Urteil des VG Köln vom 25.02.2010

VG Köln (kläger, behinderung, kündigung, verhalten, grund, bezug, zustimmung, erkrankung, morbus bechterew, psychologisches gutachten)

Verwaltungsgericht Köln, 26 K 2767/09
Datum:
25.02.2010
Gericht:
Verwaltungsgericht Köln
Spruchkörper:
26. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
26 K 2767/09
Tenor:
Der Bescheid des Beklagten vom 23. Mai 2008 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides des Widerspruchsausschusses beim
Integrationsamt des Beklagten vom 30. März 2009 wird aufgehoben.
Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens des Klägers tragen der
Beklagte und die Beigeladene je zur Hälfte, ihre außergerichtlichen
Kosten tragen sie selbst. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige
Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch
Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils
beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige
Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in jeweils
gleicher Höhe leistet.
T a t b e s t a n d
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Der am 00.00.0000 geborene, verheiratete Kläger, der zwei volljährige Kinder hat,
wendet sich gegen die Bescheide des Beklagten, mit denen dieser der Beigeladenen
die Zustimmung zu seiner Kündigung erteilte.
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Der Kläger war seit dem 2. April 1985 bei der Beigeladenen beschäftigt. Zuletzt war er
als Erdbaugeräteführer im Tagebau I. tätig. Das Versorgungsamt Köln hatte mit
Bescheid vom 4. Februar 1994 einen GdB des Klägers von 60 festgestellt. Zugrunde
lagen 1. Krohn´sche Erkrankung, 2. Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule und
Hüftgelenke. Seit Anfang Mai 2008 war der Kläger von der Arbeit freigestellt.
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Mit Schreiben vom 8. Mai 2008 beantragte die Beigeladene bei dem Beklagten die
Erteilung der Zustimmung zur fristlosen Kündigung des Klägers. Zur Begründung führte
sie aus, der Kläger habe in den späten Abendstunden am Sonntag, dem 4. Mai 2008
einen Diebstahl begangen. Es seien ca. 80 l Dieselkraftstoff aus einem Hilfsgerät, einem
mobilen Bagger, abgezapft und für den Abtransport im privaten Fahrzeug des Klägers
vorbereitet worden. Im Rahmen des polizeilichen Ermittlungsverfahrens habe der Kläger
das Fehlverhalten eingestanden. Es handele sich um einen ernsthaften Verstoß gegen
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arbeitsvertragliche Pflichten, durch den das Vertrauensverhältnis nachhaltig gestört
worden sei. Durch die lange Betriebszugehörigkeit habe dem Kläger auf Grund der
Vielzahl von Hinweisen und Informationen bekannt sein müssen, welche
Konsequenzen sich aus einem Diebstahlvergehen ergäben. Weder aus dem
Krankheitsbild noch aus seinen Begründungsversuchen seien nachvollziehbare Gründe
ersichtlich, die das Fehlverhalten entschuldigen könnten. Diebstahl sei ein
schwerwiegender Verstoß gegen arbeitsvertragliche Pflichten, der in der Konsequenz
ihrer bisherigen Personalpolitik unweigerlich zur fristlosen Kündigung führe.
Der Betriebsrat erklärte unter dem 9. Mai 2008, aufgrund der vorliegenden Informationen
sehe er sich nicht in der Lage, der fristlosen Kündigung zu widersprechen. Der
Betriebsrat Herr C. führte ergänzend am 15. Mai 2008 aus, im Personalgespräch mit der
Betriebsleitung sei auf die soziale Komponente, resultierend aus der Krankheit und
aufgetretenen psychischen Problemen wegen familiärer Probleme, hingewiesen
worden. Der Kläger habe keine Erklärung abgeben können, warum es zu der Tat
gekommen sei. Das Angebot, vor dem Betriebsrat Stellung zu nehmen, habe der Kläger
nicht wahrgenommen. Er sei nach Informationen des Betriebsrats zur Zeit in psychischer
Behandlung.
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Der Vertrauensmann der Schwerbehinderten Herr Q. erklärte am 15. Mai 2008, der
Kläger sei seit 1993 an Morbus Crohn erkrankt. Zeiten des Wohlbefindens wechselten
sich mit schweren Erkrankungsphasen. Emotionale Belastungen, psychischer Stress
könnten zur Symptomauslösung oder -verstärkung führen. Des Weiteren leide der
Kläger unter Verschleiß der Wirbelsäule sowie beider Hüftgelenke. In den 23 Jahren der
Beschäftigung habe es keine negativen Auffälligkeiten des Klägers gegeben. Im
Disziplinargespräch anlässlich des Vorfalls habe der Kläger berichtet, dass er seit
Wochen nicht mehr zur Ruhe komme, kaum schlafen könne, ständig unter Schmerzen
und starken Durchfällen leide. Ärztlicherseits werde überlegt, den entzündeten Darm
komplett zu entfernen. Er habe auch Suizidgedanken gehabt. Beide Eltern seien schwer
an Morbus Bechterew sowie Morbus Alzheimer erkrankt. Bei der angesetzten
Sondersitzung des Betriebsrats sei der Kläger nicht anwesend gewesen. Nach seinem
Kenntnisstand befinde er sich seit dem 8. Mai 2008 in der Landesklinik Düren in
stationärer Behandlung. Die seit Wochen andauernden Belastungen könnten
gegebenenfalls in einem kausalen Zusammenhang mit seinem Vergehen stehen.
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Der Kläger räumte unter dem 15. Mai 2008 den Vorwurf ein. Er habe die Tat weder am
Arbeitsplatz noch während der Arbeitszeit begangen. Den Bagger habe er während
einer privaten Radtour am Sonntag, den 4. Mai 2008 zufällig in einem Feldweg entdeckt.
Er habe festgestellt, dass der Tank nicht mit einem Schloss versehen war und sich in
Anbetracht der viel diskutierten Problematik des Kraftstoffklaus noch darüber gewundert.
