Urteil des VG Minden vom 21.05.2010

VG Minden (kläger, eltern, gruppenarbeit, gesetzliche grundlage, schule, teilnahme, jugendhilfe, behinderung, sozialhilfe, ziel)

Verwaltungsgericht Minden, 6 K 259/10
Datum:
21.05.2010
Gericht:
Verwaltungsgericht Minden
Spruchkörper:
6. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
6 K 259/10
Tenor:
Die Klage wird auf Kosten des Klägers abgewiesen.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die
Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 100 EUR
abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in
derselben Höhe leistet.
Tatbestand:
1
Die Beteiligten streiten um die Erstattung von Kosten für eine Hilfeleistung, die der
Kläger dem am 14.9.1992 geborenen F. L. - im Folgenden: der Hilfeempfänger -
erbracht hat.
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Der Hilfeempfänger ist schwer hörgeschädigt (GdB: 100). Erst seit seinem 10. oder 11.
Lebensjahr kann er nach dem Einsetzen eines Implantats etwas hören; sprechen kann
er nur sehr schlecht. Er besucht seit Sommer 2006 eine Förderschule mit dem
Schwerpunkt Hören und Kommunikation.
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Unter dem 2.3.2009 beantragten seine Eltern für ihn bei der Beklagten als örtlicher
Trägerin der Jugendhilfe Hilfe in Form von Einzelbetreuung durch eine erfahrene
Fachperson z.B. des Hörgeschädigten- und Gehörlosenzentrums des Diakonischen
Werks N. , weil auf Grund seiner schweren Hörbehinderung gravierende Probleme im
Umgang mit Menschen außerhalb seiner Familie bestünden, auch in der Schule.
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Da die Beklagte sich als unzuständig ansah, nahm sie sofort telefonisch Kontakt mit
dem Kläger als örtlichem Träger der Sozialhilfe auf. Dabei äußerte sie, der späte
operative Eingriff habe den Hilfeempfänger verwirrt und bereite ihm nach wie vor
Schwierigkeiten; die Hörschädigung bedinge Verhaltensauffälligkeiten und
Schwierigkeiten seiner Eltern mit ihm; die Eltern hätten generell keine
Erziehungsprobleme. Der Kläger hielt dem entgegen, dass er eine
Jugendhilfemaßnahme nach § 29 SGB VIII für möglich halte.
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Unter dem 11.3.2009 leitete die Beklagte den Hilfeantrag gemäß § 14 SGB IX an den
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Kläger weiter mit der Begründung, es liege ein Antrag auf Eingliederungshilfe nach den
§§ 55, 58 SGB IX i.V.m. den §§ 53, 54 SGB XII vor; Leistungen der Eingliederungshilfe
für körperlich behinderte junge Menschen gingen gemäß § 10 SGB VIII Leistungen der
Jugendhilfe vor. Ergänzend gab sie mit Schreiben vom 20.5.2009 an, der
Hilfeempfänger sei bereits seit seinem achten Lebensjahr bis zum Einsetzen des
Implantats sehr aggressiv gewesen; er habe sich als Kind oft unverstanden gefühlt, sei
überall ausgegrenzt und zusehends aggressiver geworden. Das Implantat habe ihm
nicht nur angenehme Erfahrungen bereitet. Er habe einige Male die Schule gewechselt,
Probleme mit anderen Kindern gehabt, sei von ihnen gemobbt und u.a. in einen
Toilettenraum eingesperrt worden. In der Förderschule habe sich seine Situation etwas
verbessert. Nach dem Ende des Besuchs dieser Schule im Sommer 2010 werde er eine
Ausbildung beginnen, müsse sich bis dahin aber noch bewähren bzw. zu steuern
lernen; wegen seines immer noch sehr aggressiven Verhaltens könne er derzeit noch
nicht in die Arbeitswelt integriert werden. Im Schuljahr 2008/09 habe er eine
Mitschülerin, die ihn sehr geärgert habe, bis zur Bewusstlosigkeit
zusammengeschlagen. Oft werfe er vor Wut Stühle um. Außerdem lasse er sich von
anderen Jungen schnell zu "Blödsinn" verleiten, weil diese ihm sonst mit
Freundschaftsentzug drohten. Zu Hause zeige er ähnliche Reaktionen und reagiere oft
unverhältnismäßig, wenn er sich genervt fühle, Situationen sich wiederholten und ihm
die Sprache fehle; so "schmeiße" er etwa seinen dreijährigen Bruder von sich, wenn er
sich von diesem gestört fühle. Da er mit diesem Verhalten nicht ins Berufsleben
einzugliedern sein werde, empfehle die Schule und beantragten die Eltern eine Hilfe,
mit der er lerne, sich besser zu steuern. In Vorgesprächen mit dem Hörgeschädigten-
und Gehörlo-senzentrum in N. habe dessen Leiterin seine viermalige Teilnahme an
einer jeweils dreistündigen Sozialgruppenarbeit im Juni 2009 zum Preis von 36,66 EUR
pro Stunde angeboten; in einem weiteren Planungsgespräch Anfang Juli 2009 müsste
dann geklärt werden, ob diese Hilfe richtig sei oder geändert werden müsse. Der Kläger
möge dieser Hilfe zustimmen, weil eine Teilnahme des Hilfeempfängers am Leben in
der Gesellschaft derzeit "so nicht gegeben" sei und die Ursache hierfür in seiner
Behinderung liege.
