Urteil des VG Minden vom 13.01.2005

VG Minden: afghanistan, politische verfolgung, bundesamt für migration, rotes kreuz, anerkennung, auskunft, usbekistan, wahrscheinlichkeit, ausreise, asylverfahren

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Verwaltungsgericht Minden, 9 K 5560/03.A
13.01.2005
Verwaltungsgericht Minden
9. Kammer
Urteil
9 K 5560/03.A
Das Verfahren wird eingestellt, soweit der Kläger hinsichtlich einer
Anerkennung als Asylberechtigter die Klage zurückgenommen hat und
soweit die Beteiligten es nach Aufhebung der Ausreiseaufforderung und
Abschiebungsandrohung übereinstimmend für in der Hauptsache erledigt
erklärt haben.
Der Bescheid des Bundesamtes vom 24.07.2003 wird hinsichtlich der
Ziffern 1 und 2 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass hinsichtlich des Klägers
die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen.
Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden,
tragen der Kläger und die Beklagte je zur Hälfte.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige
Vollstreckungsschuldner kann eine Vollstreckung durch Sicherheits-
leistung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht
der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor einer Vollstreckung Sicherheit
in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand:
Der 1966 geborene Kläger ist nach eigenen Angaben afghanischer Staatsangehöriger
paschtunischer Volkszugehörigkeit und christlich-orthodoxen Glaubens. Nach seiner
Einreise in die Bundesrepublik Deutschland beantragte er erstmals am 09.02.1995 beim
Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, jetzt Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge (Bundesamt) die Gewährung politischen Asyls.
Zur Begründung gab der Kläger im Verfahren vor dem Bundesamt damals im Wesentlichen
an, er sei in Afghanistan Mitglied der DVPA gewesen und habe im Rang eines Kapitäns
dem Geheimdienst Khad angehört. Dort sei er als Bodyguard von Nadjibullah eingesetzt
gewesen. Nachdem Nadjibullah nach seinem Sturz im UNO-Gebäude in Kabul Schutz
gesucht habe, sei zweimal versucht worden, seine Ausreise nach Indien durchzusetzen.
Bei dem zweiten Versuch im Dezember 1992 sei er - der Kläger - festgenommen und in das
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Pol-e-Charki-Gefängnis gebracht worden. Nach zehn Monaten sei ihm im August 1993 die
Flucht gelungen. Er sei dann sofort nach Mazar-i-Sharif gegangen. Nachdem er sich einen
Pass und ein Visum für Usbekistan beschafft habe, sei er im Dezember 1993 ausgereist. Im
Februar 1994 sei er zum christlichen Glauben übergetreten und habe sich in Taschkent
taufen lassen. Am 10.03.1994 habe er seine Frau, eine Usbekin, geheiratet. Nach Ablauf
seines Visums sei sein Aufenthalt in Usbekistan illegal gewesen. Auch seiner Frau sei es
nicht gelungen, ihm ein Aufenthaltsrecht zu sichern. Am 15.08.1994 sei er verhaftet und
zwangsweise nach Afghanistan gebracht worden. Da er in Mazar-i-Sharif nicht habe
bleiben können, sei er mit seiner Frau nach Kabul gegangen. Dort hätten früher seine
Eltern gelebt. Da diese jedoch bereits ausgereist gewesen seien, seien sie zu einer
Cousine seiner Mutter nach Khair Khana gegangen. Der Aufenthalt dort sei immer
unerträglicher geworden. Seine Frau habe sich ständig verstecken müssen, um nicht als
Russin erkannt zu werden. Sie habe Angst vor Raketenangriffen gehabt und sei zudem
schwanger geworden. Nach drei Monaten seien sei am 15.10.1994 mit Hilfe eines
Schleppers nach Pakistan gereist. Sie hätten jedoch auch dort nicht bleiben können, da die
Fundamentalisten in Pakistan großen Einfluss gehabt hätten und seine Frau große Angst
gehabt habe. Am 07.02.1995 seien sie über einen ihm unbekannten Flughafen in die
Bundesrepublik Deutschland eingereist. Als Christ habe er keine Möglichkeit, nach
Afghanistan zurückzukehren.