Er habe nicht ansatzweise daran gedacht, selbst Kraftstoff zu entwenden. Warum er sich
dann gegen 21.30 Uhr, nachdem seine Frau bereits zu Bett gegangen sei, spontan
entschieden habe, den Kraftstoff zu entwenden, sei ihm nicht erklärlich. Eine
Verwendung des Dieselkraftstoffs sei wegen der starken Verschmutzung nicht zu
empfehlen, da er Schäden am Motor hinterlassen könne. Er habe nach seiner
Erinnerung auch nie beabsichtigt, den Kraftstoff privat zu nutzen. Vernünftige Gründe
dafür gebe es nicht. Er habe keinerlei finanzielle Sorgen, seine Ehefrau sei als
Krankenschwester tätig und solche oder eine ähnliche Tat habe er noch nie begangen.
Die Erinnerungen an die Tat bis zum Eintreffen des Werkschutzes seien wie vernebelt.
Ursache dafür seien die erheblichen psychischen Probleme, die bei ihm bereits seit
längerem festgestellt würden und in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner
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Schwerbehinderung stünden. Bereits mehrere Teile des Darms seien 1994 entfernt
worden. Er leide fast ständig an starkem Durchfall, starken Schmerzen im Bauchbereich,
Entzündungen der Mundschleimhaut und des Darmausgangs. In Schüben träten
Gelenkschmerzen, Bandscheibenschmerzen, Übelkeit und Appetitlosigkeit hinzu.
Psychisch seien in den letzten Jahren Depressionen, Angstzustände, Suizidgedanken
und eine ständige Unruhe hinzugetreten. Er leide unter Schlafstörungen und schlafe nur
stundenweise. Möglicherweise durch die letztgenannten Probleme leide er unter
Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörungen. Er habe bereits in der Vergangenheit des
Öfteren Handlungen vorgenommen, deren Sinn sich ihm und seiner Ehefrau nicht
erschließe. So habe die Ehefrau dem Prozessbevollmächtigten berichtet, dass der
Kläger im letzten Jahr im Garten eine Zisterne eingegraben habe, die er aus
unerfindlichen Gründen einige Tage später wieder ausgegraben habe, um sie dann
später wieder einzugraben. Auch habe er in einer Nacht sein Fahrrad vollständig
auseinander- und wieder zusammengebaut. Manchmal habe er völlig unbegründete
Wutanfälle, in denen er seine Frau oder seinen Sohn beschimpfe und beleidige. All
diese Aussetzer hätten gemeinsam, dass der Kläger sich im Nachhinein an diese
Vorfälle nur eingeschränkt und "wie benebelt" erinnern und sich nicht mehr erklären
könne, wie es dazu gekommen sei. Nach ein bis zwei Stunden werde ihm klar, was er
gemacht habe und sein Scham- und Schuldgefühl setze wieder ein. Auch am Abend
des 4. Mai 2008 sei er wieder unruhig und depressiv gewesen und habe Angstzustände
gehabt. Als er den Pkw in die Garage habe fahren wollen, habe er den alten
Kraftstoffkanister gesehen und sei spontan auf die Idee gekommen, zu dem Bagger zu
fahren und Kraftstoff abzupumpen. Er könne sich heute nicht mehr erklären, was er
damit habe bezwecken wollen. Als er den Pkw des Werkschutzes gesehen habe, habe
er sich vergegenwärtigt, was er da überhaupt mache. Er sei voller Scham vom Tatort
nach Hause geflüchtet. Beim Überqueren einer Autobahnbrücke habe er einige Minuten
innegehalten und überlegt, ob er seinem Leben ein Ende setzen solle. Kurz nach ihm
sei zu Hause bereits die Polizei eingetroffen, weil er am Tatort sein Fahrzeug und
(daneben) zwei bereits befüllte Kraftstoffkanister zurückgelassen habe. Er sei während
der Tat aufgrund der psychischen Erkrankung in seiner Wahrnehmungs- und
Entscheidungsfähigkeit stark eingeschränkt gewesen. Er sei möglicherweise
schlichtweg nicht mehr in der Lage gewesen, das Unrecht seiner Tat einzusehen und
habe lediglich aus dem Unterbewusstsein gehandelt. Seine Ehefrau und sein
erwachsener als Physiotherapeut tätiger Sohn hätten gegenüber dem
Prozessbevollmächtigten einvernehmlich erklärt, dass der Kläger ein gesetzestreuer
Mensch sei, zu dessen Persönlichkeit eine solche Tat in keiner Weise passe. (Bl 29 ff.)
Es werde dringend angeregt, mit den behandelnden Ärzten zu sprechen und ein
fachärztliches psychologisches Gutachten einzuholen, um den Zusammenhang
zwischen Schwerbehinderung und Tat sowie möglicherweise eingeschränkter
Schuldfähigkeit während des Tathergangs festzustellen. Möglicherweise könne für den
Kläger ein leidensgerechter Arbeitsplatz gefunden werden. Die derzeitige Tätigkeit
wirke sich nachteilig auf den Krankheitsverlauf aus.
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Er legte einen Ärztlichen Befundbericht der Stationsärztin der Rheinischen Kliniken
Düren, Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie vom 14. Mai 2008 vor, dem
zufolge der Kläger sich seit dem 8. Mai 2008 aufgrund einer schweren depressiven
Episode und einer Somatisierungsstörung in Behandlung befand. Er litt unter
Schlafstörungen, gedrückter Stimmung, Antriebsstörungen, Herzrasen,
Schweißausbrüchen und Konzentrations- sowie Merkfähigkeitsstörungen sowie
rezidivierenden Suizidgedanken ohne konkrete Handlungsabsicht. Anamnestisch
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bestand dem Bericht zufolge die psychiatrische Symptomatik seit 6 bis 9 Monaten. In der
Klinik blieb der Kläger bis zum 27. Mai 2008. Ferner legte er einen Ärztlichen
Kurzbericht der Hausärzte Dres. G. und Partner vom 15. Mai 2008 vor, wonach der
Kläger dort seit vielen Jahren hausärztlich betreut wurde. Er habe im Zuge der
organischen Erkrankungen zunehmende psychische Auffälligkeiten entwickelt. Es habe
sich neben den schon bekannten Somatisierungsstörungen ein depressives
Störungsbild unklarer Genese entwickelt. Schon im Januar und Februar 2008 sei der
Eindruck einer höhergradigen psychischen Erkrankung entstanden. Bei der Vorstellung
im April 2008 seien ebenfalls depressive Züge deutlich erkennbar gewesen. Bei der
Entwicklung solcher Krankheiten sei es möglich, dass es phasenweise zu
Einschränkungen der Wahrnehmungsfähigkeit im Bereich seiner Umgebung komme.
