Urteil des VG Minden vom 23.09.2003

VG Minden: grobe fahrlässigkeit, werkstatt, die post, rücknahme, unverzüglich, sozialhilfe, verwaltungsakt, auskunft, besuch, unterlassen

Verwaltungsgericht Minden, 6 K 3237/03
Datum:
23.09.2003
Gericht:
Verwaltungsgericht Minden
Spruchkörper:
6. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
6 K 3237/03
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens, für das keine Gerichtskosten
erhoben werden.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die
Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des
Vollstreckungsbetrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der
Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Tatbestand:
1
Die Beteiligten streiten um die Rückforderung von Sozialhilfe für den Zeitraum vom
01.09.1994 bis zum 14.08.2000 i.H.v. 31.829,05 EUR.
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Der am 1939 geborene Kläger leidet an Schwachsinn vom Grade leichter Debilität mit
psychischer Verlangsamung und Sprachhemmung. Er ist zu 100% schwerbehindert.
Betreuerin des Klägers ist seit dem 21.05.1985 Frau J. H. , in deren Haus der Kläger ein
Wohnrecht besitzt.
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Nachdem der Kläger von September 1984 bis Februar 1985 im Arbeitstrainingsbereich
der Werkstatt für Behinderte in C. gearbeitet hatte, beantragte Frau H. für ihn am
28.02.1985 Eingliederungshilfe nach den §§ 39 ff. BSHG für einen Dauerarbeitsplatz in
der Werkstatt für Behinderte. In dem Sozialhilfeantrag wurde angegeben, dass der
Kläger eine Ausbildungsbeihilfe i.H.v. 90 DM monatlich und eine
Erwerbsunfähigkeitsrente i.H.v. 477,53 DM monatlich von der LVA Westfalen erhielt und
damals Sparguthaben im Gesamtwert von 27.912,73 DM sowie zwei
Lebensversicherungen besaß, eine mit einer Versicherungssumme von 21.000 DM, die
im Jahr 2002 fällig werden sollte, und eine weitere Lebensversicherung mit Anspruch
auf eine Zusatzrente i.H.v. monatlich 100 DM frühestens ab 1998. Am Ende des
Sozialhilfeantrages, vor der Unterschriftszeile, finden sich folgende Hinweise: "Es ist mir
bekannt, daß ich (...) zu Unrecht erhaltene Leistungen erstatten muß. Ich bin verpflichtet,
unverzüglich und unaufgefordert Änderungen in den Verhältnissen mitzuteilen, die für
die Leistung erheblich sind, insbesondere in den Einkommens-, Vermögens-, Familien-
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und Aufenthaltsverhältnissen (...)."
Der Beklagte bewilligte mit Bescheiden vom 05.06.1985 und vom 16.05.1986, die an
Frau H. adressiert waren, dem Kläger Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 40
Abs. 2 BSHG ab dem 01.03.1985 durch die Übernahme der Kosten, die durch die
Beschäftigung in der Werkstatt für Behinderte der Lebenshilfe Detmold entstanden, bzw.
ab dem 01.01.1986 durch die Übernahme der Kosten, die durch die Beschäftigung in
der Werkstatt für Behinderte, Dörentrup-C. , entstanden, sowie jeweils durch die
Übernahme der Fahrtkosten zwischen Wohnung und Werkstatt. Der Beklagte wies in
diesen Bescheiden darauf hin, dass Änderungen der persönlichen und wirtschaftlichen
Verhältnisse während der Dauer der Hilfe unverzüglich mitgeteilt werden müssten.
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Nachdem die LVA Westfalen dem Beklagten mit Schreiben vom 20.03.2000 mitgeteilt
hatte, dass der Kläger ab dem 01.02.2000 eine Altersrente für Schwerbehinderte,
Berufsunfähige oder Erwerbsunfähige i.H.v. monatlich 856,71 DM erhielt, bat der
Beklagte den Kläger mit Schreiben vom 22.05.2000, Auskunft über seine Einkommens-
und Vermögensverhältnisse zu geben, um zu prüfen, ob die Zahlung eines
Kostenbeitrages von ihm verlangt werden könne.
