Urteil des VG Mainz vom 27.10.2010

VG Mainz: grundstück, widmung, anbau, bebauungsplan, eigentümer, beitragspflicht, eigenschaft, wohnhaus, form, datum

VG
Mainz
27.10.2010
3 K 794/09.MZ
Erschließungsbeitragsrecht
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27. Oktober 2010, an der teilgenommen haben
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für Recht erkannt:>>
2009 wird aufgehoben.
Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten gegen Sicherheitsleistung in einer Kostenfestsetzung
entsprechenden Höhe vorläufig vollstreckbar.
T a t b e s t a n d
Der Kläger wendet sich gegen seine Heranziehung zu Erschließungsbeiträgen.
Er ist Eigentümer des in S. gelegenen Grundstücks H.-straße XX, Flur XX Nr. X. Das Grundstück grenzt mit
seiner südlichen Grundstücksgrenze an den P.-weg (Parzelle X/X). Dieser Teil des P.-weges war bereits
vor 1900 beidseitig bebaut und erschloss das Anwesen P.-weg X. Im Anschluss führte er als
Wirtschaftsweg in den Außenbereich. Zwischen den Beteiligten ist streitig, wann der auf der Parzelle X/X
befindliche Teil des P.-weges erstmalig als Erschließungsanlage hergestellt wurde.
Mit Bescheiden vom 7. Dezember 1983 wurden die damaligen Eigentümer der Grundstücke P.-weg X und
H.-straße XX zu Beiträgen für den Ausbau des P.-wegs herangezogen. Ob auch der damalige Eigentümer
des klägerischen Grundstücks zu Beiträgen für den Ausbau des P.-wegs herangezogen wurde, ist nicht
bekannt. Die Ausbaubeitragsbescheide wurden während des laufenden Gerichtsverfahrens durch
Bescheide der Beklagten vom 5. November 2009 zurückgenommen.
Am 9. November 1995 trat der Bebauungsplan „P.-weg“ der Beklagten in Kraft. Dieser setzt für das
westlich des klägerischen Grundstücks gelegene Gebiet ein allgemeines Wohngebiet fest, welches u.a.
über den P.-weg zur H.-straße hin erschlossen wird. Das Grundstück des Klägers liegt nicht im Plangebiet.
Am 17. Dezember 2008 beschloss der Gemeinderat der Beklagten die endgültige erstmalige Herstellung
und Widmung der Erschließungsanlage „P.-weg“ unter gleichzeitiger Bildung einer Erschließungseinheit
im Geltungsbereich des Bebauungsplans „P.-weg“ (Straßen „P.-weg“ und „Am R.“).
Die Beklagte zog den Kläger durch Erschließungsbeitragsbescheid vom 5. März 2009 zunächst zur
Zahlung von Erschließungsbeiträgen i.H. von 17.956,06 € heran. Diese Beiträge wurden durch
Änderungsbescheid vom 30. März 2009 auf 16.829,17 € reduziert.
Mit seinem am 18. März bzw. 7. April 2009 erhobenen Widerspruch trug der Kläger vor, sein Grundstück
unterliege nicht der Beitragspflicht. Sein Grundstück stehe nicht zur Bebauung an und liege auch nicht im
Geltungsbereich des Bebauungsplans „P.-weg“. Es handele sich für sein Grundstück auch nicht um eine
erstmalige Herstellung von Erschließungsanlagen. Der vordere Teil des P.-weges im Anschluss an die H.-
straße gehöre zum alten Ortskern von S., für den kein Bebauungsplan bestehe. Dementsprechend sei
eine Widmung erst im Jahr 2009 erfolgt. Allerdings habe der vordere Teil des P.-weges schon vor der
Erschließung des Neubaugebietes „P.-weg“ alle Merkmale der endgültigen Herstellung aufgewiesen.
