Urteil des VG Köln vom 14.01.2009

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Verwaltungsgericht Köln, 10 K 6367/08
Datum:
14.01.2009
Gericht:
Verwaltungsgericht Köln
Spruchkörper:
10. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
10 K 6367/08
Tenor:
Der Bescheid des Beklagten vom 08.09.2008 wird aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der
Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von
110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger
vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu
vollstreckenden Betrages leisten.
T a t b e s t a n d
1
N. , der am 00.00.0000 geborene Sohn der Kläger, besucht nach vierjähriger
Grundschulzeit seit dem Schuljahr 2007/2008 die L. -B. -Hauptschule in L1. . Die
Hauptschule stellte im Februar 2008 einen Antrag auf Eröffnung des Verfahrens zur
Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs. Zur Begründung wurde
ausgeführt, N. sei bisher durch folgende Dinge aufgefallen: Er fehle sehr häufig in der
Schule (ca. 160 Fehlstunden im ersten Halbjahr), er sei sehr unruhig und teilweise auch
aggressiv, er könnte einer der besten Schüler sein, wenn er sich mehr Mühe gebe. Es
gehe eine ständige Unruhe von N. aus, er schaffe es nicht, eine ganze
Unterrichtsstunde auf seinem Platz zu sitzen. In den Fünfminutenpausen renne er
ständig durch die Klasse oder auf dem Flur herum, obwohl es ihm immer wieder
verboten worden sei. Dabei gehe er häufig auf seine Mitschüler los oder ärgere sie.
Wenn N. mit einem Schüler oder einer Schülerin Streit habe, reagiere er zeitweise so
aggressiv, dass er nicht mehr ansprechbar sei. Häufig hänsele er seine Mitschüler und
stifte dadurch sehr viel Unfrieden in der Klasse. Neue Unterrichtsinhalte begreife N. sehr
schnell, meist auch schneller als der Rest der Klasse. Wenn er zusätzliche Aufgaben
erhalte, damit er sich nicht langweile, lehne er diese meist ab. Insgesamt arbeite N.
meist oberflächlich oder gar nicht, weil ihm Unterrichtsmaterialien fehlten oder er kein
Interesse an dem Thema habe. In vielen Dingen sei N. auch sehr unzuverlässig, so
gebe er Elternbriefe nicht oder verspätet ab. Seine Hausaufgaben fehlten häufig oder
seien unvollständig. N. könne auch sehr umgänglich sein, allerdings benötige er dazu
die vollkommene Aufmerksamkeit der Lehrperson.
2
In dem N. für das erste Halbjahr des Schuljahres 2007/2008 am 18.01.2008 erteilten
Zeugnis sind seine Leistungen in den Fächern Deutsch und Mathematik mit
befriedigend und die in den übrigen Fächern (bis auf Sport) mit ausreichend bewertet.
Sein Arbeitsverhalten ist mit gut bis befriedigend, sein Sozialverhalten mit befriedigend
bis unbefriedigend bewertet.
3
Das am 03.06.2008 von N.s Klassenlehrerin Frau D. und der Sonderschullehrerin Frau
L2. gefertigte pädagogische Gutachten kommt zu dem Ergebnis, dass N. in den
Bereichen Emotionalität, soziale Kompetenz sowie Lern- und Leistungsverhalten
förderbedürftig sei. Die Gutachterinnen empfehlen als Förderort die Förderschule für
emotionale und soziale Entwicklung. Es wird ausgeführt, emotional sei N. sehr
zuwendungsbedürftig. Es falle ihm schwer sich mit sich selbst zu beschäftigen, ohne
andere zu stören. Er orientiere sich in der Regel noch am Lustprinzip. Habe er
Langeweile, ärgere er seine Mitschüler. Aggressionen äußere N. auf mehreren Ebenen:
direkt und indirekt, körperlich und verbal. In Konfliktsituationen mit anderen Schülern
könne N. im schulischen Rahmen nicht gesteuert werden. Die Akzeptanz von Regeln
falle ihm schwer. Für alle schriftlichen Arbeiten bedürfe er intensiver Zuwendung. Ein
normaler Schulalltag mit vielen Arbeitsphasen, mit 17 Schülern und wechselnden
Lehrern überforderten N. . Täglich komme es zu Konflikten mit Lehrern und Schülern.
Häufig müsse N. die Klasse für einige Minuten verlassen, damit Unterricht möglich sei.