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Frau H. füllte das vom Beklagten übersandte Formular zu den Einkommens- und
Vermögensverhältnissen am 26.05.2000 aus und verwies hinsichtlich des Vermögens
auf anliegende Kopien von Sparkassenzertifikaten und einem Sparbuch. Demzufolge
verfügte der Kläger über ein Sparkassenzertifikat i.H.v. 25.000 DM (08.11.1999 bis
08.11.2000), ein weiteres über 100.000 DM (11.01.2000 bis 11.01.2003) und über ein
Sparguthaben von 12.186,72 DM. Aus einem Formular über die Verwaltung des
Vermögens für den betreuten Kläger ergibt sich, dass er am 22.12.1999 Vermögen im
Wert von 135.735,95 DM besaß.
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Daraufhin stellte der Beklagte mit Bescheid vom 03.08.2000 die Bewilligung der
Sozialhilfe zum 15.08.2000 ein, weil der Kläger über genügend eigenes Vermögen
verfüge, das er zunächst für seinen Bedarf einsetzen müsse. Er führte aus, dass der
Vermögensfreibetrag bei 49.500 DM liege, während der Kläger insgesamt 137.186,72
DM besitze. Der Beklagte forderte den Kläger auf, mitzuteilen bzw. nachzuweisen, wann
seine Eltern verstorben seien und woher die einzelnen Überweisungen auf das
Sparbuch kämen.
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Nachdem Frau H. dem Beklagten telefonisch mitgeteilt hatte, dass sich alle Unterlagen
zu den Vermögensverhältnissen beim Amtsgericht (AG) C. befänden, bat der Beklagte
das AG C. mit Schreiben vom 11.01.2001 um Mithilfe bei der Aufklärung der
Vermögensverhältnisse des Klägers.
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Der Beklagte bat Frau H. unter dem 11.01.2001, Kopien weiterer Konten zu übersenden,
und teilte mit, dass er prüfe, ob Sozialhilfe ab 1993 zurückgefordert werden könne.
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Das AG C. übersandte seine Akte an den Beklagten, dessen Abteilung 62 -
Gesundheitswesen - sie am 23.01.2001 erhielt. Nach zweimaliger Aufforderung durch
das AG C. , zuletzt mit Schreiben vom 10.04.2001, eingegangen bei der Poststelle der
Abteilung 62 des Beklagten am 11.04.2001 um 11,56 Uhr, sandte der Beklagte die Akte
mit Schreiben vom 18.04.2001 wieder zurück, nachdem er Teile davon kopiert hatte.
Wegen der Einzelheiten der Rechnungen über die Verwaltung des Vermögens in den
Jahren 1992 bis 1999 wird auf Blatt 100 bis 137 des Verwaltungsvorganges des
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Beklagten verwiesen.
Frau H. beantragte am 08.07.2001 für den Kläger erneut die Gewährung von
Eingliederungshilfe beim Beklagten.
12
Der Beklagte vermerkte am 05.12.2001, dass der Vater des Klägers am 13.01.1993
verstorben und vom Kläger beerbt worden sei. Seitdem habe der Kläger immer über
mehr als 120.000 DM verfügt. Vor der Änderung des § 88 Abs. 3 BSHG zum 01.09.1994
sei der Betrag von 120.000 DM als Schonvermögen bei der Beschäftigung in einer
Werkstatt für Behinderte angesehen worden. Seit dem 01.09.1994 gelte ein
Vermögensfreibetrag von 49.500 DM.
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Der Beklagte teilte Frau H. als Betreuerin des Klägers im Schreiben vom 05.12.2001
mit, dass der Kläger seit dem 01.09.1994 die damals geltende Vermögensfreigrenze
erheblich überschritten habe und er daher beabsichtige, erbrachte Leistungen
zurückzufordern. Ab dem 01.07.2001 sei die Hilfe zum Besuch einer Werkstatt für
Behinderte vermögensunabhängig zu gewähren. Er bat Frau H. , die Kosten für den
Besuch der Werkstatt für Behinderte für den Kläger bis zum 07.07.2001 zu begleichen
und dann den Stand des aktuellen Barvermögens mitzuteilen. Ab dem 08.07.2001
werde er die Kosten für den Besuch der Werkstatt für behinderte Menschen
übernehmen. Einen entsprechenden Bewilligungsbescheid erließ der Beklagte am
14.12.2001.