Das Bundesamt lehnte mit Bescheid vom 22.09.1995 eine Anerkennung des Klägers als
Asylberechtigten ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG und
Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorlägen.
Auf die gegen den Bescheid erhobene Klage verpflichtete das Verwaltungsgericht Minden
die Beklagte mit Urteil vom 01.08.1996 - 9 K 4568/95.A - unter Abweisung der Klage im
übrigen, für den Kläger das Vorliegen der Voraussetzungen eines
Abschiebungshindernisses gemäß § 53 Abs. 6 AuslG festzustellen. Am 06.11.1996 erteilte
das Bundesamt einen entsprechenden Bescheid.
Am 28.09.2001 stellte der Kläger einen weiteren Asylantrag, zu dessen Begründung er sein
früheres Vorbringen vertiefte und ergänzend darauf hinwies, dass er unter dem
bestehenden Regime der Taliban nicht nach Afghanistan zurückkehren könne, da er
wegen seiner früheren Tätigkeit und seinem Übertritt zum Christentum als Verräter am
Islam mit einer Verfolgung und sogar mit der Todesstrafe rechnen müsse. Eine Ausreise
nach Usbekistan sei ihm nicht möglich, da für ihn wegen seiner Abschiebung im Jahre
1994 ein Einreiseverbot gelte.
Das Bundesamt lehnte mit Bescheid vom 24.07.2003 die Durchführung eines weiteren
Asylverfahrens mit der Begründung ab, dass keine Wiederaufgreifensgründe vorlägen,
insbesondere habe sich die Sachlage nicht nachträglich zugunsten des Asylbegehrens des
Klägers geändert. Auch eine Abänderung der Feststellungen zu § 53 Abs. 1 bis 4 AuslG
wurde abgelehnt. Der Kläger wurde unter Androhung der Abschiebung nach Afghanistan
zur Ausreise innerhalb einer Woche aufgefordert.
Gegen den am 23.08.2003 zugestellten Bescheid hat der Kläger am 25.08.2003 die
vorliegende Klage erhoben und einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes
gestellt (9 L 954/03.A). Auf den Hinweis, dass der Kläger im Besitz einer
Aufenthaltsbefugnis ist, hat das Bundesamt mit Bescheid vom 08.08.2003 die
Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung aufgehoben. Das
Aussetzungsverfahren ist daraufhin mit Beschluss vom 01.10.2003 eingestellt worden. Im
Klageverfahren sind hinsichtlich der Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung
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übereinstimmende Erledigungserklärungen abgegeben worden. In der mündlichen
Verhandlung hat der Kläger die Klage zurückgenommen, soweit sie auf eine Anerkennung
als Asylberechtigter gerichtet war. Zur Begründung seiner im Übrigen aufrecht erhaltenen
Klage vertieft der Kläger sein bisheriges Vorbringen.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom
24.07.2003 zu verpflichten festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1
AufenthG, hilfsweise des § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG vorliegen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie bezieht sich auf die Begründung des angefochtenen Bescheides.
Hinsichtlich der von dem Kläger in der mündlichen Verhandlung gemachten Angaben wird
auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im
Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakten des vorliegenden Verfahrens und der
Verfahren 9 K 4568/95.A und 9 L 954/03.A, der Verwaltungsvorgänge der Beklagten sowie
die der Kammer vorliegenden und den Beteiligten zugänglich gemachten Auskünfte,
Stellungnahmen und Presseberichte zur Lage in Afghanistan Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Das Verfahren ist gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -
einzustellen, soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung seine Klage hinsichtlich
einer Anerkennung als Asylberechtigter gemäß Art. 16 a des Grundgesetzes - GG -
zurückgenommen hat und soweit die Beteiligten es bereits zuvor nach Aufhebung der
Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung übereinstimmend für in der
Hauptsache erledigt erklärt haben.
Soweit die Klage aufrecht erhalten wurde, ist sie zulässig und begründet.
Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 24.07.2003 ist - soweit er noch
Gegenstand der Klage ist - rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113
Abs. 5 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -). Der Kläger hat einen Anspruch auf die
Feststellung, dass für ihn die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes -
AufenthG - vorliegen. Der Bescheid ist auch aufzuheben, soweit das Nichtbestehen von
Abschiebungshindernissen festgestellt wurde.
Entgegen der in dem angefochtenen Bescheid vertretenen Ansicht ist nach Stellung des
Folgeantrags durch den Kläger gemäß § 71 Abs. 1 des Asylverfahrensgesetzes - AsylVfG -
ein weiteres Asylverfahren durchzuführen, da sich die Sach- und Rechtslage nachträglich
gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes - VwVfG - zugunsten des
Asylbegehrens des Klägers geändert hat. Die Entwicklung der innenpolitischen
Verhältnisse nach Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung im ersten Asylverfahren,
insbesondere die Übernahme der Herrschaft durch die Taliban und ihre spätere
Entmachtung sowie die zwischenzeitlich erfolgte Bildung einer Übergangsregierung haben
zu einer asylrechtlich erheblichen Änderung der Situation geführt. Hinzu kommt, dass sich
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auch die Rechtslage durch das Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes zum 01.01.2005
nachträglich zugunsten des Klägers geändert hat und nunmehr ein Anspruch auf die
Feststellung besteht, dass für ihn die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG
vorliegen.
Nach dieser Vorschrift, die die bisherige Regelung des § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes
- AuslG - ersetzt, darf ein Ausländer in Anwendung des Abkommens vom 28.07.1951 über
die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) nicht in einen Staat abgeschoben
werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion,
Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder
wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dabei kann nach § 60 Abs. 1 Satz 3
AufenthG - anders als nach § 51 Abs. 1 AuslG - die Verfolgung ausgehen von dem Staat
(Buchstabe a), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des
Staatsgebiets beherrschen (Buchstabe b), oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die
unter den Buchstaben a und b genannten Akteure einschließlich internationaler
Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor
Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche
Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine innerstaatliche
Fluchtalternative.
Die Voraussetzungen dieser Norm sind deckungsgleich mit denjenigen des Asylanspruchs
aus Art. 16 a Abs. 1 GG, soweit das geschützte Rechtsgut und der politische Charakter der
Verfolgung betroffen sind.
Vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 18.02.1992 - 9 C 59.91 -, NVwZ 1992, 892;
Urteil vom 03.11.1992 - 9 C 21.92 -, BVerwGE 91, 150 (beide noch bezogen auf § 51 Abs.
1 AuslG).
Im Hinblick darauf geht die Kammer auch im Rahmen des hier streitigen
Abschiebungsschutzbegehrens zunächst von denjenigen Grundsätzen aus, die für die
Auslegung des Art. 16 a Abs. 1 GG gelten.
Eine Verfolgung ist dann eine politische, wenn sie dem Einzelnen in Anknüpfung an seine
politische Überzeugung, seine religiöse Grundentscheidung oder an für ihn unverfügbare
Merkmale, die sein Anderssein prägen, gezielt Rechtsverletzungen zufügt, die ihn ihrer
Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit
ausgrenzen.
Vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 10.07.1989 - 2 BvR 502, 1000, 961/86 -,
BVerfGE 80, 315.
In Anlehnung an das durch den Zufluchtgedanken geprägte normative Leitbild des
Asylgrundrechts gelten für die Beurteilung, ob ein Asylsuchender politisch Verfolgter ist,
unterschiedliche Maßstäbe je nachdem, ob er seinen Heimatstaat auf der Flucht vor
eingetretener oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen hat oder ob er
unverfolgt in die Bundesrepublik Deutschland gekommen ist. Im erstgenannten Fall ist
Abschiebungsschutz zu gewähren, wenn der Ausländer vor erneuter Verfolgung nicht
hinreichend sicher sein kann (sog. herabgestufter Prognosemaßstab der hinreichenden
Sicherheit vor Verfolgung). Hat der Ausländer sein Heimatland jedoch unverfolgt verlassen,
so kann sein Begehren nur Erfolg haben, wenn ihm aufgrund von beachtlichen
Nachfluchttatbeständen politische Verfolgung droht (sog. gewöhnlicher Prognosemaßstab
der beachtlichen Wahrscheinlichkeit).