(Bl. 42 BA)
Mit Bescheid vom 23. Mai 2008 erteilte der Beklagte die Bestätigung über den Eintritt
der Zustimmungsfiktion nach § 91 Abs. 3 Satz 2 Sozialgesetzbuch - Neuntes Buch -
(SGB IX). Mit Schreiben vom 25. Mai 2008 kündigte die Beigeladene gemäß § 626 BGB
das Arbeitsverhältnis wegen des Vorfalls am 4. Mai 2008 fristlos. Zugleich kündigte sie
das Arbeitsverhältnis hilfsweise fristgerecht zum 31. Dezember 2008.
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Der Kläger erhob am 28. Mai 2008 Widerspruch. Zur Begründung trug er vor, die
Rechtswidrigkeit des Bescheides folge schon daraus, dass der Beklagte trotz des
fristgemäßen umfassenden Vortrags nebst Beweisantritten ein Ermessen bewusst nicht
ausgeübt habe. Das vorgeworfene Fehlverhalten stehe in unmittelbarem
Zusammenhang mit der Schwerbehinderung. Die langjährige Schwerbehinderung
(Morbus Crohn) sei die einzige Ursache seiner psychischen Auffälligkeiten. Im Übrigen
wiederholte er seine bisherigen Ausführungen und bezog sich auf die Ausführungen in
dem arbeitsgerichtlichen Verfahren. In diesem Verfahren (Klageerhebung 9. Juni 2008 -
9 Ca 4734/08 -) trug der Kläger u.a. vor, im November 2007 habe er in den späten
Abendstunden, als seine Frau nicht zu Hause gewesen sei, ohne erkennbaren Grund im
Garten 1 1/2 Stunden lang Kaminholz ("fünf Festmeter") unter Zuhilfenahme einer
Schubkarre 20 m an einen Ort umgestapelt, an dem er den Wuchs der Hecke behinderte
und im Weg stand. Als seine Frau ihn darauf angesprochen habe, was das denn solle,
habe er darauf keine Antwort gehabt. Er habe den Stapel dann wenige Tage später
wieder am alten Ort aufgebaut. Vier Wochen danach habe sich der Vorfall erneut
ereignet. Als seine Ehefrau in den Abendstunden nicht zu Hause gewesen sei, habe er
das Holz zu dem gleichen Ort wie beim ersten Mal umgestapelt. Auch beim zweiten Mal
sei der Holzstapel anschließend wieder an den alten Ort zurückgebracht worden. Im
Januar 2008 habe er in nächtlicher Stunde begonnen, den nicht
renovierungsbedürftigen weiß gestrichenen Keller mit rosa Farbe, die weder er noch
seine Ehefrau mögen, zu streichen. Als seine Frau dies bemerkt habe, habe er wieder
dafür keine Erklärung gehabt. Im März 2008 seien sie gemeinsam zum Einkaufen in den
Real-Markt in Bedburg gefahren. Der Kläger sei während des Einkaufens
verschwunden. Seine Ehefrau habe ihn vergeblich gesucht. Bei der Rückfahrt habe sie
ihn auf halber Strecke zu Fuß unterwegs am Straßenrand gefunden. Wieder habe der
Kläger sich und seiner Frau den Vorfall nicht erklären können. Auch in alltäglichen
Stresssituationen verliere der Kläger die Kontrolle über sein Handeln. Neben den
bereits genannten Ärzten habe der Kläger 2006 den Facharzt für Neurologie Dr. Morad
Ghaemi in Bergheim wegen seiner ständigen Unruhe, seines Händezitterns, seiner
ständigen Stresszustände und Schweißausbrüche aufgesucht. Es seien bei Messen der
Hirnströme jedoch keine Besonderheiten festgestellt worden. Seit 1990 habe er sich
trotz entsprechender betriebsärztlicher Stellungnahmen vergeblich bei der
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Beigeladenen um einen leidensgerechten Arbeitsplatz bemüht. Auf Bl. 96 ff. der Beiakte
wird wegen der weiteren Einzelheiten Bezug genommen. Der Kläger legte ein
Informationsblatt "Arzt-Patienten-Seminar über chronisch entzündliche
Darmkrankheiten" der Reha-Klinik Ob der Tauber vom 7. Februar 2005 vor (Bl. 141 f.
der Beiakte).
Die Beigeladene legte dem Beklagten ebenfalls eine Stellungnahme aus dem
arbeitsgerichtlichen Verfahren und zwar vom 18. August 2008 vor. Darin wurde u.a. der
Vorfall vom 4. Mai 2008 näher dargestellt. An dem Fahrzeug und dem Bagger waren
demzufolge insgesamt 6 Benzinkanister gefunden worden, in die etwa 80 l Diesel
abgefüllt worden war. Ferner bestritt sie mit Nichtwissen das Vorliegen einer Krankheit,
die bewirkt habe, dass das Verhalten des Klägers nicht mehr steuerbar gewesen sei
und dem Kläger damit möglicherweise nicht vorgeworfen werden könne. Sämtliche
Umstände des Vorfalls (Dunkelheit, sorgfältiges "Abzapfen" des Kraftstoffs, Abdeckung
des Fahrzeugs, Flucht des Klägers) sprächen gegen eine Bewusstlosigkeit oder
fehlendes Steuerungsverhalten. Ein Zusammenhang der Behinderung mit dem
Verhalten am 4. Mai 2008 werde mit Nichtwissen bestritten. Unter Abwägung aller
Umstände des Einzelfalls sei ihr eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses mit dem
Kläger nicht zumutbar. Das gelte auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der
Kläger bereits seit 23 Jahren und einem Monat bei ihr beschäftigt gewesen sei und sich
bisher nichts habe zu Schulden kommen lassen. Es entlaste auch nicht, dass der Kläger
die Tat nicht an seinem Arbeitsplatz und außerhalb der Arbeitszeit begangen habe. Sie
bestreite auch mit Nichtwissen, dass die Tätigkeiten des Klägers die Erkrankung
verursacht oder verschlimmert hätten, ebenso, dass sie sich geweigert habe, einen
leidensgerechten Arbeitsplatz zur Verfügung zu stellen. Die werkmedizinische
Empfehlung vom 19. Juli 2006 sei durch die verantwortlichen Aufsichten berücksichtigt
worden. Es bestehe kein Anhaltspunkt dafür, dass der Kläger das beanstandete
Verhalten bei Einsatz auf einem anderen Arbeitsplatz nicht gezeigt hätte. (Bl. 153 - 157).
