Urteil des VG Köln vom 17.09.2009
VG Köln (bundesrepublik deutschland, aufschiebende wirkung, drittstaat, europäisches recht, griechenland, antragsteller, antrag, bundesverfassungsgericht, prüfung, verordnung)
Verwaltungsgericht Köln, 21 L 1415/09.A
Datum:
17.09.2009
Gericht:
Verwaltungsgericht Köln
Spruchkörper:
21. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
21 L 1415/09.A
Tenor:
Die aufschiebende Wirkung der Klage 21 K 5071/09.A gegen die
Abschiebungsanordnung im Bescheid des Bundesamtes für Migration
und Flüchtlinge vom 06. Februar 2009 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien
Verfahrens.
Gründe
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Der am 11. September 2009 gestellte Antrag,
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die aufschiebende Wirkung der Klage 21 K 5071/09.A gegen den Bescheid des
Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 06. Februar 2009 anzuordnen,
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der sachdienlich dahin zu präzisieren ist, dass die Anordnung der aufschiebenden
Wirkung der Klage nur insoweit begehrt wird, als sich diese gegen die
Abschiebungsanordnung im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge -
Bundesamt - vom 06. Februar 2009 richtet, hat Erfolg.
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Der Antrag ist statthaft und zulässig.
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Der Statthaftigkeit des Antrages steht die Regelung des § 34a Abs. 2
Asylverfahrensgesetz - AsylVfG -, nicht entgegen. Zwar sind die Voraussetzungen
dieser Vorschrift bei einem allein an ihrem Wortlaut ausgerichteten Verständnis erfüllt;
denn der Antragsteller soll in einen für die Durchführung des Asylverfahrens nach § 27a
AsylVfG zuständigen Staat abgeschoben werden (§ 34a Abs. 1 AsylVfG). § 34a Abs. 2
AsylVfG ist jedoch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts,
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Urteil vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1938/93 und 2 BvR 2315/93 -, BVerfGE 94, 49ff.,
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verfassungskonform einschränkend dahin auszulegen, dass sich ihr
Anwendungsbereich (u.a.) nicht auf solche Ausnahmefälle erstreckt, in denen der
Ausländer eine individuelle Gefährdung im Drittstaat, in den er abgeschoben werden
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soll, geltend machen kann. Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht in dem genannten
Urteil unter C I. 5. e) der Gründe (Juris Rn. 189 f.) ausgeführt:
"Die Bundesrepublik Deutschland hat allerdings Schutz zu gewähren, wenn
Abschiebungshindernisse nach § 51 Abs. 1 oder § 53 AuslG durch Umstände begründet
werden, die ihrer Eigenart nach nicht vorweg im Rahmen des Konzepts normativer
Vergewisserung von Verfassung oder Gesetz berücksichtigt werden können und damit
von vornherein außerhalb der Grenzen liegen, die der Durchführung eines solchen
Konzepts aus sich selbst heraus gesetzt sind. So kann sich im Hinblick auf Art. 2 Abs. 1
Satz 2 EMRK, wonach die Todesstrafe nicht konventionswidrig ist, ein Ausländer
gegenüber einer Zurückweisung oder Rückverbringung in den Drittstaat auf das
Abschiebungshindernis des § 53 Abs. 2 AuslG (§§ 60 Abs. 5 Satz 1, 61 Abs. 3 AuslG)
berufen, wenn ihm dort die Todesstrafe drohen sollte. Weiterhin kann er einer
Abschiebung in den Drittstaat § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG etwa dann entgegenhalten,
wenn er eine erhebliche konkrete Gefahr dafür aufzeigt, daß er in unmittelbarem
Zusammenhang mit der Zurückweisung oder Rückverbringung in den Drittstaat dort
Opfer eines Verbrechens werde, welches zu verhindern nicht in der Macht des
Drittstaates steht. Ferner kommt der Fall in Betracht, daß sich die für die Qualifizierung
als sicher maßgeblichen Verhältnisse im Drittstaat schlagartig geändert haben und die
gebotene Reaktion der Bundesregierung nach § 26a Abs. 3 AsylVfG hierauf noch
aussteht. Nicht umfaßt vom Konzept normativer Vergewisserung über einen Schutz für
Flüchtlinge durch den Drittstaat sind auch Ausnahmesituationen, in denen der Drittstaat
selbst gegen den Schutzsuchenden zu Maßnahmen politischer Verfolgung oder
unmenschlicher Behandlung (Art. 3 EMRK) greift und dadurch zum Verfolgerstaat wird
(vgl. in diesem Sinne auch Abschnitt 2 lit. a> und b> der bereits erwähnten Londoner
Entschließung der EG- Einwanderungsminister über Aufnahmedrittländer vom 30.