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Der Beklagte vermerkte am 14.12.2001, dass der Ehemann von Frau H. telefonisch
mitgeteilt habe, es sei nie bekannt gewesen, dass das Vermögen (Erbe) gemeldet
werden müsse. Das AG C. habe sie auch nie darauf hingewiesen.
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Der Prozessbevollmächtigte des Klägers legte in einem Schreiben vom 22.01.2002 dar,
welche Beträge der Kläger für seinen Besuch der Werkstatt für Behinderte seit August
2000 gezahlt habe (insgesamt 18.774,71 DM) und wie hoch das Barvermögen jetzt sei
(insgesamt 130.526,93 DM).
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Der Beklagte forderte Frau H. mit Bescheid vom 09.04.2002, zugestellt am 12.04.2002,
auf, für den Zeitraum vom 01.09.1994 bis zum 14.08.2000 einen Betrag i.H.v. 31.829,05
EUR gemäß den §§ 45, 50 SGB X zurückzuzahlen. Er führte aus, dass der Kläger nach
seinen Angaben aktuell über ein Vermögen von 66.737,36 EUR verfüge; unter Abzug
der vom Kläger gezahlten Kosten der Werkstatt für Behinderte verblieben noch 57.138
EUR. Der Vermögensschonbetrag für den genannten Zeitraum habe bei 49.500 DM (=
25.308,95 EUR) gelegen. Unter Abzug des geschützten Vermögens ergebe sich nun ein
Restbetrag i.H.v. 31.829,05 EUR. Der Beklagte wies darauf hin, der Kläger sei in der
ersten Kostenzusage vom 05.06.1985 darauf hingewiesen worden, dass Änderungen in
den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen unverzüglich mitgeteilt werden
müssten. In der Zeit vom 01.01.1994 bis zum 14.08.2000 seien Gesamtkosten i.H.v.
54.417,17 EUR angefallen. Er fordere jedoch nur den jetzt noch die
Vermögensschongrenze übersteigenden Betrag zurück.
17
Gegen diesen Bescheid legte der Kläger am 25.04.2002 Widerspruch ein mit der
Begründung, seiner Betreuerin könne keine grobe Fahrlässigkeit vorgeworfen werden.
Der Bescheid des Beklagten vom 05.06.1985 liege ihr nicht vor und sie könne sich auch
nicht daran erinnern, ihn mit einem entsprechenden Hinweis erhalten zu haben. Sie
habe alle Einnahmen und Ausgaben sowie Änderungen immer dem AG C. mitgeteilt.
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Der Beklagte habe ihr erklärt, er werde beim AG C. Auskünfte über die
Vermögensverhältnisse des Klägers einholen. Er hätte schließlich gelegentlich bei ihr
nach Änderungen fragen bzw. sie darauf hinweisen müssen, dass Änderungen
mitzuteilen seien.
Der Beklagte wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom
06.01.2003, der am 27.01.2003 zugestellt wurde, zurück und führte im Einzelnen aus,
dass die Sozialhilfebewilligungen zu Recht nach § 45 SGB X zurückgenommen worden
seien. Der Betrag sei nach § 50 SGB X zu erstatten.
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Am 26.02.2003 hat der Kläger Klage erhoben. Ergänzend zu seinem bisherigen
Vorbringen trägt er vor, 1993 von seinem verstorbenen Vater ein Sparkassenzertifikat
über 100.000 DM geerbt zu haben. Seiner Betreuerin könne keine grobe Fahrlässigkeit
vorgeworfen werden. Denn 1985 habe sein Vater noch gelebt, der alle Papiere, die ihn
betroffen hätten, an sich genommen habe. Daher habe seine Betreuerin etwaige
Hinweise des Beklagten 1985 nicht erhalten. Seine Betreuerin habe gegenüber dem AG
C. sorgfältig und genau seine sämtlichen Vermögensverhältnisse offen gelegt. Sie sei
überzeugt gewesen, damit alles Erforderliche getan zu haben, und sei davon
ausgegangen, dass das AG C. den Beklagten informiere. Das Urteil des OVG NRW vom
25.01.1991 - 24 A 2672/88 -, mit dem das OVG die Praxis, das Vermögen von Hilfe
Suchenden, die in einer Werkstatt für behinderte Menschen arbeiten, ganz zu
verschonen, für rechtswidrig erklärt habe, sei seiner Betreuerin nicht bekannt gewesen.