Als bisherige schulische Fördermaßnahmen werden in dem Gutachten mehrere
Gespräche mit N. und seiner Mutter sowie ein Hausaufgabenheft, das auch als
Mitteilungsheft fungiere, aufgelistet. Die Sonderschullehrerin Frau L2. führte am
28.04.2008 eine Unterrichtshospitation durch, an diesem Tag war N. jedoch nicht in der
Schule anwesend. Frau L2. führte mit N. den Intelligenztest CFT 20-R durch. Danach
erreichte N. einen Alters-IQ von 91, also ein Ergebnis im Bereich durchschnittlicher
Intelligenz. Zudem wurde der Persönlichkeitsfragebogen (PFK 9 - 14), ein Test für
Kinder und Jugendliche im Alter von 9 bis 14 Jahren durchgeführt. Danach scheint N.
über eine ausreichende Willenskontrolle zu verfügen, da er in der Testauswertung der
"Dimension Verhaltensstile" (VS) einen niedrigen Wert erzielt hat. In der "Dimension
Selbstbild" (SB) sind alle Ergebnisse von N. im Normbereich. Nach Aussage des PFK
scheint N. über eine angemessene Ich-Durchsetzung zu verfügen, da er in der
"Dimension Motive" (MO) einen niedrigen Wert erzielt hat. Zudem verfügt N. nach
Aussage des PFK über schulischen Ehrgeiz und möchte den Normen der Erwachsenen
entsprechen.
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Das am 10.06.2008 erstellte schulärztliche Gutachten kommt zu der Beurteilung, dass
bei N. ein altersentsprechender Entwicklungsstand vorliege.
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Mit Bescheid vom 08.09.2008 stellte das beklagte Schulamt fest, dass für N.
sonderpädagogischer Förderbedarf mit dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale
Entwicklung bestehe und setzte als Förderort die Förderschule mit dem
Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung fest. Zur Begründung wurde
ausgeführt, N. zeige große Schwierigkeiten, sich in Gruppen einzufügen, bestehende
organisatorische und soziale Regeln zu akzeptieren und zu beachten. Er brauche
intensive Förderung seines Selbstwertgefühles durch Erfolgserlebnisse sowie
Erweiterung seines Handlungsrepertoirs im Umgang mit Gleichaltrigen. Er müsse durch
geeignete Materialien zu einer neuen Leistungsmotivation geführt werden. Eine
Beschulung im Gemeinsamen Unterricht entspreche nicht den Anforderungen und
scheide als Möglichkeit aus.
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Mit ihrer hiergegen am 27.09.2008 erhobenen Klage tragen die Kläger vor, es sei falsch,
dass N. an der Hauptschule nicht hinreichend gefördert werden könne. Im Vergleich zu
den anderen Kindern in der Klasse sei N. im Verhalten nicht auffällig. Komme es zu
Störungen im Unterricht, liege die Ursache nicht allein bei N. , sondern auch bei den
anderen Kindern.
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Die Kläger beantragen,
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den Bescheid des beklagten Schulamtes vom 08.09.2008 aufzuheben.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Der Beklagte verteidigt seinen Bescheid und legt ergänzende Stellungnahmen der
Schule und der Gutachterinnen vom 3.12.2008 vor. N.s Klassenlehrerin Frau D. führt
aus, N. störe seine Nachbarn während des Unterrichts durch unkontrollierte
Bewegungen wie das Umherschieben leerer Stühle, werfe Gegenstände durch die
Klasse, er hänsle seine Mitschüler, drohe ihnen Tätlichkeiten an, bespritze sie mit
Wasser und verstecke ihre Sachen; bei Streitigkeiten schlage oder trete er schnell seine
Konkurrenten. Er zerstöre seine eigenen Stifte, bemale und beschädige Arbeitsblätter,
Hefte, Tische. Er sei nicht zur Zusammenarbeit in der Lage, Partner- oder
Gruppenarbeiten scheiterten meist schon zu Beginn. Er halte sich nicht an
Klassenregeln und Arbeitsanweisungen. Um N.s Verhalten zu ändern, seien
verschiedene Maßnahmen durchgeführt worden, die aber alle gescheitert seien. Von
ihm zunächst zusätzlich zu Hause zu erledigende Aufgaben habe er meist ignoriert;
zusätzliche Unterrichtsstunden habe er nicht ohne Diskussion über sich ergehen lassen,
er weigere sich grundsätzlich, für einen Teil der Stunde in eine andere Klasse zu gehen.