November/1. Dezember 1992). Schließlich kann sich - im seltenen Ausnahmefall - aus
allgemein bekannten oder im Einzelfall offen zutage tretenden Umständen ergeben, daß
der Drittstaat sich - etwa aus Gründen besonderer politischer Rücksichtnahme
gegenüber dem Herkunftsstaat - von seinen mit dem Beitritt zu den beiden
Konventionen eingegangenen und von ihm generell auch eingehaltenen
Verpflichtungen löst und einem bestimmten Ausländer Schutz dadurch verweigert, daß
er sich seiner ohne jede Prüfung des Schutzgesuchs entledigen wird. Ein solcher
Ausnahmefall liegt nicht vor, wenn die ihn begründenden Umstände sich schon im
Kontakt zwischen deutschen Behörden und Behörden des Drittstaates ausräumen
lassen. Eine Prüfung, ob der Zurückweisung oder sofortigen Rückverbringung in den
Drittstaat ausnahmsweise Hinderungsgründe entgegenstehen, kann der Ausländer
freilich nur erreichen, wenn es sich aufgrund bestimmter Tatsachen aufdrängt, daß er
von einem der soeben genannten, im normativen Vergewisserungskonzept nicht
aufgefangenen Sonderfälle betroffen ist. An diese Darlegung sind strenge
Anforderungen zu stellen."
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Diese Entscheidung ist zwar ergangen, bevor § 34a Abs. 1 AsylVfG um die Alternative
"oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a)"
erweitert wurde. Für eine andere Auslegung als die durch das
Bundesverfassungsgericht vorgegebene besteht deshalb aber kein Anlass; vielmehr
sind die in dem Urteil aufgestellten Maßstäbe nunmehr auch auf die in der Ergänzung in
Bezug genommenen Staaten entsprechend anwendbar. Dies gilt ungeachtet der vom
Bundesverfassungsgericht beabsichtigten Prüfung, ob und gegebenenfalls welche
Vorgaben das Grundgesetz in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und Art. 16a Abs. 2 Sätze 1 und
3 GG für die fachgerichtliche Prüfung der Grenzen des Konzepts der normativen
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Vergewisserung bei der Anwendung von § 34a Abs. 2 AsylVfG trifft, wenn Gegenstand
des Eilrechtsschutzantrags eine beabsichtigte Abschiebung in einen nach der
Verordnung (EG) Nr. 343/2003 zuständigen anderen Mitgliedstaat der Europäischen
Gemeinschaften ist,
vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 08. September 2009 - 2 BvQ 56/09 -,
Juris, Rn. 4.