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In dem arbeitsgerichtlichen Verfahren trug der Kläger weiter vor, dass die Tat nicht
sorgfältig geplant gewesen sei, folge auch aus dem Umstand, dass der Kläger sein
Fahrzeug sehr auffällig und zudem so hinter einer Schranke geparkt habe, dass dieses
von der Straße bestens habe gesehen werden können und eine schnelle Flucht
unmöglich gewesen sei. Auf Bl. 86 der Gerichtsakte 9 Ca 4734/08 wird Bezug
genommen. Das Arbeitsgericht Köln beschloss am 7. Januar 2009 die Einholung eines
medizinischen Sachverständigengutachtens zu der Frage, ob der Kläger auf Grund
einer krankheitsbedingten Bewusstseinsstörung nicht in der Lage war, sein Vorgehen
am 4. Mai 2008 - Abfüllen von Kraftstoff aus einem auf einem Feld befindlichen Bagger
der Beklagten in mehrere mit seinem Pkw mitgeführte Benzinkanister - zu steuern
(Augenblicksversagen für 1 - 2 Stunden).
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Mit Bescheid des Versorgungsamtes des Rhein-Erft-Kreises vom 3. März 2009 wurde
ab dem 2. Oktober 2008 ein GdB von 100 festgestellt. Es heißt in dem Bescheid: "Bei
Ihnen liegen folgende Beeinträchtigungen vor: 1. Depression 2. Chronisch entzündliche
Darmerkrankung (Morbus Crohn) 3. Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule und
Hüftgelenke."
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Mit Widerspruchsbescheid vom 30. März 2009 wies der Widerspruchsausschuss beim
Integrationsamt des Beklagten den klägerischen Widerspruch zurück. Zur Begründung
führte er aus, nach der Sollvorschrift des § 91 Abs. 4 SGB IX habe er im Regelfall die
Zustimmung zu erteilen, wenn die außerordentliche Kündigung eines Behinderten aus
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einem Grunde erfolgen solle, der nicht mit der Behinderung im Zusammenhang stehe.
Zwar trage der Kläger unter Vorlage ärztlicher Stellungnahmen einen solchen
Zusammenhang vor. Zu Schwere und Auswirkungen der Symptomatik sei diesen
Stellungnahmen aber nichts zu entnehmen. Dr. G. habe nur attestiert, dass es möglich
sei, dass es bei der Erkrankung des Klägers phasenweise zu Einschränkungen der
Wahrnehmungsfähigkeit im Bereich der Umgebung des Widerspruchsführers komme.
Ob und in welcher Ausprägung eine solche Einschränkung am 4. Mai 2008 vorgelegen
habe, lasse das Kurzattest offen. Es sei insoweit weder nachgewiesen noch erkennbar,
dass die Kündigung im Zusammenhang mit der Behinderung des Widerspruchsführers
stehe. Atypische Umstände, die entgegen der Sollvorschrift des § 91 Abs. 4 SGB IX zu
einer Entscheidung nach pflichtgemäßem Ermessen führten, seien nicht erkennbar. Das
sei nur der Fall, wenn der schwerbehinderte Mensch in einer die Schutzzwecke des
SGB IX berührenden Weise besonders hart getroffen werde und ihm ein Sonderopfer
abverlangt werde. Auch die 23-jährige Betriebszugehörigkeit des Klägers begründe kein
Sonderopfer. Der Hinweis der eingeschränkten Wahrnehmungs- und
Steuerungsfähigkeit werde als Versuch einer nachträglichen Rechtfertigung des
Fehlverhaltens gewertet. Die weitergehende Frage, ob dieser Rechtfertigungsversuch
dazu führen könne, die Kündigung sozialwidrig zu machen, sei Aufgabe der
Arbeitsgerichtsbarkeit. Auf Bl. 198 ff. wird wegen der weiteren Einzelheiten Bezug
genommen.
Der Sachverständige Dr. N. von der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der
Marienborn gGmbH in Zülpich führte in seinem für das Arbeitsgericht erstellten
Gutachten unter dem 22. Juli 2009 u.a. aus, während der Untersuchung sei der Proband
kooperativ gewesen und habe die Fragen sachlich, zurückhaltend beantwortet. Er habe
nie den Eindruck hinterlassen, seine Problematik zu aggravieren. Die Angaben hätten
immer einen kongruenten emotionalen Hintergrund gehabt. Zur strafrechtlich relevanten
Beeinträchtigung der Verhaltensgestaltung und Steuerung, der emotionalen
Wahrnehmung und der Informationsstörung habe im Fall des Klägers nur eine
dissoziative Störung führen können. Hauptmerkmal sei eine Unterbrechung der
normalerweise integrativen Funktionen des Bewusstseins, des Gedächtnisses, der
Identität oder Wahrnehmung der Umwelt. Die Störung könne plötzlich oder allmählich
auftreten und sowohl vorübergehend wie auch chronisch verlaufen. Diagnostische
Kriterien nach ICD 10: F 44 seien: 1. Die klinischen Merkmale der einzelnen Störung
seien erfüllt, 2. es gebe keine körperlichen Erkrankungen, welche die Symptome
erklären könnten und 3. es gebe einen Beleg für eine psychische Verursachung, d.h.
einen zeitlichen Zusammenhang mit Belastungen, Problemen oder gestörten
Beziehungen. Der Sachverständige bezieht sich auf die dissoziative Amnesie und die
dissoziative Fuge. Erstere zentriere sich gewöhnlich auf traumatische Ereignisse.