Der Beklagte hätte sie darauf hinweisen müssen, wenn er sich darauf berufe.
20
Der Kläger beantragt,
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den Rücknahme- und Erstattungsbescheid des Beklagten vom 09.04.2002 in der Gestalt
seines Widerspruchsbescheides vom 06.01.2003 aufzuheben.
22
Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er beruft sich auf die Begründungen der angefochtenen Bescheide.
25
Das Gericht hat eine dienstliche Stellungnahme der damaligen Sachbearbeiterin des
Beklagten, Frau X. , zu den Fragen angefordert, wann diese erstmals die Akten des AG
C. durchgearbeitet habe und, sofern dies erst kurz vor der Rücksendung im April 2001
geschehen sei, warum dies nicht schon eher erfolgt sei, zumal die Akten im Januar 2001
übersandt worden seien. Der verantwortliche Referatsleiter des Beklagten, Herr I. , hat
dazu mit Schriftsatz vom 08.07.2003 Stellung genommen. Wegen des Inhalts der
Stellungnahme wird auf Blatt 27 der Gerichtsakte verwiesen. Die Sachbearbeiterin
selbst hat dazu in einem Schriftsatz vom 18.09.2003 erklärt, sich an die genauen
Geschehnisse im April 2001 nicht mehr erinnern zu können.
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Der Referatsleiter des Beklagten, Herr I. , hat am 17.09.2003 gegenüber dem Gericht
telefonisch erläutert, wie der Eingangsstempel des Beklagten auf dem zweiten
Mahnschreiben des AG C. vom 10.04.2001 zu verstehen ist, wer für die Anfertigung von
Fotokopien zuständig ist und wie der Botendienst in seiner Abteilung organisiert ist. Der
Inhalt des gerichtlichen Vermerks ist den Beteiligten in der mündlichen Verhandlung
bekannt gegeben worden.
27
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten
im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen
Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Klage ist als Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1 VwGO zulässig, aber unbegründet.
Der Bescheid des Beklagten vom 09.04.2002 in der Gestalt seines
Widerspruchsbescheides vom 06.01.2003 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht
in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).
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Dieser Bescheid enthält zwei selbstständige Regelungen im Sinne des § 31 S. 1 SGB
X. Zum einen werden die Bewilligungsbescheide des Beklagten über die Gewährung
von Hilfe zum Lebensunterhalt für die Zeit vom 01.09.1994 bis zum 14.08.2000 gemäß §
45 SGB X in Höhe von 31.829,05 EUR zurückgenommen. Dies ergibt sich zwar nicht
ausdrücklich aus dem Tenor des Bescheides, aber durch Auslegung. Dabei ist der vom
Empfängerhorizont her zu beurteilende objektive Erklärungswert der
Behördenentscheidung zu bestimmen.
31
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 28.09.2001 - 16 A 5644/99 -, FEVS 53, 310.
32
Im Ausgangsbescheid des Beklagten vom 09.04.2002 ist lediglich bestimmt, dass die
Betreuerin des Klägers die geforderte Summe nach den §§ 45, 50 SGB X überweisen
soll. Der Gesetzestext des § 45 Abs. 2 SGB X wird in der Begründung des Bescheides
knapp wiedergegeben. Im Widerspruchsbescheid vom 06.01.2003 werden die
Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 SGB X näher erläutert und geprüft, und im drittletzten
Absatz heißt es, dass die Sozialhilfebewilligungen zu Recht zurückgenommen worden
seien. Die Nennung des § 45 SGB X in beiden Bescheiden, wonach rechtswidrige
begünstigende Verwaltungsakte unter bestimmten Voraussetzungen zurückgenommen
werden dürfen, das Erwähnen der Rücknahme im Widerspruchsbescheid und die
Aufforderung, den zu Unrecht erhaltenen Betrag zurückzuzahlen, konnte die Betreuerin
des Klägers bei verständiger Würdigung des Gesamtzusammenhanges nur so
verstehen, dass der Beklagte seine Bewilligungsbescheide für den im Bescheid
genannten Zeitraum und in der Höhe des im Bescheid genannten Betrages
zurückgenommen hat.