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Vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 02.07.1980 - 1 BvR 147, 181, 182/80 -,
BVerfGE 54, 341; Beschluss vom 10.07.1989 - 2 BvR 502, 1000, 961/86 -, BVerfGE 80,
315.
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Verfolgungsgefahr ist nach § 77 Abs. 1 Satz
1 AsylVfG der der letzten mündlichen Verhandlung bzw. - bei einer Entscheidung ohne
mündliche Verhandlung - der Zeitpunkt, in dem die Entscheidung gefällt wird.
Für die Entscheidung kann offen bleiben, ob der Kläger bei seiner Ausreise unter dem
Druck politischer Verfolgung aus Afghanistan geflüchtet ist. Denn auch wenn dies nicht der
Fall war, ist in Anwendung des sog. gewöhnlichen Prognosemaßstabs festzustellen, dass
dem Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine
asylrechtlich relevante Verfolgung droht.
Nach den der Kammer vorliegenden Erkenntnissen gehen von der Regierung Karzai
derzeit zwar regelmäßig keine politischen Verfolgungsmaßnahmen mehr für die unter dem
Regime der Taliban gefährdeten Bevölkerungsgruppen, insbesondere die ethnischen und
religiösen Minderheiten aus, auch wenn traditionell bestehende Spannungen zwischen
Angehörigen verschiedener Ethnien lokal in unterschiedlicher Intensität fortbestehen. Auch
Personen, die der DVPA, dem Geheimdienst Khad oder den kommunistischen Streitkräften
nicht in herausgehobenen Positionen angehört haben, droht derzeit keine politische
Verfolgung durch die Regierung Karzai (vgl. zur Gefährdung ehemaliger Kommunisten:
Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 03.11.2004, S. 18; Dr. Bernt Glatzer, Gutachten
vom 01.01.2005 für VG Minden; Deutsches Orient-Institut (Uwe Brocks), Gutachten vom
23.09.2004 für Sächsisches OVG; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 17.02.2004 an
Sächsisches OVG; Dr. Mostafa Danesch, Gutachten vom 17.12.2003 für VG Frankfurt
(Oder); Auswärtiges Amt, Auskunft vom 12.12.2003 an VG Hamburg; Österreichisches
Rotes Kreuz, Reisebericht Afghanistan, September 2003; UNHCR, Stellungnahme zur
Frage der Flüchtlingseigenschaft afghanischer Asylsuchender vom 23.04.2003; Munir D.
Ahmed, Gutachten vom 24.11.2002 für VG Bayreuth; UNHCR, Auskunft vom 04.11.2002 an
Caritas Österreich; Danesch, Gutachten vom 31.10.2002 für VG Bayreuth; Danesch,
Gutachten vom 09.10.2002 für VG Wiesbaden; Glatzer, Gutachten vom 26.08.2002 für VG
Schleswig; Country Report by the Netherlands on the Situation in Afghanistan vom 19.
August 2002, S. 45; Danesch, Gutachten vom 05.08.2002 für VG Schleswig).
Der Frage, ob der Kläger wegen der von ihm geltend gemachten Tätigkeit als Offizier im
Geheimdienst Khad und als Bodyguard des früheren Staatspräsidenten Najibullah zu dem
noch gefährdeten Personenkreis gehört, braucht nicht weiter nachgegangen zu werden, da
er schon aus anderen Gründen die Voraussetzungen für die Feststellung eines
Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG erfüllt.
Eine asylrechtlich relevante Verfolgung droht dem Kläger bereits mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit wegen seines Übertritts vom moslemischen zum christlichen Glauben.