Nach einer in einem Vermerk der Beklagten festgehaltenen telefonischen Auskunft des
Hörgeschädigten- und Gehörlosenzentrums in N. an die Beklagte vom 23.4.2009
besteht die Arbeit der Beratungsstelle des Zentrums normalerweise in der
Sprachförderung, der Wortschatzerweiterung, dem Nacharbeiten der Schularbeiten
sowie im Unternehmen lebenspraktischer Dinge im Freizeitbereich; es gehe um
"Kommunikation schlechthin".
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Mit Bescheid vom 28.5.2009 bewilligte der Kläger dem Hilfeempfänger gemäß § 14
SGB IX als zweitangegangener Träger "Hilfe zur Erziehung in Gestalt einer sozialen
Gruppenarbeit (§ 29 SGB VIII)" beim Hörgeschädigten- und Gehörlosenzentrum in N.
unter Übernahme der Kosten für bis zu zwölf Betreuungsstunden im Juni 2009 zu je
36,66 EUR.
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Mit Schreiben vom selben Tage machte der Kläger gegenüber der Beklagten einen
Kostenerstattungsanspruch gemäß § 14 Abs. 4 SGB IX geltend, weil es sich bei der
bewilligten Hilfe auch ausweislich des Schreibens der Beklagten vom 20.5.2009 um
Hilfe nach § 29 SGB VIII handele. Mitte Juli 2009 wiederholte der Kläger sein
Erstattungsbegehren und bezifferte den Erstattungsbetrag auf 329,94 EUR (= 9 Stunden
à 36,66 EUR); die beigefügte Stundenauflistung des Diakonischen Werks N. trägt die
Überschrift "Pädagogische Hilfen". Die Beklagte lehnte unter dem 10.9.2009 eine
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Kostenerstattung ab mit der Begründung, bei der gewährten Hilfe handele es sich nicht
um Erziehungshilfe, sondern um Eingliederungshilfe für einen körperlich Behinderten
mit dem Ziel, diesen in die Lage zu versetzen, mit den Folgen seiner Behinderung
zurecht zu kommen. Einen vom Kläger Ende September 2009 gegen dieses Schreiben
eingelegten Widerspruch beantwortete die Beklagte Mitte Dezember 2009 mit dem
Hinweis auf die fehlende Verwaltungsaktqualität ihres Schreibens vom 10.9.2009.
Einen "Kostenerstattungsbescheid" vom 12.1.2010 gegenüber der Beklagten nahm der
Kläger nach einem weiteren rechtlichen Hinweis der Beklagten zwei Wochen später
wieder zurück.
Am 5.2.2010 hat der Kläger Klage erhoben. Er meint, der Tatbestand des § 29 Satz 1
SGB VIII treffe auf den Hilfeempfänger zu, denn dieser habe sich auf Grund seiner
Hörbehinderung ausgegrenzt gefühlt und hierauf mit Aggressivität reagiert. Durch die
soziale Gruppenarbeit habe er lernen sollen, sich in Gruppen zu bewegen und sein
Verhalten gegenüber anderen anzupassen und zu steuern. Seine Eltern hätten wegen
Erziehungsproblemen offenbar Unterstützung bei der Erziehungsarbeit benötigt. Die
durchgeführte Maßnahme habe hingegen zu keiner Milderung der Behinderung führen
können.