Der Widerspruch des Klägers wurde durch Widerspruchsbescheid des Kreisrechtsausschusses A.-W. vom
30. Juli 2009 zurückgewiesen. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, bei den
durchgeführten Maßnahmen am P.-weg handele es sich um die erstmalige Herstellung einer öffentlichen
Verkehrsanlage. Denn unabhängig vom Ausbauzustand sei der vordere Teil des P.-weges nicht förmlich
gewidmet und damit keine öffentliche Straße gewesen. Er könne auch nicht als historische Straße
angesehen werden. Bei dem P.-weg habe es sich um einen Wirtschaftsweg gehandelt, der außer zu den
außerhalb des Ortes gelegenen landwirtschaftlich genutzten Parzellen nur als Wegeverbindung zu einem
hinter dem klägerischen Grundstück gelegenen Haus gedient habe. Allein die Tatsache, dass an dem
Weg ein einzelnes Haus gebaut worden sei, begründe nicht das Vorhandensein einer öffentlichen Straße.
Es sei weder erkennbar, welchen Ausbauzustand der P.-weg vor Inkrafttreten des Landesstraßengesetzes
gehabt habe, noch sei das Vorliegen eines förmlichen Willensaktes in der damaligen Zeit irgendwie
erkennbar. Das Grundstück des Klägers sei beitragspflichtig, denn es sei nach der Verkehrsauffassung
Bauland. Es liege zwar nicht in einem Gebiet, für das eine bauliche Nutzung durch Bebauungsplan
festgelegt sei, könne aber durch seine Lage im unbeplanten Innenbereich baulich genutzt werden.
Insoweit sei unbeachtlich, ob über die vorhandene Bebauung hinaus eine bauliche Nutzung möglich sei.
Nach Zustellung des Widerspruchsbescheides am 1. August 2009 hat der Kläger am 21. August 2009
Klage erhoben.
Er trägt unter Vertiefung seines bisherigen Vorbringens ergänzend vor: Sein Grundstück unterliege nicht
der Beitragspflicht. Der aus dem Bebauungsplan „P.-weg“ ausgeklammerte Teil des P.-weges sei bereits
am 30. Juni 1961 eine funktionsfähige Erschließungsanlage gewesen und habe den landesrechtlichen
Anforderungen an eine gemeindliche Straße genügt. Sie habe einen festen Asphaltbelag und
Einrichtungen der Straßenentwässerung aufgewiesen. Die Herstellung sei auf gemeindlichen
Grundflächen erfolgt und habe kommunalen Vorstellungen von einer öffentlichen Straße entsprochen. Sie
habe der Erschließung angrenzender Grundstücke, insbesondere des Grundstücks P.-weg X, gedient. Ihr
Ausbauzustand habe in vollem Umfang der Ausbauqualität anderer alter Ortsstraßen in S. entsprochen.
Vor Inkrafttreten des Landesstraßengesetzes Rheinland-Pfalz sei die Herstellung einer
Erschließungsanlage nicht von einem förmlichen Widmungsakt abhängig gewesen. Nach dem bis 1963
geltenden hessischen Recht sei eine Widmung nicht erforderlich gewesen. Vielmehr reiche es aus, dass
die betreffende Verkehrsanlage den seinerseits in der betreffenden Gemeinde geltenden Anforderungen
an eine fertige Ortsstraße entsprochen habe und mit dem Willen der Gemeinde dem inneren Anbau und
innerörtlichen Verkehr zu dienen bestimmt gewesen sei. Dies sei der Fall. So ergebe sich aus einem
Lageplan aus dem Jahr 1895 unmissverständlich die Straßenflucht der H.-straße, des P.-weges und der
W.-straße. Der dort festgehaltene Straßenverlauf bestehe auch noch heute. Der östliche Teil des P.-weges
habe auch von jedermann als öffentliche Verkehrsfläche uneingeschränkt genutzt werden können und sei
nicht auf die Erschließung landwirtschaftlicher Grundstücke beschränkt gewesen. Er habe bereits 1948
uneingeschränkt dem öffentlichen Verkehr gedient. Daher werde seine Eigenschaft als öffentliche Straße
gemäß § 54 Abs. 2 LStrG gesetzlich vermutet. Dass die Beklagte davon ausgegangen sei, der östliche Teil
des P.-weges sei eine „Altstraße“, ergebe sich nicht zuletzt daraus, dass sie 1983 Anlieger dieses Teils zu
Ausbaubeiträgen veranlagt habe. Hinzu komme, dass die Beklagte in der Vergangenheit gegen die
Anlieger des P.-weges mit Ausnahme der Eigentümer der bebauten Grundstücke wiederkehrende
Wegebaubeiträge festgesetzt habe. Darüber hinaus rügt der Kläger die Ermittlung des beitragsfähigen
Aufwandes und dessen Verteilung auf Fahrbahn und Gehweg sowie die Bildung einer
Erschließungseinheit und die Einbeziehung des außerhalb des Plangebietes belegenen Teils des P.-
wegs in diese.