Letztere sei eine zielgerichtete Ortsveränderung von zu Hause oder vom Arbeitsplatz
fort, wobei die Person sich äußerlich geordnet verhalte. Verbunden sei dies mit der
Unfähigkeit, sich an seine gesamte oder Teile der Vergangenheit zu erinnern und damit,
verwirrt über die eigene Identität zu sein oder eine neue Identität anzunehmen. In beiden
Codierungsmanualen werde darauf hingewiesen, dass bei den dissoziativen
Symptomen die Unterscheidung zwischen krankhaften - nicht willentlich
beeinflussbaren - dissoziativen Phänomenen und Simulation sehr schwer sei. Eine
psychiatrisch relevante Traumatisierung habe bei dem Kläger nicht eruiert werden
können, so dass ein wichtiges Argument für die Diagnostik einer dissoziativen Störung
fehle. In Anbetracht der glaubwürdigen Angaben des Klägers über Handlungen im
letzten Jahr scheine bei ihm eine gewisse Bereitschaft vorzuliegen, für die Umgebung
nicht nachvollziehbare Handlungen durchzuführen. Berücksichtige man alle Aspekte,
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scheine es möglich zu sein, dass die Entscheidung zur Tat und die Durchführung der
Tat unter einem gewissen Einfluss von dissoziativen/spaltenden intrapsychischen
Mechanismen vollzogen worden sei. Diese Mechanismen könnten möglicherweise
mitgewirkt haben, dass der Proband diese wenig gewinnbringende Entscheidung
getroffen habe unter Nichtbeachtung der erheblichen strafrechtlichen Folgen seiner Tat.
In diesem Sinne hätten seine Kontroll-Mechanismen nicht ausreichend gegriffen.
Zusammenfassend führt der Sachverständige aus: "Nach Auswertung der
Gerichtsunterlagen sowie der ambulanten stationären Explorationen und der
apparativen Untersuchungen bin ich der Auffassung, dass dissoziative intrapsychische
Mechanismen für die Ingangsetzung und Durchführung der für die Entwendung von
Kraftstoff aus dem Bagger der Beklagten möglicherweise bis wahrscheinlich insoweit
eine Rolle gespielt haben, dass dadurch das Bewusstsein eine Straftat zu begehen
soweit gemindert hat (war?, Anm. d. BE), dass die Kontrollmechanismen nicht
ausgereicht haben, die Tat zu verhindern. Dass das Bewusstsein des Unrechts seiner
Tat doch vorhanden war, ist aus der Reaktion des Probanden (panikartige Flucht) zu
entnehmen. Nach Auswertung der mir bekannten Fakten komme ich zu dem Ergebnis,
dass Herr I1. den Diebstahl in einem Zustand der geminderten Schuldfähigkeit
begangen hat." Auf Bl. 69 bis 91 der Gerichtsakte wird wegen der Einzelheiten des
Gutachtens Bezug genommen.
Der Kläger hat bereits am 29. April 2009 Klage erhoben. Zur Begründung wiederholt
und vertieft er die Ausführungen des Verwaltungsverfahrens. Insbesondere führt er aus,
der Beklagte habe seine Ermessensentscheidung entgegen § 20 Sozialgesetzbuch -
Zehntes Buch - (SGB X) auf eine unzureichend ermittelte Tatsachengrundlage gestützt.
Er sei trotz umfassenden Vortrags weder den angebotenen Beweisen nachgegangen
noch habe er selbständige Nachforschungen betrieben. Er gehe sogar - entgegen der
Rechtsprechung - von einer Beweislast des Klägers aus. In einem Telefonat mit seinem
Prozessbevollmächtigten habe Herr Dr. G. erneut betont, dass die psychischen
Auffälligkeiten nach seiner Einschätzung in unmittelbarem Zusammenhang mit der
Erkrankung Morbus Crohn ständen. Der Beklagte übersehe des Weiteren, dass bereits
eine mittelbare Kausalität nicht ausgeschlossen werden könne. Es liege ein
Ermessensfehlgebrauch vor. Allein die Tatsache, dass die Entscheidung auf einem
unvollständigen Sachverhalt beruhe, genüge für ihre Aufhebung. Der Beklagte habe
den Schutzgedanken des SGB IX vernachlässigt und die Abwägung der
widerstreitenden Interessen unterlassen.
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Das vorliegende Gutachten bestätige, dass er bei der offensichtlich unsinnigen und für
ihn keinen Vorteil bringenden Tat in einem Zustand der geminderten Schuldfähigkeit
gewesen sei. Die Vermutung liege nahe, dass dies eine unmittelbare oder mittelbare
Folge seiner Schwerbehinderung gewesen sei. Die Tat sei unstreitig in eine depressive
Episode verbunden mit Angstzuständen, ständiger Unruhe und Schlaf- bzw.
Konzentrationsstörungen gefallen, die offensichtlich mit seiner schweren Erkrankung
zusammenhing. Die Zustimmungsentscheidung des Beklagten sei daher
rechtsfehlerhaft. Der Beklagte habe der Frage des Zusammenhangs von Behinderung
und Kündigungsgrund durch Einholung eines Sachverständigengutachtens nachgehen
müssen und habe sein Ermessen nicht ausgeübt.