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Der Kläger beantragt sinngemäß,
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die Beklagte zu verurteilen, ihm 329,94 EUR als Kosten seiner Hilfeleistung im Juni
2009 für den Hilfeempfänger F. L. zu erstatten.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie meint, Eingliederungshilfe - für deren Bewilligung der Kläger zuständig sei - sei
auch dazu bestimmt, die Folgen einer Behinderung abzumildern oder die Akzeptanz der
Behinderung zu vermitteln. Das schließe die Möglichkeit einer Gruppentherapie ein.
Jedenfalls wäre eine etwaige Jugendhilfeverpflichtung nachrangig.
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Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch
den Berichterstatter einverstanden erklärt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte
und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beteiligten (je ein Heft) verwiesen.
17
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
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Mit Einverständnis der Beteiligten konnte die Kammer ohne mündliche Verhandlung
durch den Berichterstatter entscheiden (§§ 87 a Abs. 2 und 3, 101 Abs. 2 VwGO).
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Die als Leistungsklage statthafte und auch sonst zulässige Klage ist unbegründet. Dem
Kläger steht der geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch nicht zu.
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Nach § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX erstattet in den Fällen, in denen nach Bewilligung der
Leistung nach Abs. 1 Sätze 2 bis 4 der Norm festgestellt wird, dass ein anderer
Rehabilitationsträger - das wäre hier die Beklagte (§ 6 Abs. 1 Nr. 6 SGB IX) - für die
Leistung zuständig ist, dieser dem Rehabilitationsträger, der die Leistung erbracht hat -
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hier der Kläger (§ 6 Abs. 1 Nr. 7 SGB IX) -, dessen Aufwendungen nach den für diesen
geltenden Rechtsvorschriften. Im vorliegenden Fall kann aber nicht festgestellt werden,
dass die Beklagte als örtliche Trägerin der Jugendhilfe für die dem Hilfeempfänger vom
Kläger erbrachte Leistung zuständig war.
Der Hilfeantrag wurde gestellt, weil "auf Grund" der "schweren Hörbehinderung" des
Hilfeempfängers "gravierende Probleme im Umgang mit anderen Menschen außerhalb
der Familie" bestünden, "auch in der Schule", und war gerichtet auf "Einzelbetreuung
durch Fachpersonen, die sich mit Gehörlosen auskennen". Bewilligt wurde vom Kläger
daraufhin eine bis zu zwölfstündige Teilnahme des Hilfeempfängers an "sozialer
Gruppenarbeit", die das im Hilfeantrag vorgeschlagene Hörgeschädigten- und
Gehörlosenzentrum des Diakonischen Werks im Kirchenkreis N. auf telefonische
Nachfrage hin als Hilfemaßnahme angeboten hatte.
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Ob diese Hilfemaßnahme überhaupt dem ausdrücklich auf Einzelbetreuung gerichteten
Hilfeantrag gerecht wurde, ist bereits fraglich; eine entsprechend geänderte
Willensbildung der Eltern des Hilfeempfängers vor der Hilfebewilligung ist in keinem der
beiden Verwaltungsvorgänge dokumentiert und wird auch von keinem der Beteiligten
behauptet. Sollte die bewilligte Maßnahme nicht von einem entsprechenden -
gegebenenfalls auch formlosen - Antrag oder mindestens dem Einverständnis der
Personensorgeberechtigten (Eltern) des Hilfeempfängers gedeckt gewesen sein, wäre
die Maßnahme rechtswidrig gewesen und die Klage schon deshalb abzuweisen;
Kostenerstattung kann nur für eine rechtmäßige Hilfemaßnahme verlangt werden. Es ist
ein allgemeiner Grundsatz, dass ein erstattungspflichtiger Leistungsträger nicht mehr zu
erstatten hat, als er dem Berechtigten (Hilfeempfänger) gegenüber zu leisten gehabt
hätte.
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Vgl. Roos, in: von Wulffen, SGB X, Komm., 6. Aufl. 2008, vor § 102 Rdnr. 6.
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Eine Jugendhilfemaßnahme kann - abgesehen von den Fällen einer Inobhutnahme
nach § 42 SGB VIII und anders als familiengerichtliche Maßnahmen nach § 1666 BGB -
nur dann rechtmäßig erbracht werden, wenn sie von einem entsprechenden Antrag oder
wenigstens dem erkennbaren Willen, gegebenenfalls auch einem nachträglichen
Einverständnis des Berechtigten gedeckt ist.
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Vgl. OVG NRW, Urteil vom 6.6.2008 - 12 A 144/06 -, FamRZ 2008, 2314 = www.nrwe.de
= juris, m.w.N., und Beschluss vom 26.8.2009 - 12 A 65/09 -, www.nrwe.de = juris.