Der Kläger beantragt,
den Erschließungsbeitragsbescheid der Beklagten vom 30. März 2009 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides des Kreisrechtsausschusses A.-W. vom 30. Juli 2009 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie trägt vor: Vor der Widmung im Januar 2009 habe es sich bei dem östlichen Teil des P.-weges nicht um
eine öffentliche Straße gehandelt. Bereits vor Inkrafttreten des Landesstraßengesetzes habe die
Eigenschaft einer öffentlichen Straße eines staatlichen Willensaktes bedurft. Ein Nachweis könne nur
durch das Urkataster oder andere amtliche Dokumente geführt werden. Dem genüge der Lageplan aus
dem Jahr 1895 nicht. Es sei auch keine Widmung kraft unvordenklicher Verjährung eingetreten. Darüber
hinaus habe der östliche Teil des Wirtschaftsweges nicht den Anforderungen an den Ausbauzustand von
Ortsstraßen genügt. Auch aus den Ausbaubeitragsbescheiden aus dem Jahr 1983 könne nichts anderes
geschlossen werden, denn diese seien unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangen. Eine
zwischenzeitliche Nachprüfung habe ergeben, dass die Voraussetzungen für die Erhebung von
Ausbaubeiträgen nicht vorgelegen hätten, da der östliche Teil des P.-weges nicht den Anforderungen
einer erstmalig hergestellten Straße entsprochen habe. § 54 Abs. 2 LStrG stelle lediglich eine
widerlegliche Vermutung dafür auf, dass eine Straße, die am 31. März 1948 dem öffentlichen Verkehr
gedient habe, nach bisherigem Recht eine öffentliche Straße gewesen sei. Es sei auch nichts dafür
ersichtlich, dass der P.-weg nach dem Willen der Beklagten dem örtlichen Verkehr zu dienen bestimmt
gewesen sei. Die Behauptung, der P.-weg habe aus einem Straßenteil und einem Wirtschaftsweg
bestanden, sei durch nichts belegt. Die Erhebung von Erschließungsbeiträgen für das klägerische
Grundstück genüge den Anforderungen des § 125 Abs. 2 BauGB. Ferner sei auch die Ermittlung des
beitragsfähigen Aufwandes nicht zu beanstanden. Dies gelte auch für die Bestimmung der
Erschließungseinheit.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen W. B., J. G. H. und J. G.. Wegen des
Beweisthemas wird auf den Beweisbeschluss vom 27. Oktober 2010, wegen des Ergebnisses der
Beweisaufnahme auf die Sitzungsniederschrift vom 27. Oktober 2010 Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Beteiligten in
den Gerichtsakten verwiesen. Die Kammer hat die Verwaltungsvorgänge der Beklagten (3 Ordner) und
die Widerspruchsakten des Kreisrechtsausschusses (1 Heftung), die das Umlegungsverfahren „P.-weg“
betreffenden Verwaltungsakten (1 Heftung), die Bebauungsplanakten zum Bebauungsplan „P.-weg“ der
Beklagten (3 Ordner), die Verwaltungsvorgänge betreffend die Entwässerungsplanung des Baugebiets
„P.-weg“ (2 Kladden), den Entwässerungsplan der Beklagten aus dem Jahr 1974 (1 Heftung) sowie die
Verwaltungsvorgänge betreffend die Dorfkanalisation in S. (4 Kartons) beigezogen. Sämtliche Unterlagen
waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
Die zulässige Klage hat auch in der Sache Erfolg. Der Erschließungsbeitragsbescheid der Beklagten vom
30. März 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Juli 2009 ist rechtswidrig und verletzt den
Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Grundstück des Klägers unterliegt bereits
nicht der Erschließungsbeitragspflicht, weil es sich bei dem Teil des P.-weges, an den es angrenzt und
durch den es erschlossen wird, um eine sogenannte „historische Straße“ handelt, die bereits vor dem 30.