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Der Kläger beantragt,
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den Bescheid des Beklagten vom 23. Mai 2008 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides des Widerspruchsausschusses beim Integrationsamt des
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Beklagten vom 30. März 2009 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er trägt vor, der Widerspruchsausschuss habe keinen Zusammenhang zwischen der
Behinderung und dem Kündigungsgrund gesehen. Für einen Zusammenhang reiche
nicht jedweder Einfluss der Behinderung auf das Verhalten des Behinderten. Dieser sei
vielmehr erst dann gegeben, wenn die jeweilige Behinderung unmittelbar oder mittelbar
zu Defiziten in der Einsichtsfähigkeit und/oder Verhaltenssteuerung des
schwerbehinderten Arbeitnehmers geführt habe, denen behinderungsbedingt nicht habe
entgegengewirkt werden können, und wenn das der Kündigung aus wichtigem Grund
zugrundeliegende Verhalten gerade auf diese behinderungsbedingte, mangelhafte
Verhaltenssteuerung zurückzuführen sei. Aus der anerkannten psychischen Erkrankung
des Klägers sei keine immerwährende Bewusstseinsstörung und Steuerungsunfähigkeit
abzuleiten. Auch die vom Kläger vorgetragenen Verhaltensauffälligkeiten in seinem
privaten Umfeld könnten keinen Zusammenhang begründen. Dies seien Tätigkeiten in
seinem unmittelbaren Umfeld gewesen, die durch logischen Menschenverstand nicht
nachvollziehbar gewesen seien und hätten auf einer eher spontanen Handlungsweise
beruht. Bei dem Verhalten des Klägers am 4. Mai 2008 müsse aber von einer gewissen
Planung ausgegangen werden. Schon die Tatsache, dass er sein Auto mit mehreren
Bezinkanistern und Zubehör beladen habe, zeuge von einer Planung der Tat und somit
von Bewusstsein, ebenso, dass er am Tatort den Kofferraumdeckel mit einer Decke
verdeckt habe, so dass aus der Ferne das Nummernschild nicht habe gesehen werden
können. Er bezieht sich zudem vollumfänglich auf die Ausführungen der Beigeladenen.
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Ergänzend trägt er vor, das im arbeitsgerichtlichen Verfahren eingeholte Gutachten
lasse ebenfalls nicht erkennen, dass der Kläger aufgrund einer krankheitsbedingten
Bewusstseinsstörung nicht in der Lage war, sein Vorgehen am 4. Mai 2008 zu steuern.
Zwar sei der Gutachter zu dem Ergebnis gekommen, der Kläger habe den Diebstahl im
Zustand geminderter Schuldfähigkeit begangen. Er habe aber auch ausgeführt, das
Bewusstsein des Unrechts der Tat sei vorhanden gewesen. Zu der Fragestellung des
Gerichts habe der Gutachter keine sichere Aussage treffen können, vielmehr nur von
Möglichkeiten gesprochen. Dies stelle kein aussagekräftiges Beweismittel für einen
Zusammenhang zwischen der anerkannten Behinderung und dem Kündigungsgrund
dar.
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Die Beigeladene beantragt ebenfalls,
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die Klage abzuweisen.
26
Sie trägt u.a. vor, der Beklagte habe bei lückenloser Würdigung des ihm vorliegenden
Sachverhalts zu Recht festgestellt, dass die Kündigung aus einem Grund erfolgt sei, der
nicht in Zusammenhang mit der Behinderung stehe. Wichtiger Grund im Sinne von §
626 BGB sei das Fehlverhalten des Klägers am Abend des 4. Mai 2008, eine
vorsätzliche rechtswidrige Tat nach §§ 242 Abs. 1 und 2, 22 Strafgesetzbuch (StGB).
Sie habe Strafanzeige gestellt. Den klägerischen Vortrag werte sie als bloßes
Schutzargument. Das der Kündigung zugrunde liegende Verhalten des Klägers lasse
einen Zusammenhang mit den Krankheiten des Klägers, die zu dessen Behinderung
führen, nicht erkennen. Es gebe ebensowenig Anhaltspunkte dafür, dass die
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Schwerbehinderung des Klägers zu Wahrnehmungsstörungen und
Steuerungsunfähigkeiten geführt habe und so die Begehung von Diebstählen gefördert
werde. Die mitgeteilten Diagnosen "schwere depressive Episode, Crohn-Krankheit und
Somatisierungsstörung" ließen nicht auf Beeinträchtigungen von Wahrnehmungs- und
Steuerungsfähigkeit schließen. Der behauptete Zusammenhang sei konstruiert. Er folge
nicht aus den vorgelegten ärztlichen Berichten. Der Beklagte sei nicht nach § 21 Abs. 1
Satz 2 Nr. 2 SGB X verpflichtet gewesen, ein Sachverständigengutachten einzuholen.
Er habe auch nicht den Schutzzweck des SGB IX verkannt. Es sei ausgeschlossen,
dass der Kläger aufgrund seiner Schwerbehinderung benachteiligt werde, weil ihm nach
einem vorsätzlichen und rechtswidrigen Diebstahlsversuch gekündigt worden sei.
Selbst wenn der Kläger die Tat - möglicherweise - in einem Zustand verminderter
Schuldfähigkeit begangen haben sollte, würde eine Abwägung der widerstreitenden
Interessen zu einer Wirksamkeit der außerordentlichen Kündigung führen. Es sei ihr
nicht zuzumuten, einen Arbeitnehmer weiter zu beschäftigen, der zu ihren Lasten eine
vorsätzliche und rechtswidrige Tat begangen habe. Wegen der weiteren Einzelheiten
wird auf Bl. 47 bis 51 der Gerichtsakte Bezug genommen. Die Beigeladene legt u.a. das
nicht vom Kläger unterschriebene Protokoll des Disziplinargesprächs vom 7. Mai 2008
vor. Auf Bl. 57 f. der Gerichtsakte wird insoweit Bezug genommen.
Ergänzend führt sie aus, zwischen den medizinischen Feststellungen des Gutachters im
arbeitsgerichtlichen Verfahren und der Gerichtsfrage bestehe kein nachvollziehbarer
Zusammenhang. Der Gutachter schließe (allein) aus der Unsinnigkeit des Verhaltens
des Klägers darauf, dass die Tat möglicherweise unter einem gewissen Einfluss von
dissoziativen/spaltenden intrapsychischen Mechanismen vollzogen worden sein könne.