33
Zum anderen wird im Bescheid des Beklagten vom 09.04.2002 vom Kläger die
Erstattung dieses Betrages gemäß § 50 Abs. 1 SGB X verlangt. Beide Regelungen -
Rücknahme und Erstattung - sind rechtmäßig.
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Rechtsgrundlage für die Rücknahmeentscheidung ist § 45 SGB X. Nach Absatz 1 dieser
Vorschrift darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil
begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), nur unter den
Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft
oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden, soweit er rechtswidrig ist, und
zwar auch nachdem er unanfechtbar geworden ist.
35
Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind im vorliegenden Fall erfüllt.
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Die Bewilligungsbescheide des Beklagten über die Gewährung von Eingliederungshilfe
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an den Kläger - begünstigende Verwaltungsakte - für die Zeit vom 01.09.1994 bis zum
14.08.2000 sind jedenfalls im Umfang von insgesamt 31.829,05 EUR rechtswidrig.
Denn der Kläger besaß im genannten Zeitraum Vermögen i.H.v. mindestens 130.000
DM. Dies ergibt sich aus den Rechnungen über die Verwaltung des Vermögens, die die
Betreuerin des Klägers jährlich beim Amtsgericht C. vorgelegt hat. Danach besaß der
Kläger am 04.10.1993 insgesamt 158.295,46 DM, am 28.10.1994 insgesamt 154.593,50
DM, am 12.10.1995 insgesamt 148.354,51 DM, am 31.10.1996 insgesamt 148.717,28
DM, am 30.10.1997 insgesamt 164.921,39 DM, am 28.12.1998 insgesamt 172.411,29
DM und am 21.12.1999 insgesamt 135.735,95 DM. Aus den Kopien des
Girokontoauszuges, des Sparbuches und eines Sparkassenzertifikates über 100.000
DM ergibt sich, dass der Kläger am 22.01.2002 immer noch über insgesamt mindestens
130.526,93 DM verfügte. Dieses Vermögen stand der Hilfegewährung an den Kläger für
die Beschäftigung in der Werkstatt für behinderte Menschen entgegen.
Nach § 28 Abs. 1 S. 1 BSHG wird Hilfe in besonderen Lebenslagen - wie im Fall des
Klägers - gewährt, soweit dem Hilfe Suchenden (...) die Aufbringung der Mittel aus dem
Einkommen und Vermögen nicht zuzumuten ist. Das Vermögen des Klägers war
verwertbar i.S.d. § 88 Abs. 1 BSHG. Zum Schonvermögen gehörten nach § 88 Abs. 2
Nr. 8 BSHG i.V.m. § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 b der Verordnung zu § 88 Abs. 2 Nr. 8 BSHG in
der bis zum 31.12.2001 geltenden Fassung 4.500 DM und nach § 88 Abs. 3 S. 3 BSHG
45.000 DM, insgesamt also 49.500 DM. Das diesen Betrag übersteigende Vermögen
(mindestens 80.000 DM) hätte der Kläger also für seinen Bedarf einsetzen müssen.
Anhaltspunkte dafür, dass dies für ihn eine unzumutbare Härte i.S.d. § 88 Abs. 3 S. 1
und 2 BSHG gewesen wäre, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
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Berücksichtigt man, dass das Vermögen des Klägers der Hilfegewährung Monat für
Monat entgegen stand, wie der Beklagte zu Recht in seinem Widerspruchsbescheid
ausgeführt hat,
39
vgl. BVerwG, Urteil vom 19.12.1997 - 5 C 7.96 -, FEVS 48, 145 (152 f.); OVG NRW,
Urteil vom 19.11.1993 - 8 A 278/92 -, FEVS 45, 58 (64); VGH Mannheim, Urteil vom
12.11.1997 - 6 S 1137/96 -, FEVS 48, 178 (186),
40
war die Gewährung der Sozialhilfe für den genannten Zeitraum in vollem Umfang
rechtswidrig. Denn wenn man jeden Monat isoliert betrachtet, hätte der Kläger genug
Vermögen gehabt, um die anfallenden Kosten in der Werkstatt für behinderte Menschen
(monatlich maximal 44,62 DM x 31 Tage = 1.383,22 DM zuzüglich der
Sozialversicherungsbeiträge) sowie die Fahrtkosten selbst zu zahlen.