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Nach Auffassung der Kammer sind den vom Bundesverfassungsgericht beispielhaft und
nicht abschließend aufgeführten Fallgestaltungen diejenigen Fälle gleich zu achten, în
denen einem Asylsuchenden nach seiner Abschiebung in einen nach der Verordnung
(EG) Nr. 343/2003 zuständigen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft eine
menschenrechtswidrige und europäisches Recht verletzende Behandlung droht und
ihm dort der Zugang zu einem seinem Schutzgesuch angemessen Rechnung tragenden
Verfahren, das die Mindestnormen der Richtlinien 2005/85/EG vom 01.12.2005 sowie
2003/9/EG vom 27.01.2003 erfüllt, erheblich erschwert oder gar unmöglich gemacht
wird. Ob solche Umstände in Bezug auf Griechenland vorliegen, wird in der
instanzgerichtlichen Rechtsprechung unterschiedlich beantwortet,
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Vgl. einerseits VG Gießen, Beschluss vom 25. April 2008 - 2 L 201/08.GI.A -, AuAS
2008, 132, und vom 22. April 2009 - 1 L 775/09.GI.A -, AuAS 2009, 129; Schleswig-
Holsteinisches VG, Beschluss vom 16. Juni 2008 - 6 B 18/08 -, Juris; VG Karlsruhe,
Beschluss vom 23. Juni 2008 - A 3 K 1412/08 -, AuAS 2008, 165; VG Ansbach,
Beschluss vom 22. Juli 2008 - AN 3 E 08.30292 -, Juris; VG Oldenburg, Beschluss vom
23. Juli 2008 - 7 B 2119/08 -; VG Weimar, Beschluss vom 24. Juli 2008 - 5 E 20094/08
We -, Juris; VG Düsseldorf, Beschluss vom 06. November 2008 - 13 L 1645/08.A -, Juris;
VG Köln, Beschluss vom 14. September 2009 - 18 L 1414/09.A -, Beschluss vom 19.
Dezember 2008 - 18 L 1502/08.A -; andererseits VG Berlin, Beschluss vom 28. Mai
2009 - 33 L 113.09 A -, Juris; VG Karlsruhe, Beschluss vom 16. Dezember 2008 - A 10 K
3898/08 -; VG Osnabrück, Beschluss vom 27. November 2008 - 5 B 124/08 -; VG
Gießen, Beschluss vom 15. Juli 2008 - 10 L 1497/08.GI.A -, Juris; VG Würzburg,
Beschluss vom 10. November 2008 - W 4 E 08.30145 -, Juris; VG Minden, Beschluss
vom 24. März 2009 - 1 L 140/09.A -, Juris, und vom 04. März 2009 - 1 L 122/09.A -, Juris;
VG Münster, Beschluss vom 09. März 2009 - 9 L 77/09.A -, Juris; VG des Saarlandes,
Beschluss vom 27. Februar 2009 - 2 L 100/09 -, Juris, Beschluss vom 06. Januar 2009 -
2 L 1825/08 -, Juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 31. August 2009 - 9 B
1198/09.A -, NRWE.
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Im vorliegenden Falle macht der Antragsteller zwar keine individuellen Umstände
geltend, er beruft sich lediglich allgemein darauf, dass es sich bei Griechenland, wohin
er abgeschoben werden soll, nicht um einen Staat handele, in dem ein fairer und
effektiver Zugang zum Asylverfahren gewährleistet sei. Ergänzend verweist er auf den
Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 08. September 2009 - 2 BvQ 56/09 - .
Hierin sind die Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde gegen einen
gerichtlichen Beschluss, mit dem die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen
eine auf § 34a Abs. 1 AsylVfG gestützte Anordnung der Abschiebung eines irakischen
Asylbewerbers nach Griechenland abgelehnt worden war, als "nicht von vornherein
offensichtlich zu verneinen" bezeichnet und hierbei auf den auf "ernst zu nehmende
Quellen" gestützten Vortrag zur Situation von Asylantragstellern in Griechenland
abgehoben worden. Nicht zuletzt angesichts dieses Einschätzung wird es für
gerechtfertigt erachtet anzunehmen, dass die gegenwärtigen Bedingungen, denen
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zurückgeführte Asylbewerber bei der Verfolgung ihrer Schutzgesuche in Griechenland
ausgesetzt sind, die Voraussetzungen eines Ausnahmefalles erfüllen, in dem § 34a
Abs. 2 AsylVfG unanwendbar ist und sich die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes
gegen eine Abschiebungsanordnung als statthaft erweist.
Der im Übrigen zulässige Antrag ist auch begründet.
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Die im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO durchzuführende Interessenabwägung ergibt,
dass das Interesse des Antragstellers an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung
das öffentliche Interesse am sofortigen Vollzug überwiegt.