Die Beantwortung der Gerichtsfrage auf Seite 22 und 23 des Gutachtens liege für sie
außerhalb des Nachvollziehbaren. Die Schlussfolgerungen des Gutachters seien nach
ihrer - zugegeben laienhaften - Einschätzung keinesfalls zwingend.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte dieses Verfahrens und des arbeitsgerichtlichen Verfahrens 9 Ca 4734/08,
ferner des beigezogenen Verwaltungsvorgangs des Beklagten ergänzend Bezug
genommen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
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Die Klage ist zulässig und begründet. Die angegriffenen Bescheide des Beklagten vom
23. Mai 2008 und 30. März 2009 sind rechtswidrig, der Kläger wird durch sie in seinen
Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Die
gesetzlichen Voraussetzungen einer Zustimmung zu der außerordentlichen Kündigung
des Klägers lagen nicht vor.
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Rechtsgrundlage für die Entscheidung über den Antrag eines Arbeitgebers auf
Zustimmung zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit einem schwerbehinderten
Arbeitnehmer sind die §§ 85 ff Sozialgesetzbuch - Neuntes Buch - (SGB IX). Danach
trifft das Integrationsamt seine Entscheidung grundsätzlich nach pflichtgemäßem
Ermessen. Die Entscheidung ist am Zweck des Sonderkündigungsschutzes
ausgerichtet und das Integrationsamt hat bei dieser Ermessensentscheidung von Amts
wegen all das zu ermitteln, was erforderlich ist, um die gegensätzlichen Interessen des
Arbeitgebers und des schwerbehinderten Arbeitsnehmers abwägen zu können.
32
Vgl. BVerwG, U. v. 19.10.1995 - 5 C 24/93 -, JURIS; OVG NRW, B. v. 25.02.2009 - 12 A
33
96/09 -, Juris, m. umf. w. N.; Bay VGH, U. v. 22. Oktober 2008 - 12 BV 07.2256 -, JURIS.
Es ist dem Fürsorgegedanken des Gesetzes Rechnung zu tragen, das die Nachteile des
behinderten Arbeitnehmers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausgleichen will und
dafür in Kauf nimmt, dass die Gestaltungsfreiheit des Arbeitgebers eingeengt wird.
Besonders hohe Anforderungen an die Zumutbarkeit beim Arbeitgeber sind im Rahmen
der Abwägung dann zu stellen, wenn die Kündigung auf Gründen beruht, die in der
Behinderung selbst ihre Ursache haben. Dies gilt grundsätzlich auch im Fall einer
außerordentlichen Kündigung. An die Schwere des Kündigungsgrundes sind in dem
Fall besonders hohe Anforderungen zu stellen.
34
Vgl. OVG NRW, B. v. 25.02.2009 - 12 A 96/09 -, a.a.O.; Bay VGH, U. v. 18. März 2009 -
12 B 08.3327 -, JURIS.
35
Lediglich in den Fällen des § 89 und des § 91 Abs. 4 SGB IX findet eine Einschränkung
dieses Ermessens zu Gunsten des Arbeitgebers statt. Soweit das Arbeitsverhältnis - wie
vorliegend - außerordentlich aus wichtigem Grund gekündigt werden soll, ist § 91 SGB
IX einschlägig. Danach soll die Zustimmung erteilt werden, wenn die Kündigung aus
einem Grund erfolgt, der nicht im Zusammenhang mit der Behinderung steht. In diesem
Fall ist das dem Integrationsamt grundsätzlich eingeräumte Ermessen gebunden, die
Zustimmung "soll" erteilt werden. Der Wortlaut der Bestimmung, die die
Ermessenseinschränkung an das negative Tatbestandsmerkmal des Nichtbestehens
eines Zusammenhangs knüpft, bedeutet, dass in all den Fällen, in denen dies nicht
festgestellt werden kann, vielmehr ein Zusammenhang besteht oder bestehen könnte,
die Ermessensbeschränkung nicht eintritt, sondern eine nicht näher beschränkte
Ermessensentscheidung zu treffen ist,
36
vgl. BayVGH, B. v. 14. März 2008 - 12 ZB 07.1720 -, JURIS; VG Köln, U. v. 28. April
1999 - 21 K 5396/98 - m.H.a. OVG Lüneburg, U. v. 9. März 1994 - 4 L 3927/92 -, JURIS,
und VGH Mannheim, U. v. 3. Mai 1993 - 7 S 2773/92 -, JURIS, zu dem vergleichbaren §
21 Abs. 4 SchwbG; VG Frankfurt, U. v. 28. November 2007 - 7 E 1236/07 -, JURIS;
dass., U. v. 14. August 2008 - 7 E 2579/07 -, JURIS; Trenk-Hinterberger in
Lachwitz/Schellhorn/Welti, HK-SGB IX, 2. Aufl. 2006, § 91 Rdnr. 25, 27 m.w.N.;
Neumann in Neumann/Pahlen/Majerski-Pahlen, § 91 Rdnr. 25 m.w.N..
37
Dass schon die Möglichkeit eines Zusammenhangs die Anwendbarkeit der Regelung
des Absatzes 4 entfallen lässt, folgt bereits aus der Systematik des § 91 SGB IX und
dem Sinn und Zweck des Schwerbehindertenschutzes. Nach § 91 Abs. 3 trifft nämlich
das Integrationsamt die Entscheidung innerhalb von zwei Wochen vom Tage des
Eingangs des Antrages an. Entscheidet es nicht in der Zeit, tritt - wie im streitigen Fall -
zu Lasten des schwerbehinderten Arbeitnehmers die Zustimmungsfiktion ein. Der Sinn
und Zweck des Schwerbehindertenschutzes würde aber ins Gegenteil verkehrt, wenn
mangels rechtzeitiger abschließender Aufklärungsmöglichkeit die Zustimmung fingiert
würde, obwohl bereits Anhaltspunkte für einen Zusammenhang zwischen Behinderung
und Kündigungsgrund bestehen, was nach den o.a. Grundsätzen eigentlich in der
Abwägung der Interessen zu besonders hohen Anforderungen an die Schwere des
Kündigungsgrundes auf Seiten des Arbeitgebers führen würde.
38
Vgl. OVG Lüneburg, U.v. 9. März 1994 - 4 L 3927/92 -, JURIS, Rdnr. 33.
39
Derartige Anhaltspunkte bestanden im klägerischen Fall wegen der dem Beklagten
40
vorliegenden Stellungnahmen des Vertrauensmanns der Schwerbehinderten vom 15.