41
Der Kläger kann sich nicht auf Vertrauensschutz nach § 45 Abs. 2 SGB X berufen. Nach
§ 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 SGB X kann sich der Begünstigte auf Vertrauen nicht berufen,
soweit der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder
grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat.
Das Unterlassen solcher Angaben steht dem gleich, wenn eine rechtliche Pflicht
bestand, diese Angaben zu machen.
42
Vgl. BVerwG, Urteil vom 19.12.1995 - 5 C 10.94 -, FEVS 47, 3 = BVerwGE 100, 199; VG
Minden, Urteil vom 24.04.2001 - 6 K 2189/00 -, m.w.N.
43
Die Betreuerin des Klägers hat es unterlassen, dem Beklagten wesentliche Änderungen
in den Vermögensverhältnissen des Klägers, nämlich die Erbschaft über mindestens
44
100.000 DM im Jahre 1993, mitzuteilen. Zu der Mitteilung war sie nach § 60 Abs. 1 Nr. 2
SGB I verpflichtet. Das Unterlassen war auch grob fahrlässig. Nach der Legaldefinition
in § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 3, 2. Halbsatz SGB X liegt grobe Fahrlässigkeit vor, wenn der
Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Grob
fahrlässig handelt, wer im gegebenen Fall unbeachtet lässt, was jedem hätte
einleuchten müssen. Dabei sind die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit sowie das
Einsichtsvermögen des Begünstigten und die besonderen Umstände des Einzelfalls zu
berücksichtigen.
Vgl. VG Minden, Urteile vom 28.06.1999 - 6 K 2707/98 -, m.w.N., und vom 09.04.2002 -
6 K 2872/00 -.
45
Die Betreuerin des Klägers, Frau H. , unterschrieb den am 28.02.1985 gestellten
Sozialhilfeantrag für den Kläger. Über der Unterschriftszeile findet sich eine Belehrung
darüber, dass der Hilfeempfänger verpflichtet ist, unverzüglich und unaufgefordert
Änderungen in den Verhältnissen mitzuteilen, die für die Leistung erheblich sind,
insbesondere in den Einkommens- und Vermögensverhältnissen. Da Frau H. dies
unterschrieben hat, hätte ihr klar sein und hätte sie sich auch noch Jahre später daran
erinnern müssen, dass sie die Erbschaft des Klägers und auch die in den folgenden
Jahren erzielten Zinsen beim Beklagten hätte angeben müssen, zumal allgemein
bekannt ist, dass Sozialhilfe nur gewährt wird, wenn man keine eigenen Mittel besitzt.
Gerade beim Erwerb eines so großen Vermögens hätte die Betreuerin des Klägers, die
in Behördenangelegenheiten nicht unerfahren war, jedenfalls nach einer - wenn auch
Jahre zurückliegenden - Belehrung auf die Idee kommen müssen, dass dies für den
Sozialhilfebezug des Klägers relevant sein könnte und mitzuteilen ist.
46
Vor diesem Hintergrund kommt es nicht darauf an, ob Frau H. die Bescheide des
Beklagten vom 05.06.1985 und vom 16.05.1986, die an sie adressiert sind und in denen
ebenfalls darauf hingewiesen wird, dass Änderungen in den wirtschaftlichen
Verhältnissen unverzüglich mitzuteilen sind, tatsächlich erhalten oder ob der Vater des
Klägers diese Bescheide sofort an sich genommen hat. Die Mitteilungspflicht der
Betreuerin des Klägers gegenüber dem Beklagten entfiel nicht dadurch, dass sie
gegenüber dem AG C. alle Einnahmen und Ausgaben sehr gewissenhaft angegeben
hat. Denn sie durfte ohne besondere Anhaltspunkte, die hier nicht gegeben waren, und
im Hinblick auf geltende Datenschutzbestimmungen nicht einfach davon ausgehen,
dass das AG C. den Beklagten über Einkommen und Vermögen des Klägers informierte.
47
Die Betreuerin des Klägers wird auch nicht dadurch entlastet, dass sich der Beklagte
nicht regelmäßig von sich aus das Einkommen und Vermögen des Klägers mitteilen
ließ. Denn er war dazu im Gegensatz zu ihr rechtlich nicht verpflichtet.
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Der Kläger muss sich nach den §§ 1902, 278 S. 1 BGB analog die grobe Fahrlässigkeit
seiner Betreuerin zurechnen lassen.