Juni 1961 erstmalig hergestellt war.
Rechtsgrundlage für die erhobenen Erschließungsbeiträge sind die §§ 127 ff. des Baugesetzbuchs –
BauGB – i.V. mit der Satzung zur Erhebung von Erschließungsbeiträgen (Erschließungsbeitragssatzung)
der Ortsgemeinde S. vom 25. Juni 2008. Nach diesen Vorschriften erhebt die Gemeinde
Erschließungsbeiträge für die erstmalige Herstellung von Erschließungsanlagen einschließlich der
Einrichtungen für ihre Entwässerung und ihre Beleuchtung (§ 128 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BauGB). Die
Erhebung von Erschließungsbeiträgen ist jedoch nach § 242 Abs. 1 BauGB ausgeschlossen, wenn die in
Rede stehende Erschließungsanlage bereits vor dem 30. Juni 1961 endgültig hergestellt war und nach
den bis zu diesem Datum geltenden Vorschriften eine Beitragspflicht nicht entstehen konnte. Dies ist
vorliegend der Fall, denn nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist davon auszugehen, dass der
östliche Teil des P.-wegs – jedenfalls von der Einmündung in die H.-straße bis etwa auf Höhe des
Anwesens P.-weg 1 (Parzelle X/X) – vor dem 30. Juni 1961 als Ortsstraße endgültig hergestellt war.
Dieser stellt als sogenannte „historische Straße“ erschließungsbeitragsrechtlich eine selbständige
Erschließungsanlage dar (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Oktober 1984 – 8 C 41.83 –, BRS 43 Nr. 140),
obgleich er bei natürlicher Betrachtungsweise mit dem im Zuge der Verwirklichung des Baugebietes „P.-
weg“ hergestellten Teil des P.-weges als Einheit erscheint.
Maßgebend dafür, ob der auf der Parzelle X/X befindliche Teil des P.-weges am 30. Juni 1961 bereits als
Ortsstraße vorhanden, also fertiggestellt war, ist das bis zu diesem Zeitpunkt für den Bereich der Beklagten
geltende Landes- und Ortsrecht (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. August 1976 – 4 C 23.74 –, Buchholz 406.11
§ 132 BBauG Nr. 21; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 16. Dezember 1974 – 6 A 59/73 –, [m.w.N.]). Da –
wie zwischen den Beteiligten unstreitig ist – ein gemeindliches Ortsrecht der Beklagten vor dem 30. Juni
1961 nicht bestand, sind insoweit die Vorschriften des bis zum Inkrafttreten des Landesstraßengesetzes
– LStrG – am 1. April 1963 geltenden Gesetzes „über das Straßenwesen in Hessen“ vom 15. Juli 1926 –
HessStrG 1926 – (RegBl. 1926, 261) bzw. die Vorschriften der hessischen Bauordnung (Gesetz, die
allgemeine Bauordnung betreffend – HessBauO 1881 –) vom 30. April 1881 (RegBl. 1881, Nr. 13 vom
27. Mai 1881) in den Blick zu nehmen, die am vorgenannten Stichtag in Rheinhessen galten. War der
östliche Teil des P.-weges nach diesen Bestimmungen eine vorhandene Ortsstraße, dann ist er auch eine
bereits hergestellte Straße i.S. von § 242 Abs. 1 BauGB. Auch wenn die vorgenannten Vorschriften eine
dem § 15 preußisches Fluchtliniengesetz (vgl. den Text bei VG Sigmaringen, Urteil vom 23. September
2008 – 3 K 563/06 –, juris [Rdnr. 26]) entsprechende „Definition“ einer vorhandenen Straße nicht