Der Kläger hat bereits in seinem ersten Asylverfahren vorgetragen, dass er sich im Jahre
1994 in Usbekistan zum christlichen Glauben bekannt hat. Mit seinen schriftlichen
Ausführungen im Folgeantragsverfahren und den ergänzenden Angaben in der mündlichen
Verhandlung sowie den vorgelegten Auszügen aus dem Geburten- und Taufregister der
serbisch- orthodoxen Kirchengemeinde Hl. Basilius von Ostrog zu Bielefeld vom
16.12.1998 und der Stellungnahme der Evangeliums Christengemeinde Herford vom
06.08.1998 hat der Kläger zur Überzeugung des Gerichts nachgewiesen, dass seine
Konversion auf einem ernst gemeinten religiösen Einstellungswandel beruht und nicht
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lediglich im Hinblick auf das anhängige Asylverfahren erfolgt ist.
Bereits unter der Herrschaft der Taliban mussten Konvertiten zum Christentum mit der
Todesstrafe rechen, wenngleich Fälle der Verhängung der Todesstrafe der deutschen
Botschaft in Islamabad nicht bekannt geworden sind (Bericht der Deutschen Botschaft
Islamabad vom 12.07.2001 - juris -). Es ist auch derzeit nicht erkennbar, dass sich die
Einstellung staatlicher Stellen gegenüber Konvertiten unter der Übergangsregierung
Karzais in erheblicher Weise geändert hat. Die am 26.01.2004 in Kraft getretene neue
Verfassung Afghanistans enthält in Artikel 3 einen Islamvorbehalt (vgl. Lagebericht des
Auswärtigen Amtes vom 03.11.2004) und Hamid Karzai selbst hat Afghanistan als
islamisches Land bezeichnet (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 02.12.2002). In
der islamischen Rechtslehre besteht Einverständnis darüber, dass der Abfall vom Glauben
ein todeswürdiges Verbrechen ist (vgl. Danesch, Gutachten vom 13.05.2004 für VG
Braunschweig; s.a. Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 03.01.2002 (betreffend
Ägypten) für das VG Schwerin - juris -). Dies wird auch in Afghanistan so gesehen (vgl.
UNHCR vom 23.10.2003 a.a.O., Abschnitt II (vi); European Commission, Country Report by
the Netherlands on the Situation in Afghanistan (19.08.2002), S. 38). Die Bedeutung des
islamischen Rechts im afghanischen Staatswesen wird auch dadurch unterstrichen, dass
die Scharia in Kabul praktiziert wird (vgl. Danesch, Gutachten vom 21.05.2003 für VG
Braunschweig, S. 5; vom 18.02.2003 für VG Gießen, S. 5 und vom 29.01.2003 für VG
Wiesbaden, S. 7). Selbst wenn noch unklar ist, wie sich die Scharia weiter auf die
afghanische Justiz auswirken wird (vgl. Danesch, Gutachten vom 29.01.2003 a.a.O., S. 8;
Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan - die aktuelle Situation, Updates vom
03.03.2003 und 01.03.2004) ist davon auszugehen, dass Konvertiten staatlicherseits
bedroht sind. Dies zeigt sich u.a. an der Einrichtung religiös motivierter staatlicher Stellen
und der Besetzung staatlicher Posten.
Mitte August 2002 wurde eine bei dem Obersten Gerichtshof angesiedelte und mit
staatsanwaltlichen Befugnissen ausgestattete spezielle Abteilung zur "Bekämpfung des
Lasters", die unter den Taliban als Sittenpolizei fungierte, eingerichtet, deren wesentliche
Funktion in der Vermittlung afghanischer Werte bestehen soll (vgl. Lageberichtes des
Auswärtigen Amtes vom 02.12.2002 und 03.11.2004; Danesch vom 29.01.2003 a.a.O., S.
7). Im Religionsministerium wurde zudem eine Abteilung zur "Überwachung der Einhaltung
religiöser Vorschriften" gegründet, die eine Unterabteilung "Erkennen von Unglauben"
umfasst (vgl. Lageberichtes des Auswärtigen Amtes vom 02.12.2002 und 03.11.2004).
Weiter sind die islamischen Richter wieder eingesetzt und der ehemalige Mujaheddin-
Kommandant Abdul Rasul Sayyaf, bei dem es sich um einen streng fundmentalistischen
wahabitischen Geistlichen handelt, ist in Kabul erneut zu großem Einfluss gelangt (vgl.