49
Vgl. VG Minden, Urteile vom 28.06.1999 - 6 K 2707/98 - und vom 09.09.2003 - 6 K
2633/02 -, m.w.N.
50
Die unterlassene Mitteilung der wesentlich geänderten Vermögensverhältnisse des
Klägers war ursächlich für die rechtswidrige Gewährung von Leistungen der
Eingliederungshilfe. Denn wenn die Betreuerin des Klägers die Angaben über das
Vermögen rechtzeitig gemacht hätte, hätte der Beklagte im genannten Zeitraum die
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Eingliederungshilfeleistungen für den Kläger so nicht bewilligt.
Der Beklagte hat auch die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 S. 2 SGB X eingehalten. Nach
dieser Vorschrift kann die Behörde einen Verwaltungsakt mit Wirkung für die
Vergangenheit nur innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen zurücknehmen,
welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die
Vergangenheit rechtfertigen. Die Behörde hat nach der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts, der sich das Gericht anschließt, dann Kenntnis von der
Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes, wenn "der nach der innerbehördlichen
Geschäftsverteilung zur Rücknahme des Verwaltungsakts berufene Amtswalter oder ein
sonst innerbehördlich zur rechtlichen Überprüfung des Verwaltungsakts berufener
Amtswalter die die Rücknahme des Verwaltungsakts rechtfertigenden Tatsachen
feststellt". Die Jahresfrist als Entscheidungsfrist beginnt dann zu laufen, "wenn die
Behörde ohne weitere Sachaufklärung objektiv in der Lage ist, unter sachgerechter
Ausübung ihres Ermessens über die Rücknahme des Verwaltungsakts zu entscheiden",
d.h. wenn die Tatsachen vollständig, uneingeschränkt und zweifelsfrei ermittelt sind.
52
Vgl. BVerwG, Urteile vom 24.01.2001 - 8 C 8.00 -, NJW 2001, 1440, vom 05.08.1996 - 5
C 6.95 -, FEVS 47, 385, und vom 19.12.1995 -, a.a.O., sowie Beschluss des Großen
Senats vom 19.12.1984 - BVerwG Gr. Sen. 1 und 2.84 -, BVerwGE 70, 357 (362 f., 364
f.) = NJW 1985, 819 = DVBl. 1985, 522; vgl. auch Hauck in: Hauck/Noftz, SGB X, Stand:
Aug. 2003, § 45 Rdnr. 32. A.A.: Wiesner in: von Wulffen, SGB X, 4. Aufl. 2001, § 45
Rdnr. 33; Rüfner in: Wannagat, SGB X, Stand: Mai 2002, § 45 Rdnr. 64 - 66: maßgeblich
sei die Aktenkundigkeit der Tatsache, nicht die positive Kenntnis des Sachbearbeiters.
53
Die Kenntnis von der Rechtswidrigkeit der Sozialhilfebewilligungen besaß die
zuständige Sachbearbeiterin des Beklagten, Frau X. , nach der Überzeugung des
Gerichts frühestens am 12.04.2001. Zwar hatte der Beklagte schon im Mai 2000
erfahren, dass der Kläger mindestens seit März 1993 über erhebliches Vermögen
verfügte. Dies allein reichte jedoch für eine Kenntnis i.S.d. § 45 Abs. 4 S. 2 SGB X nicht
aus, weil sich aus den damals vorliegenden Unterlagen nicht genau ergab, welches
Vermögen zu welchem Zeitpunkt vorhanden war. Im Januar 2001 erhielt der Beklagte -
ausweislich des Eingangsstempels des Beklagten dessen Abteilung
Gesundheitswesen - die Betreuungsakten des Amtsgerichts C. , in denen die
Vermögensverhältnisse des Klägers genau aufgeführt waren. Wann genau die Akten
des AG C. bearbeitet und Kopien daraus gefertigt wurden, die in der Regel der jeweilige
Sachbearbeiter selbst anfertigt, lässt sich nach Auskunft des zuständigen Referatsleiters
des Beklagten vom 08.07.2003 nicht mehr feststellen. Die damals zuständige
Sachbearbeiterin des Beklagten, Frau X. , hat dazu schriftlich erklärt, sich nicht mehr
erinnern zu können. Da das erste Anschreiben des AG C. sowie die beiden
Erinnerungsschreiben im Verwaltungsvorgang des Beklagten vor den Kopien aus der
Akte des AG C. abgeheftet sind, spricht viel dafür, dass die Kopien erst angefertigt