enthalten, so lässt sich ihnen jedoch mit der gebotenen Deutlichkeit entnehmen, dass eine Ortsstraße
dann als vorhanden anzusehen ist, wenn ihr Ausbauzustand vor Inkrafttreten des Bundesbaugesetzes
den in Art. 19 Abs. 3 HessBauO 1881 genannten Anforderungen unter Berücksichtigung der örtlichen
Gegebenheiten genügt hat und mit dem Willen der Gemeinde wegen ihres hinreichenden
Ausbauzustandes dem innerörtlichen Anbau (Art. 20 Satz 2 HessBauO 1881) und öffentlichen Verkehr
(Art. 19 Abs. 1 HessBauO 1881, Art. 30 Abs. 1 Satz 2 HessStrG 1926) zu dienen bestimmt war und gedient
hat (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 16. Januar 2001 – 6 A 10518/00.OVG –, AS 29, 13, 17).
Entgegen der Auffassung der Beklagten muss der gemeindliche Ausbauwille nicht durch einen einer
Widmung nach § 36 LStrG entsprechenden staatlichen Willensakt zum Ausdruck kommen. Denn anders
als in den bis 1815 französischen und danach preußischen Teilen des Landes Rheinland-Pfalz, in denen
es bis zum Inkrafttreten des Landesstraßengesetzes aufgrund des fortgeltenden französischen Rechts
eines einer Widmung vergleichbaren staatlichen Willensaktes bedurfte, um die öffentlich-rechtliche
Zweckbindung einer Wegefläche zu begründen (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteile vom 13. April 1961 – 1
A 1/59 –, AS 8, 241, 246, und vom 22. August 2000 – 6 A 12237/99.OVG –), kennt das in Rheinhessen
geltende hessische Straßenrecht ein solches, die Eigenschaft einer öffentlichen Straße begründendes
konstitutives Element weder für die Provinzialstraßen noch für Ortsstraßen. Es genügt daher, dass der
Ausbauwille der Gemeinde in irgendeiner Form erkennbar geworden ist. Ob und gegebenenfalls wann
eine Straße zum planmäßigen Anbau bestimmt und freigegeben worden ist und damit den Charakter einer
Ortsstraße und damit Erschließungsanlage im heutigen Sinne erhalten hat, ist bei Fehlen entsprechender
Pläne und Beschlüsse der zuständigen Gemeindeorgane anhand sonstiger Indizien zu ermitteln (vgl.
OVG Rheinland-Pfalz, Urteile vom 13. März 1997 – 1 A 10663/96.OVG – und vom 16. Januar 2001 –
a.a.O. S. 17). Dies können sein Lage und Verlauf der Straße, zeitliche Abfolge und Intensität der
Bebauung, aber auch der Umstand, dass die Verkehrsanlage dem innerörtlichen Verkehr tatsächlich zur
Verfügung gestellt wurde.
Ausgehend von diesen Voraussetzungen hat die Beweisaufnahme i.V. mit weiteren Indizien ergeben,
dass der östliche, auf der Parzelle X/X befindliche Teil des P.-weges bereits am 30. Juni 1961 als zum
Anbau bestimmte öffentliche Verkehrsanlage hergestellt und dem Ausbauzustand der übrigen Ortsstraßen
in S. entsprochen hat.
Zunächst geht die Kammer davon aus, dass der östliche Teil des P.-weges vor dem 30. Juni 1961 einen
Ausbauzustand hatte, der dem der anderen Ortsstraßen in S. vergleichbar war und überdies in den
Grundzügen den Anforderungen entsprochen hat, die zur damaligen Zeit in rechtlicher Hinsicht (vgl. Art.