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Sollte mindestens das Einverständnis der Eltern des Hilfeempfängers mit der
durchgeführten Maßnahme vorliegen, wäre das Kostenerstattungsverlangen des
Klägers gleichwohl deshalb unbegründet, weil es sich bei dieser Maßnahme für den
Hilfeempfänger nicht, jedenfalls nicht vorrangig, um eine solche der Jugendhilfe,
insbesondere nicht, zumindest nicht in erster Linie, um soziale Gruppenarbeit i.S.d. § 29
SGB VIII (eine andere gesetzliche Grundlage des SGB VIII ist von vornherein nicht
ersichtlich), sondern um eine sozialhilferechtliche Maßnahme der Eingliederungshilfe
für einen behinderten Menschen gemäß § 53 SGB XII i.V.m. § 55 SGB IX, eventuell
weiter i.V.m. § 57 oder § 58 SGB IX, gehandelt hat.
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Nach § 29 Satz 1 SGB VIII soll die Teilnahme an sozialer Gruppenarbeit älteren Kindern
und Jugendlichen bei der Überwindung von Entwicklungsschwierigkeiten und
Verhaltensproblemen helfen. Gemäß Satz 2 der Norm soll soziale Gruppenarbeit auf der
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Grundlage eines gruppenpädagogischen Konzepts die Entwicklung älterer Kinder und
Jugendlicher durch soziales Lernen in der Gruppe fördern. Generelles Ziel der
sozialpädagogischen Gruppenangebote ist die Verbesserung der sozialen
Handlungskompetenz; es sollen alternative Handlungsstrategien vermittelt werden, um
den Jugendlichen zu verbesserter sozialer Kompetenz, größerer Konfliktfähigkeit,
Frustrationstoleranz und mehr Selbstbewusstsein zu verhelfen.
Vgl. Wiesner, SGB VIII, Komm., 3. Aufl. 2006, § 29 Rdnr. 6.
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Bedeutsam für das Verständnis des § 29 SGB VIII ist, dass der Gesetzgeber mit der
sozialen Gruppenarbeit ein pädagogisches Angebot zur Verfügung stellen wollte, das
sowohl als Familien unterstützende und ergänzende Hilfe zur Erziehung als auch als
Weisung nach § 10 Abs. 1 Nr. 6 JGG, d.h. als Reaktion auf eine Straftat und Maßnahme
wegen schädlicher Neigungen an Stelle von Dauerarrest und Jugendstrafe, eingesetzt
werden kann.
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Vgl. Wiesner, a.a.O., § 29 Rdnrn. 9, 10 und 16.
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Hieraus wird deutlich, dass soziale Gruppenarbeit i.S.d. § 29 SGB VIII generell ein
festgestelltes soziales Fehlverhalten des jungen Menschen therapieren soll.
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Die Hilfe, die für den Hilfeempfänger beantragt worden war, hatte zwar auch eine
Verbesserung seines Sozialverhaltens gegenüber den Mitmenschen außerhalb seiner
Familie - in der Schule, aber auch sonst ("Probleme im Umgang mit anderen Menschen,
auch in der Schule") - zum Ziel. Das Hilfebegehren war jedoch bei sachgerechtem
Verständnis des Hilfeantrags unter Berücksichtigung seiner im Schreiben der Beklagten
vom 20.5.2009 im Einzelnen geschilderten besonderen Schwierigkeiten in erster Linie
darauf gerichtet, seine durch seine schwere Hörschädigung veranlassten
Kommunikationsprobleme im Umgang mit seinen Mitmenschen zu mildern mit Hilfe von
"Fachpersonen, die sich mit Gehörlosen auskennen". Dies war auch das vorrangige Ziel
der Hilfemaßnahme, die das Hörgeschädigten- und Gehörlosenzentrum in N. ihm
überhaupt nur anbieten konnte. Denn die Arbeit des Hörgeschädigten- und
Gehörlosenzentrums in N. besteht nach der von der Beklagten eingeholten Information
normalerweise in der Sprachförderung, der Wortschatzerweiterung, dem Nacharbeiten
der Schularbeiten sowie im Unternehmen lebenspraktischer Dinge im Freizeitbereich;
es geht um "Kommunikation schlechthin". Diese Information steht im Einklang mit den
im Internet abrufbaren Angaben zur Hörbehindertenhilfe des Diakonischen Werkes N.