Mai 2008 sowie dem ärztlichen Kurzbericht der Hausärzte Dres. G. und Partner vom 15.
Mai 2008, dem Befundbericht der Stationsärztin der Rheinischen Kliniken Düren vom
14. Mai 2008 und den detaillierten, auch von dem Beklagten nicht in Zweifel gezogenen
klägerischen Schilderungen unerklärlicher Verhaltensweisen der jüngeren
Vergangenheit. Wegen der Einzelheiten wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf
Bl. 4 - 7 des Tatbestands Bezug genommen.
Ein Zusammenhang zwischen Behinderung und Kündigungsgrund ist dann gegeben,
wenn die Behinderung bei dem den Kündigungsgrund bildenden Verhalten des
schwerbehinderten Menschen eine wesentliche Rolle gespielt hat, das Verhalten des
schwerbehinderten Menschen sich bei natürlicher Betrachtung zwanglos ergibt und
nicht nur in einem entfernten Zusammenhang steht. Dabei genügt aber auch ein bloß
mittelbarer Zusammenhang. Die jeweilige Behinderung muss also unmittelbar oder
mittelbar zu Defiziten in der Einsichtsfähigkeit und/oder Verhaltenssteuerung des
schwerbehinderten Arbeitnehmers geführt haben, denen behinderungsbedingt nicht
entgegengewirkt werden konnte, und das der Kündigung aus wichtigem Grund
zugrunde liegende Verhalten des schwerbehinderten Arbeitnehmers muss gerade auf
diese behinderungsbedingte, mangelhafte Verhaltenssteuerung zurückzuführen sein,
41
vgl. OVG NRW,B. v. 22. Januar 2009 - 12 A 2094/08 -; dass., B. v. 13. Juni 2006 - 12 A
1880/06 -, JURIS; dass., B. v. 23. Mai 2000 - 22 A 3145/98 -, JURIS, m.w.N..
42
Die Beweislast für den fehlenden Zusammenhang trägt der Beklagte.
43
Von der Bindung seiner Entscheidung infolge fehlenden Zusammenhangs zwischen
Behinderung und Kündigungsgrund ist der Beklagte unzutreffender Weise
ausgegangen, so dass seine Entscheidung aufzuheben ist. Er hat diesen fehlenden
Zusammenhang nicht bewiesen.
44
Vielmehr kann ein mittelbarer Zusammenhang zwischen der Behinderung und dem
Kündigungsgrund nicht ausgeschlossen werden. Dies folgt aus dem Gutachten des
Sachverständigen Dr. N. . Dieser führt zusammenfassend aus, berücksichtige man alle
Aspekte, scheine es möglich zu sein, dass die Entscheidung zur Tat und die
Durchführung der Tat unter einem gewissen Einfluss von dissoziativen/spaltenden
intrapsychischen Mechanismen vollzogen worden sei. Diese Mechanismen könnten
möglicherweise mitgewirkt haben, dass der Proband diese wenig gewinnbringende
Entscheidung getroffen habe unter Nichtbeachtung der erheblichen strafrechtlichen
Folgen seiner Tat. In diesem Zusammenhang hätten seine Kontroll-Mechanismen nicht
ausreichend gegriffen. Er sei nach Auswertung der Gerichtsunterlagen sowie der
ambulanten stationären Explorationen und der apparativen Untersuchungen der
Auffassung, dass dissoziative intrapsychische Mechanismen für die Ingangsetzung und
Durchführung der für die Entwendung von Kraftstoff aus dem Bagger der Beklagten
möglicherweise bis wahrscheinlich insoweit eine Rolle gespielt hätten, dass dadurch
das Bewusstsein, eine Straftat zu begehen, soweit gemindert gewesen sei, dass die
Kontrollmechanismen nicht ausgereicht hätten, die Tat zu verhindern. Er gehe von
einem Diebstahl im Zustand verminderter Schuldfähigkeit aus. Wegen der weiteren
Einzelheiten wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf Bl. 10 bis 11 des
Tatbestands Bezug genommen.
45
Da der Beklagte sein demzufolge nicht eingeschränktes Ermessen nicht ausgeübt, auch
46
die für eine sachgerechte Ermessensausübung erforderliche Aufklärung nicht
vorgenommen und nicht alle maßgeblichen Umstände in seine Entscheidung
einbezogen hat, die Entscheidung also auf unzutreffenden rechtlichen Voraussetzungen
(bestehende rechtliche Bindung) beruht und dementsprechend i.S.d. § 114 VwGO von
dem tatsächlich bestehenden Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht
entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist,
vgl. OVG NRW, B. v. 3. Februar 2009 - 12 A 1931/08 - und 25. Februar 2009 - 12 A
96/09 -, a.a.O.; BayVGH, U. v. 22. Oktober 2008 - 12 BV 07.2256 -, a.a.O.,
47
ist die Entscheidung aufzuheben.
48
Ein Nachschieben von Gründen kommt nicht in Betracht, da zum einen eine
vollständige Nachholung von Ermessenserwägungen ausscheidet,
49
vgl. VG Köln, U. v. 7. April 2009 - 26 K 5528/08 -,
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und zum anderen vorliegend die Widerspruchsentscheidung durch einen
Widerspruchsausschuss getroffen wurde und nicht mit Sicherheit festgestellt werden
kann, wie eine Ermessensentscheidung dieses Ausschusses ausgefallen wäre, wenn
dieser Gelegenheit zur Beurteilung der Gründe gehabt hätte.
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Vgl. OVG NRW, B. v. 21. Dezember 2007 - 12 A 2269/07 -, JURIS, Rdnr. 41 ff.
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Auch eine Ermessensreduzierung auf Null liegt im Fall des fünfundfünfzig Jahre alten,
zur Zeit der Widerspruchsentscheidung mit einem GdB von 100 behinderten Klägers,
der unstreitig bis zu dem kündigungsrelevanten Vorfall seit 23 Jahren
beanstandungsfrei für die Beigeladene gearbeitet hatte, nicht vor.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2, 154 Abs. 3 VwGO. Die
Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711
Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO).
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