wurden, nachdem das AG C. zum zweiten Mal die Rücksendung der Akten angemahnt
hatte. Denn es ist nach allgemeiner Lebenserfahrung sehr unwahrscheinlich, dass Frau
X. die Akten des AG C. daraufhin durchsieht, was für sie relevant ist, die
entsprechenden Seiten kopiert und die Akte dann nicht gleich zurücksendet, obwohl sie
sie nicht mehr benötigt. Das zweite Erinnerungsschreiben des AG C. traf ausweislich
des Eingangsstempels des Beklagten dort am 11.04.2001 um 11.56 Uhr ein. Die
Abteilung ist nicht eingetragen. "VIII" auf dem Stempel bezeichnet nach Auskunft des
Referatsleiters, der dazu die Mitarbeiter in der Poststelle befragt hat, die Nummer des
Stempels der Abteilung 62, nicht die Abteilung selbst. Nach Auskunft des Referatsleiters
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wird die Post in der Abteilung 62 zweimal täglich verteilt, und zwar gegen 8.00 Uhr und
gegen 10.30/11.00 Uhr, jedenfalls nicht mehr nach 11.56 Uhr. Es sei auch völlig
unüblich, eine einzelne Akte gesondert vom Gebäude der Poststelle in das von dieser
getrennte Gebäude der zuständigen Abteilung hinüberzutragen. Das Gericht ist
aufgrund dieser geschilderten Arbeitsabläufe und weil es nach allgemeiner
Lebenserfahrung höchst unwahrscheinlich ist, dass Frau X. die Akten des AG C. vor
dem Eingang des zweiten Erinnerungsschreibens des AG C. vom 10.04.2001 bei ihr
bearbeitet hat, davon überzeugt, dass Frau X. das zweite Erinnerungsschreiben
frühestens am 12.04.2001 erhalten und die Akte des AG C. frühestens am 12.04.2001
auf die entscheidungserheblichen Tatsachen hin durchgesehen, d.h. Kenntnis von der
Rechtswidrigkeit der Sozialhilfebewilligungen erlangt hat. Das Gericht war nicht
gehalten, im Rahmen seiner Amtsermittlungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO weitere
Ermittlungen anzustellen und z.B. Zeugen zu vernehmen, weil dies nach den
vorliegenden Auskünften des Beklagten nicht erfolgversprechend gewesen wäre.
Da der Bescheid des Beklagten vom 09.04.2002 dem Kläger am 12.04.2002 zugestellt
worden ist, ist die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 S. 2 SGB X damit jedenfalls auch dann
noch gewahrt, wenn das Zustelldatum maßgebend sein sollte.
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Die gemäß § 45 Abs. 1 S. 1 SGB X vorgeschriebene und vom Beklagten in den
angefochtenen Bescheiden getroffene Ermessensentscheidung ist - gemessen an § 114
VwGO - rechtlich nicht zu beanstanden. Der Kläger hat weder im
Widerspruchsverfahren noch im Klageverfahren Gesichtspunkte vorgetragen, die es
rechtfertigen könnten, von der Rücknahme der zu Unrecht ergangenen
Sozialhilfebewilligungen in der Zeit vom 01.09.1994 bis zum 14.08.2000 abzusehen.
Insbesondere hat der Beklagte bei seiner Ermessensentscheidung darauf Rücksicht
genommen, welches einzusetzende Vermögen dem Kläger zum Zeitpunkt der
Rücknahmeentscheidung noch zur Verfügung stand, so dass der Kläger durch die
Rückzahlung nicht unzumutbar belastet wird.
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Rechtsgrundlage für den in dem angefochtenen Bescheid geltend gemachten
Erstattungsanspruch ist § 50 Abs. 1 SGB X. Danach sind erbrachte Leistungen zu
erstatten, soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben worden ist. Das trifft für die Zeit vom
01.09.1994 bis 14.08.2000 im Umfang von 31.829,05 EUR zu.
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Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 1, 188 S. 2 VwGO. Die
Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 2 VwGO
i.V.m. den §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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