Auch ihn vorzeitig nach Hause zu schicken, habe keine Verbesserung seines
Verhaltens erzielt. Die Sonderschullehrerin Frau L2. berichtet über ihre
Unterrichtshospitation am 3.12.2008, bei der sich N. unauffällig verhalten und
gelegentlich im Unterricht mitgearbeitet habe. In ihrem Gespräch mit den Kollegen, die
an diesem Tag N. unterrichtet hätten, hätten diese mit Ausnahme der
Geographielehrerin betont, wie ungewohnt angenehm anders sich N. an diesem Tag
verhalten habe. Die Gutachterinnen empfehlen weiterhin als Förderört die Förderschule
für emotionale und soziale Entwicklung und führen aus, eine Beschulung im
Gemeinsamen Unterricht mit entsprechenden Förderstunden für N. wäre hierzu eine
wünschenswerte Alternative.
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In der mündlichen Verhandlung hat die Kammer Frau D. und Frau L2. informatorisch
angehört.
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Mit Beschluss vom 29.10.2008 - 10 L 1483/08 - hat die Kammer auf Antrag der Kläger
die aufschiebende Wirkung der vorliegenden Klage gegen den mit Anordnung der
sofortigen Vollziehung versehenen Bescheid vom 08.09.2008 wiederhergestellt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte, der Akte 10 L 1483/08 und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge
Bezug genommen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
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Die zulässige Klage ist begründet.
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Der Bescheid des beklagten Schulamtes vom 08.09.2008 ist rechtswidrig und verletzt
die Kläger in ihren Rechten ( § 113 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -).
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Der Bescheid vom 08.09.2008 ist gestützt auf § 19 des Schulgesetzes für das Land
Nordrhein-Westfalen (SchulG) in Verbindung mit der Verordnung über die
sonderpädagogische Förderung, den Hausunterricht und die Schule für Kranke vom 29.
April 2005 in der Fassung vom 30. Oktober 2007 - AO-SF -. Danach werden Schüler, die
wegen körperlicher, seelischer oder geistiger Behinderung oder wegen erheblicher
Beeinträchtigung des Lernvermögens nicht am Unterricht einer allgemein bildenden
Schule teilnehmen können, ihrem individuellen Förderbedarf entsprechend an
allgemeinen Schulen (im Gemeinsamen Unterricht bzw. in Integrativen Lerngruppen)
oder an Förderschulen sonderpädagogisch gefördert. Der von dem Beklagten hier
angenommene Förderbedarf hinsichtlich der emotional-sozialen Entwicklung (§ 5 Abs. 3
AO-SF) - wegen einer Erziehungsschwierigkeit - liegt jedoch nicht vor.
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Gemäß § 5 Abs. 3 AO-SF liegt eine Erziehungsschwierigkeit vor, wenn sich ein Schüler
der Erziehung so nachhaltig verschließt oder widersetzt, dass er im Unterricht nicht oder
nicht hinreichend gefördert werden kann und die eigene Entwicklung oder die der
Mitschüler erheblich gestört wird und gefährdet ist. Diese Voraussetzungen sind hier
nicht gegeben. Es ist nach dem sonderpädagogischen Gutachten vom 03.06.2008, dem
schulärztlichen Gutachten vom 10.06.2008, den ergänzenden Stellungnahmen der
Gutachterinnen vom 03.12.2008 und ihren Erläuterungen in der mündlichen
Verhandlung nicht ersichtlich, dass N. sich der Erziehung so nachhaltig verschließt oder
widersetzt, dass er im Unterricht (einer allgemeinen Schule) nicht (hinreichend)
gefördert werden kann. Nach den Schilderungen der Klassenlehrerin fällt N. in seinem
Sozialverhalten zwar insbesondere durch die Unruhe, die er ständig verbreitet und
durch häufige Verwicklung in Konflikte auf. Durch besondere Aggressivität fällt er dabei
aber nicht auf. Geschildert wurde, dass N. seine Mitschüler vor allem häufig hänselt und
wiederholt mit Wasser bespritzt und ihnen mit Tätlichkeiten droht. Dass es zu solchen
Tätlichkeiten in oder nach der Schule tatsächlich kommt, wurde nicht geschildert. Weiter
