, der im Übrigen allein
hierfür zuständig wäre, bisher nur in einem einzigen, besonders gelagerten Einzelfall
gemacht.
44
Vgl. EuGH, Urteil vom 30.05.2006 - C - 317/04 -.
45
Eine entsprechende Anwendung des dabei zugrundegelegten Rechtssatzes auf die hier
zu beurteilende Fallgestaltung ist weder möglich noch geboten. Jedenfalls hat ein
Verwaltungsgericht selbst nach der Verwaltungsgerichtsordnung nicht die Befugnis,
einer Behörde für eine Übergangszeit die Anwendung einer verfassungswidrigen Norm
zu erlauben.
46
Vgl. insoweit auch ausführlich: OVG Saarlouis, Beschluss vom 04.04.2007 - 3 W 18/06 -
.
47
Dass auf Grund der in Art. 23 GG angeordneten Übertragung von Hoheitsrechten das
Gemeinschaftsrecht einen so genannten Anwendungsvorrang genießt, ist einheitliche
Auffassung in Rechtsprechung und Literatur.
48
Vgl.: EuGH, Rs 6/64, Costa/ENEL, Slg 1964, 1141; EuGH, Rs 106/77, Simmenthal II,
Slg 1978, 629; BVerfG, Beschluss vom 22.10.1986 - 2 BvR 197/83 -, BVerfGE 73, 339
(375); Streinz, EUV/EGV, Art. 249 EGV Anm. 40 ff.; Selmayr/Prowald, Abschied von den
"Solange"-Vorbehalten, DVBl. 99, 271 ff.; Rauch, Die verfassungsrechtliche
Unzulässigkeit staatlicher Monopole bei Sportwetten, GewArch 2001, 102 (110);
Hoeller/Bodemann, Das "Gambelli"-Urteil des EuGH und seine Auswirkungen auf
Deutschland, NJW 2004, 122 (124).
49
Der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts fordert, dass nationales Recht, das
gegen Gemeinschaftsrecht verstößt, ohne Weiteres außer Acht gelassen wird. Dies
deckt sich auch mit der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, das die
Nichtberücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in einem
verwaltungsgerichtlichen Verfahren als Verstoß gegen die Gewährleistung effektiven
Rechtsschutzes durch Art. 19 Abs. 4 GG angesehen hat.
50
Vgl. BVerfG, Beschluss vom 26.08.2004 - 1 BvR 1446/04 -.
51
Durch das Bundesverfassungsgericht wurde der Anwendungsvorrang gegenüber
nationalem, einfachem Recht schon vor langem ausnahmslos anerkannt:
52
"Denn durch die Ratifizierung des EWG-Vertrags ... ist in Übereinstimmung mit Art. 24
Abs. 1 GG eine eigenständige Rechtsordnung der Europäischen
Wirtschaftsgemeinschaft entstanden, die in die innerstaatliche Rechtsordnung
hineinwirkt und von den deutschen Gerichten anzuwenden ist ... Art. 24 Abs. 1 GG
(nunmehr Art. 23 Abs. 1) besagt bei sachgerechter Auslegung nicht nur, dass die
Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen überhaupt
zulässig ist, sondern auch, dass die Hoheitsakte ihrer Organe vom ursprünglich
ausschließlichen Hoheitsträger anzuerkennen sind. Von dieser Rechtslage ausgehend
müssen ... die deutschen Gerichte auch solche Rechtsvorschriften anwenden, die zwar
einer eigenständigen außerstaatlichen Hoheitsgewalt zuzurechnen sind, aber dennoch
auf Grund ihrer Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof im innerstaatlichen
Raum unmittelbare Wirkung entfalten und entgegenstehendes nationales Recht
verdrängen."
53
So: BVerfG, Beschluss vom 09.06.1971 - 2 BvR 225/69 -, BVerfGE 31, 145 (173).
54
Das Bundesverfassungsgericht hat damit festgestellt, dass unmittelbar anwendbares
Primärrecht wie Sekundärrecht im Falle einer Kollision mit späterem wie früherem
einfachen Gesetzesrecht vorgeht. Folge hiervon ist, dass die deutschen Gerichte im
Falle einer Kollision von unmittelbar anwendbarem Gemeinschaftsrecht mit deutschem
Gesetzesrecht nicht das deutsche Gesetz, sondern die gemeinschaftsrechtliche
Bestimmung anzuwenden haben. Ihnen kommt somit eine Prüfungs- und
Verwerfungskompetenz gegenüber gemeinschaftsrechtswidrigen deutschen Gesetzen
55
zu, wobei es sich rechtlich um eine "Nichtanwendungspflicht" handelt. Entsprechendes
gilt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes auch uneingeschränkt
für die Verwaltung. Steht ein deutsches Gesetz im Widerspruch zu einer unmittelbar
anwendbaren Bestimmung des Gemeinschaftsrechts, so hat die deutsche Behörde dem
Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts Geltung zu verschaffen und muss dieses
Gesetz unangewendet lassen.
Vgl. EuGH, Rs 103/88, Fratelli Costanzo; Streinz, a.a.O., Art. 10 EGV, Anm. 35.
56
Der Anwendungsvorrang bewirkt nach alledem, dass Gesetze jedweden nationalen
Rechts, die mit den Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts unvereinbar sind, weder
von nationalen Behörden noch den Gerichten angewandt werden dürfen. Da vorliegend
vom Bundesverfassungsgericht zu Recht, wenn auch nicht mit bindender Wirkung,
festgestellt wurde, dass die Sportwettengesetze a.F. der Bundesländer, die staatliche
Monopole anordneten, einerseits gegen die Niederlassungsfreiheit und andererseits
gegen die Dienstleistungsfreiheit verstießen, durften diese Vorschriften von keiner
nationalen Verwaltungsbehörde herangezogen werden, um die EU-interne
Sportwettenvermittlung zu verbieten.
57
Soweit das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Fällen der
vorliegenden Art wegen einer sonst entstehenden "inakzeptablen Gesetzeslücke" den
Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts ausschließen will, vermag sich die
Kammer dem nicht anzuschließen.
58
Vgl. z.B. OVG NRW, Beschluss vom 18.04.2007 - 4 B 1246/06 -; im Ergebnis wie hier:
OVG des Saarlandes, Beschluss vom 04.04.2007, a.a.O.; VG Köln, Urteil vom
22.06.2006 - 1 K 2675/04 -; VG Arnsberg, Beschluss vom 10.10.2007 - 1 K 778/05 -.
59
60