19 Abs. 3 HessBauO 1881) an den Ausbauzustand einer Ortsstraße gestellt wurden. Insoweit hat die
Vernehmung der Zeugen B. und H. ergeben, dass die Straßen in S. – auch der in Rede stehende Teil des
P.-weges – spätestens Anfang der 1950er Jahre geteert wurden und seither auch eine
Straßenentwässerung in Form einer Pflasterrinne vorhanden war. Die sich insoweit deckenden Aussagen
der beiden Zeugen haben die Kammer von ihrem Wahrheitsgehalt überzeugt. Daran ändert nichts der
Umstand, dass der Zeuge B. angab, der östliche Teil des P.-weges sei bereits bei seiner Rückkehr aus
dem Krieg geteert gewesen, während der Zeuge H. ausführte, die Straßen in S. seien (erst) 1952/53
geteert worden. Denn selbst wenn man insoweit der Aussage des Zeugen H. folgt, die aufgrund
geschilderter eigener Erlebnisse im Zusammenhang mit dem Teeren der Straßen im Ort besonders
plastisch war (z.B. Fahren des Wasserfasses bei den Straßenarbeiten), ist jedenfalls von einem im
Wesentlichen den Anforderungen des Art. 19 Abs. 3 HessBauO 1881 genügenden, ortsüblichen
Ausbauzustand der Ortstraßen in S. und damit auch des östlichen Teils des P.-weges deutlich vor 1961
auszugehen.
Zur Überzeugung der Kammer steht auch fest, dass der östliche Teil des P.-weges bereits am 30. Juni
1961 nicht nur als Wirtschaftsweg, sondern mit Willen der Beklagten auch als Anbaustraße dem
öffentlichen Verkehr gedient hat.
Für die Beurteilung des östlichen Teils des P.-weges als Anbaustraße spricht zunächst der Umstand, dass
er zumindest seit dem Ende des 19. Jahrhunderts im Innenbereich von S. lag. Dies ergibt sich aus dem
vom Kläger vorgelegten „Lageplan zum Baugesuch des Herrn V. H. in S.“ aus dem März 1895 (vgl. Bl. 34
der Gerichtsakten), der Baulinien enthält und verdeutlicht, dass die entlang der Parzelle X/X verlaufende
Bebauung seit über 100 Jahren im Wesentlichen in Gestalt der heutigen Bebauung besteht. Dies gilt
insbesondere für das Grundstück P.-weg X (Parzelle Flur XX Nr. X), welches bereits 1895 mit einem
Wohnhaus bebaut und nur über den P.-weg erreichbar war.
Für eine Qualifizierung des östlichen Teils des P.-weges als zum Anbau bestimmte öffentliche Straße
spricht ferner, dass sich dieser insoweit nicht von den anderen in den Außenbereich führenden Straßen in
S. unterschieden hat. Insoweit ist nämlich davon auszugehen, dass eine Asphaltierung dieser Straßen nur
insoweit erfolgt ist, als an diese auch Häuser gebaut waren. Dies ergibt sich aus der Aussage des Zeugen
B.. Dieser hat angegeben, dass der vordere Teil des P.-weges (jedenfalls auch) deshalb geteert gewesen
sei, weil dort ein Wohnhaus gestanden habe. Eine vergleichbare Situation habe es auch in der W.-straße
gegeben, in der er zwischen 1949 und 1952 selbst ein Grundstück erworben habe. Diese sei im vorderen
Bereich – und zwar zunächst nur auf der Straßenseite, an der Häuser gestanden hätten – geteert und mit
einer Pflasterrinne versehen gewesen und habe im weiteren Verlauf unbefestigt in die Felder geführt.