Danesch, Gutachten vom 13.05.2004 und 29.01.2003 a.a.O.). Überdies treten der
Vizepräsident des Obersten Gerichts, Fazl Ahmad Manawi, und der Oberste Richter
Afghanistans, Maulawi Fazl Shinwari, für radikal- islamische Verhaltensweisen ein (vgl.
Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 03.03.2003 a.a.O., S. 11). Der im Juni 2002 von
Karzai entgegen der geltenden Verfassung ernannte 80-jährige Shinwari besitzt keine
Ausbildung in säkularem Recht und hat in der Hauptstadt ein Rechtssystem etabliert, in
dem nach islamischen Recht geurteilt wird (vgl. Danesch, Gutachten vom 21.05.2003
a.a.O., S. 5; Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 03.03.2003 a.a.O., S. 11). Im Juni 2003
hatte er angekündigt, Verfahren gegen zwei der Gotteslästerung beschuldigte Journalisten,
die nur nach internationalen Protesten auf Anordnung Hamid Karzais freikamen, nach
islamischen Recht zu führen (vgl. dpa, Meldung vom 03.07.2003, Meldungsnummer
dpa0613 -). Überdies hat Manawi im Rahmen einer öffentlichen Stellungnahme lediglich
erklärt, dass es drakonische Strafen wie Steinigung und Amputationen nicht geben solle
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(vgl. Lageberichte des Auswärtigen Amtes vom 02.12.2002 und 03.11.2004).
Selbst Afghanen, die für christliche Nichtregierungsorganisationen arbeiten, müssen darauf
achten, nicht den Verdacht auf sich zu lenken, mit dem christlichen Glauben zu
sympathisieren (vgl. European Commission, Report on fact-finding mission to Kabul and
Masar-i-Sharif, Afghanistan an Islamabad, Pakistan (22.09. - 05.10.2002), Source:
Denmark, S. 52 -).
Nach Auskunft des Auswärtigen Amtes (Lagebericht vom 03.11.2004, S. 20) ist zur
tatsächlichen Situation von Konvertiten in Afghanistan kaum etwas bekannt, da diese ihr
Bekenntnis meist geheim halten. Im Fall eines Kommandanten, der sich, wie auch seine
Frau, offen zum Christentum bekennt, ist es zu offenen Bedrohungen durch seine eigene
Familie und Vertreter der konservativen Geistlichkeit gekommen.
Insgesamt betrachtet besteht daher für den Kläger bei einer Rückkehr und einem Bekannt
werden seiner Konversion in Afghanistan eine erhebliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass er
wegen des Abfalls vom islamischen Glauben Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt wäre,
die der Übergangsregierung zuzurechnen wären oder gegen die er jedenfalls keinen
Schutz durch diese erhalten würde.
Die Beklagte ist daher unter Aufhebung der entgegenstehenden Feststellungen im
angefochtenen Bescheid zu verpflichten, hinsichtlich des Klägers das Vorliegen der
Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG festzustellen. Auch Ziffer 2 des Bescheides ist
aufzuheben, da sich das Bundesamt wegen der unrichtigen Entscheidung zu § 51 Abs. 1
AuslG zu Unrecht verpflichtet sah, eine Feststellung zu § 53 AuslG zu treffen und daher das
durch § 31 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AsylVfG eingeräumte Ermessen, von dieser Feststellung
abzusehen, nicht ausgeübt hat.
Von einer Entscheidung über das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2
bis 7 AufenthG wird gemäß § 31 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 AsylVfG abgesehen, da eine solche
Feststellung nach der Systematik des Asylverfahrensgesetzes bei einer positiven
Entscheidung zu § 60 Abs. 1 AufenthG entbehrlich ist und der entsprechende Antrag nur für
den Fall eines Unterliegens im Übrigen gestellt worden ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 und 2 VwGO, § 161 Abs. 2 VwGO i.V.m. §
83 b Abs. 1 AsylVfG. Die Entscheidungen über die vorläufige Vollstreckbarkeit und die
Abwendungsbefugnis beruhen auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 und § 711 ZPO.