ist N.s mangelnde Konzentrationsfähigkeit, Sorgfalt, Selbständigkeit und Motivation und
seine häufig nicht angefertigten Hausaufgaben angeführt. Dies wie auch die
festgestellten Auffälligkeiten im Sozialverhalten heben sich allerdings nicht derart
deutlich von dem Verhalten anderer unzweifelhaft auf der allgemeinen Schule zu
beschulenden Schüler ab, dass hieraus zwingend abzuleiten wäre, dass N. - auch unter
Berücksichtigung der bereits von der Schule durchgeführten Maßnahmen - nicht
hinreichend im Unterricht einer allgemeinen Schule gefördert werden könnte. Hiergegen
spricht auch, dass die Geographielehrerin N.s Verhalten als nicht besonders auffällig
empfindet. Auch sind in dem der Kammer vorliegenden Zeugnis vom 18.01.2008 N.s
Selbständigkeit mit "gut", seine Leistungsbereitschaft, seine Zuverlässigkeit/ Sorgfalt
sowie seine Verantwortungsbereitschaft mit "befriedigend" bewertet. Während der
Unterrichtshospitation durch die Sonderschullehrerin am 03.12.2008 verhielt sich N. 5
Unterrichtsstunden lang unauffällig bzw. nicht anders als seine Mitschüler. Außerdem
hat N. nach dem Zeugnis vom 18.01.2008 in Deutsch und Mathematik befriedigende,
ansonsten ausreichende Leistungen erbracht und erbringt auch weiterhin nach der
Stellungnahme der Schule vom 03.12.2008 in nahezu allen Fächern ausreichende
Leistungen trotz krankheitsbedingter Fehlzeiten und Abwesenheit vom Unterricht.
Schon deswegen bestehen erhebliche Bedenken gegen die Annahme, dass N. im
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Unterricht der allgemeinen Schule nicht oder nicht hinreichend gefördert werden kann,
vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom
11.08.2003 - 19 B 898/03 - m.w.N.
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Weiterhin ist nicht ausreichend dargelegt, dass im Sinne von § 5 Abs. 3 AO-SF N.s
eigene Entwicklung oder die seiner Mitschülerinnen und Mitschüler erheblich gestört
oder gefährdet ist. Das schulärztliche Gutachten vom 10.06.2008 kommt zu der
Beurteilung, dass bei N. ein altersentsprechender Entwicklungsstand vorliegt. Die
Testergebnisse des PFK sprechen - auch unter Berücksichtigung der Ausführungen der
Sonderschullehrerin Frau L2. in der mündlichen Verhandlung zu einem möglichen
tendenziösen Antwortverhalten der Probanden - ebensowenig für eine erhebliche
Entwicklungsstörung oder -gefährdung N.s . Hinsichtlich der Entwicklung der Mitschüler
N.s ist vorgetragen, dass viele sich durch sein Verhalten gestört und belästigt fühlen.
Eine erhebliche Störung oder Gefährdung ihrer Entwicklung ist damit nicht dargelegt.
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Abgesehen vom zu Unrecht angenommenen sonderpädagogischen Förderbedarf ist der
Bescheid auch hinsichtlich der Festlegung des Förderortes nicht rechtmäßig. Er legt die
Förderschule für emotionale und soziale Entwicklung als alleinigen Förderort fest, ohne
sich vertieft mit dem Förderort Gemeinsamer Unterricht auseinanderzusetzten, obwohl
dieser nach der ergänzenden Stellungnahme der Gutachterinnen vom 03.12.2008 als
"wünschenswerte Alternative" in Betracht kommt.
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Auch wenn im Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung nach Ansicht der Kammer kein
sonderpädagogischer Förderbedarf bei N. besteht, so hat aber N. unbestreitbar in der
Schule Schwierigkeiten aufgrund seines eigenes Verhalten - und nicht das seiner
Mitschülerinnen oder Mitschüler oder Lehrer. Daher ist es nun Sache der Eltern von N. ,
der Kläger, N. bei diesen Schwierigkeiten zu helfen, ihm auch von dritter Seite Hilfe
zukommen zu lassen, den in der mündlichen Verhandlung von den Lehrerinnen
geäußerten Verdacht auf ADS abklären und ggf. eine Behandlung einleiten zu lassen.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung zur
vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711
ZPO.
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