Diesen in sich stimmigen und glaubhaften Angaben des Zeugen B. stehen auch nicht die Ausführungen
des Zeugen H. entgegen. Dessen Angabe, es könne bei den Teerarbeiten im Ort so gewesen sein, dass
überflüssiger Teer in den Nebenstraßen verteilt worden sei, vermag die Angaben des Zeugen B. nicht in
Zweifel zu ziehen, weil er insoweit nach eigenem Bekunden lediglich Vermutungen angestellt hat. Auch
wenn sich der Zeuge B. nicht mehr daran erinnern konnte, ob es über den P.-weg und die W.-straße
hinaus vergleichbare Situationen dieser Art in S. gegeben hat, spricht jedenfalls die Vergleichbarkeit
dieser beiden nah beieinanderliegenden Verkehrsanlagen dafür, dass ihr Ausbau mit Teerdecke und
Pflasterrinne (nur) im Bereich der vorhandenen (Wohn-)Bebauung dem Zweck diente, die dort
vorhandenen Häuser zu erschließen, auch wenn sie sich als Wirtschaftswege in den Außenbereich
fortsetzten und in ihren vorderen Teilen zwangsläufig auch von landwirtschaftlichem Verkehr in Anspruch
genommen wurden. Insoweit sind auch keinerlei Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass diese Straßen nur
einem eingeschränkten Personenkreis zur Nutzung vorbehalten bleiben sollten, so dass in der
Gesamtschau der einzelnen Indizien alles darauf hindeutet, dass der östliche, auf der Parzelle X/X
belegene Teil des P.-weges spätestens mit seinem Ausbau 1952/53 dem innerörtlichen Anbau und
öffentlichen Verkehr zu dienen bestimmt war und gedient hat. Hierfür spricht schließlich auch der
Umstand, dass die Beklagte selbst in der Vergangenheit Anlieger an dem östlichen Teil des P.-weges zu
Ausbaubeiträgen nach dem Kommunalabgabengesetz (KAG) herangezogen hat, was
begriffsnotwendigeweise seit je her vorausgesetzt hat, dass es sich bei der betreffenden Verkehrsanlage
um eine öffentliche Straße handelt (vgl. § 8 Abs. 1 Satz 3 KAG i.d. Fassung vom 2. September 1977 [GVBl.
S. 306], § 13 Abs. 1 KAG vom 5. Mai 1986 [GVBl. S. 103], § 10 Abs. 1 Satz 1 KAG i.d. Fassung vom 20.
Juni 1995 [GVBl. S. 175]).
Der Einstufung des östlichen Teils des P.-weges als zum Anbau bestimmte Ortsstraße steht schließlich
nicht entgegen, dass der Zeuge H. den P.-weg insgesamt als Wirtschaftsweg bezeichnet hat. Denn bei der
Qualifizierung einer Verkehrsanlage als Straße oder Wirtschaftsweg handelt es sich um eine Rechtsfrage,
deren Beantwortung allein dem Gericht obliegt.
Handelt es sich mithin bei dem östlichen Teil des P.-weges um eine historische Straße, die am 30. Juni
1961 bereits hergestellt war und für die Erschließungsbeiträge nicht verlangt werden kann, fehlt es bereits
dem Grunde nach einer Beitragspflichtigkeit des klägerischen Grundstücks, denn es wird neben der H.-
straße nur über diese bereits hergestellte Straße und gerade nicht über den im Zuge der Umsetzung des
Bebauungsplans „P.-weg“ hergestellten Teil des P.-weges erschlossen. Insoweit brauchte sich die
Kammer nicht mehr mit den weiteren, die Ermittlung des erschließungsbeitragsrechtlichen Aufwandes
sowie dessen Verteilung auf die einzelnen Grundstückseigentümer betreffenden Einwendungen des
Klägers zu befassen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils hinsichtlich der Kosten beruht auf § 167
VwGO i.V. mit §§ 708 ff. ZPO.
B e s c h l u s s
der 3. Kammer des Verwaltungsgerichts Mainz
vom 27. Oktober 2010
Der Streitwert wird auf
16.829,17
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