(www.dwminden.de "Hörbehindertenhilfe"), nach denen gehörlosen und
hörgeschädigten Menschen dort allgemeine Beratung, Begleitung, Dolmetscherdienste,
Sprachkurse, Arbeitsvermittlung in Zusammenarbeit mit dem Integrationsfachdienst
(IFD), Kommunikationsforen, Begegnungsmöglichkeiten, Freizeiten und viele weitere
Hilfen angeboten werden; im Rahmen der Eingliederungshilfe wird auch ambulant
betreutes Wohnen angeboten; hörgeschädigte Kinder und Kinder gehörloser Eltern
finden Betreuung durch vom Jugend- und/oder Sozialamt finanzierte flexible
pädagogische Hilfen. Unter "www.hoerbehindertenhilfe.de" werden in Übereinstimmung
mit dieser Zielsetzung die Angebote der Beratungsstelle (Dolmetschervermittlung, Hilfe
bei der Erledigung des persönlichen Schriftverkehrs, Schuldnerberatung, Begleitung bei
Behördenangelegenheiten sowie Krankenhaus- und Arztbesuchen), pädagogische
Hilfen für gehörlose Kinder und Jugendliche oder Kinder gehörloser Eltern
(Sprachförderung, Hausaufgabenhilfe, Freizeiten) und ambulant betreutes Wohnen als
die Tätigkeitsfelder der Hörbehindertenhilfe in N. benannt. Aus alledem wird deutlich,
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dass die Hörbehindertenhilfe des Diakonischen Werks N. zumindest in erster Linie
spezifische hörbehinderungsbedingte Nachteile ausgleichen bzw. mildern will, während
die Befähigung Hörbehinderter zu einem "normalen" Sozialverhalten gegenüber ihren
Mitmenschen allenfalls im Hintergrund der angebotenen Hilfen steht.
Die Teilnahme des Hilfeempfängers an einer "sozialen Gruppenarbeit" der
Hörbehindertenhilfe in N. diente somit - ungeachtet der Bezeichnung dieser Arbeit und
der Überschrift "Pädagogische Hilfen" über dem vorgelegten Stundennachweis - vor
allem einem Ziel der Behindertenhilfe gemäß § 53 (i.V.m. § 54 Abs. 1 Satz 1 am Anfang)
SGB XII, nämlich entweder dem Erwerb praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten, die
erforderlich und geeignet sind, behinderten Menschen die für sie erreichbare Teilnahme
am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen (§ 55 Abs. 2 Nr. 3 SGB IX), oder der
Förderung der Verständigung mit der Umwelt (§ 55 Abs. 2 Nr. 4 i.V.m. § 57 SGB IX) oder
der Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben (§ 55 Abs. 2 Nr. 7 i.V.m. § 58
SGB IX) bzw. einem vergleichbaren Hilfeziel des § 55 SGB IX - die Aufzählung
möglicher Hilfeleistungen in § 55 Abs. 2 SGB IX ist ausweislich des Wortes
"insbesondere" nicht abschließend -, und fiel damit in die Zuständigkeit des Klägers als
Träger der Sozialhilfe (§ 3 Abs. 2 Satz 1 SGB XII).
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Im Ergebnis würde nicht anderes gelten, wenn die dem Hilfeempfänger vom Kläger
bewilligte und von der N1. Hörbehindertenhilfe geleistete Hilfe in gleichem Maße
sowohl den Aufgaben der Jugendhilfe als auch denen der Sozialhilfe (als
Eingliederungshilfe für Behinderte) zugerechnet werden könnte. Denn wenn ein echtes
Konkurrenzverhältnis zwischen Jugend- und Sozialhilfe in der Weise vorliegt, dass
sowohl ein Anspruch auf Jugendhilfe als auch ein Anspruch auf Sozialhilfe besteht und
beide Leistungen gleich, gleichartig, einander entsprechend, kongruent, einander
überschneidend oder deckungsgleich sind, so gehen gemäß § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB
VIII Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII für junge Menschen, die
körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind,
Leistungen nach dem SGB VIII vor.
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 23.9.1999 - 5 C 26.98 -, BVerwGE 109, 325 = FEVS 51, 337 =
NDV-RD 2000, 65 = ZfJ 2000, 191 = NJW 2000, 2688 = DVBl. 2000, 1208, zum früheren
§ 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII.
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Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 1, Satz 2 Halbs. 2 VwGO
(Erstattungsstreitverfahren zwischen Sozialleistungsträgern), die Anordnungen zur
vorläufigen Vollstreckbarkeit beruhen auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. den §§ 708 Nr. 11,
711 Satz 1 ZPO.
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