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Die für diese Interessenabwägung in erster Linie maßgebenden Erfolgsaussichten der
in der Hauptsache erhobenen Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes vom 06.
Februar 2009 sind gegenwärtig als offen zu bezeichnen. Denn für die Entscheidung
über diese Klage wird die Klärung von Rechtsfragen erforderlich sein, die im Rahmen
des vorliegenden Verfahrens auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht mit
hinreichender Richtigkeitsgewähr in die eine oder andere Richtung beantwortet werden
können. Dies gilt zunächst für die Frage, ob und gegebenenfalls welche Bedeutung dem
Umstand beizumessen ist, dass das Bundesamt den Antragsteller ausführlich zu seinem
Verfolgungsschicksal angehört hat, und gegebenenfalls auch für die Frage nach der
Anwendbarkeit des § 34a Abs. 1 AsylVfG in Fällen, in denen anzunehmen ist, dass für
den Asylbewerber in dem anderen Staat i. S. v. § 27a AsylVfG ein Zugang zu einer den
europarechtlichen Vorgaben genügenden Prüfung seines Schutzgesuchs nicht
gewährleistet ist.
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Die hiernach von den Erfolgsaussichten der Klage unabhängige Interessenabwägung
geht zugunsten des Antragstellers aus.
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Denn die Nachteile, die sich für ihn ergäben, wenn der vorliegende Antrag abgelehnt
würde, seine Klage jedoch erfolgreich wäre, überwiegen die Nachteile die einträten,
wenn dem vorliegenden Antrag stattgegeben würde, die Klage sich aber als erfolglos
erwiese. Im Falle einer Ablehnung des vorliegenden Antrages könnten nämlich zu
erwartende Beeinträchtigungen der Recht des Antragstellers nicht mehr verhindert oder
rückgängig gemacht werden. Diese ergeben sich daraus, dass der Antragsteller mit
einer Überstellung nach Griechenland rechnen müsste. Nach dem oben Gesagten sind
erhebliche Zweifel angebracht, ob für den Antragsteller dort ein effektiver Zugang zum
Asylverfahren gewährleistet ist mit der Folge, dass ernstlich zu befürchten ist, dass er,
ohne dass sein Schutzgesuch in der gemeinschaftsrechtlich gebotenen Weise
behandelt worden ist, in den Irak abgeschoben wird. Hinzu kommen erhebliche Zweifel
an der Sicherstellung der Erreichbarkeit des Antragstellers in Griechenland für die
Durchführung des Hauptsacheverfahrens, da nach den gegenwärtigen Erkenntnissen
zu befürchten ist, dass ihm in Griechenland eine ordnungsgemäße Registrierung nicht
möglich sein wird.
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Demgegenüber wiegen die Nachteile, die entstünden, wenn dem vorliegenden Antrag
entsprochen würde, dem Antragsteller der Erfolg in der Hauptsache aber versagt bliebe,
weniger schwer. Insbesondere tritt das Gewicht der Belastungen für die Allgemeinheit,
die durch den zunächst auf die Dauer des Hauptsacheverfahrens beschränkten
weiteren Aufenthalt des Antragstellers im Bundesgebiet hervorgerufen werden,
gegenüber den dem Antragsteller drohenden Beeinträchtigungen im Falle der
Ablehnung des Antrages zurück. Auch widerspricht die Gewährung einstweiligen
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Rechtsschutzes im Überstellungsverfahren nicht gemeinschaftsrechtlichen
Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland. Eine gemeinschaftsrechtliche Pflicht
zum Ausschluss des vorläufigen Rechtsschutzes bei Überstellungen nach der
Verordnung (EG) Nr. 343/2003 besteht nicht. Vielmehr sieht das Gemeinschaftsrecht die
Möglichkeit der Gewährung vorläufigen fachgerichtlichen Rechtsschutzes gegen
Überstellungen an den zuständigen Mitgliedstaat nach deren Art. 19 Abs. 2 Satz 4 und
Art. 20 Abs. 1 Buchstabe e Satz 4 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 selbst vor.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylVfG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylVfG
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