Urteil des VG Köln vom 08.01.2009
VG Köln: russische föderation, bundesamt für migration, verschlechterung des gesundheitszustandes, gefahr, psychiatrisches gutachten, amnesty international, medikamentöse behandlung, auskunft
Verwaltungsgericht Köln, 1 K 4267/05.A
Datum:
08.01.2009
Gericht:
Verwaltungsgericht Köln
Spruchkörper:
1. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
1 K 4267/05.A
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens tragen die Kläger.
Tatbestand
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Die Kläger sind russische Staatsangehörige tschetschenischer Volkszugehörigkeit. Die
Kläger zu 1) und 2) sind verheiratet; die Kläger zu 3) und 4) sind ihre ehelichen Kinder.
Die Familie lebte nach eigenen Angaben seit 1992/1993 in Moskau.
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Im Oktober 1999 reisten sie auf dem Luftwege von Moskau nach Alicante (Spanien) und
von dort mit dem Bus nach Deutschland ein.
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Ihren ersten Asylantrag vom 29. Oktober 1999, der im Wesentlichen mit der Befürchtung
des Klägers zu 1) begründet wurde, er werde wegen seiner tschetschenischen
Volkszugehörigkeit als Terrorist angesehen und eventuell gegen russische
Kriegsgefangene ausgetauscht, lehnte das Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge mit Bescheid vom 22. Januar 2002 ab (Ziffer 1). Zugleich
stellte es fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (Ziffer 2) sowie
Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG (Ziffer 3) nicht vorliegen und drohte den
Klägern die Abschiebung in die Russische Föderation an (Ziffer 4).
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Die dagegen erhobenen Klagen des Klägers zu 1) -12 K 2255/01.A- sowie der Kläger
zu 2) bis 4) -12 K 9318/03.A- wies das Verwaltungsgericht Köln durch zwei Urteile vom
27. Januar 2004 ab. Die Anträge auf Zulassung der Berufung lehnte das OVG NRW mit
Beschlüssen vom 12. März 2004 -11 A 932/04.A und 11 A 933/04.A- ab.
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Die Kläger haben am 10. Februar 2005 Folgeanträge gestellt, mit denen sie im
Wesentlichen geltend machen: Seit dem Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung
habe sich die Sach- und Beweislage in entscheidungserheblicher Weise verändert.
Eine Änderung der Beweislage ergebe sich aus der Auskunft der Deutsch-
Kaukasischen Gesellschaft vom 20. Januar 2005. Daraus lasse sich ableiten, dass seit
dem Attentat auf A. Kadyrov und den Ereignissen von Beslan russische
Spezialeinheiten und Todesschwadrone gezielt Jagd auf tschetschenische Aktivisten
machten und dass auch Sippenhaft praktiziert werde. Deshalb gewinne der Umstand,
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dass vier Cousins des Klägers zu 1) aktive Teilnehmer des tschetschenischen
Widerstands seien bzw. gewesen seien, eine neue Bedeutung. Als neues Beweismittel
zu den Angaben in der vorgenannten Auskunft komme ferner der darin erwähnte B. C. in
Betracht. Insgesamt gesehen bestehe nunmehr die Gefahr, dass der Kläger zu 1) für
seine aktiven Verwandten in Sippenhaft genommen werde. Ferner komme nunmehr den
bereits im Erstverfahren dargelegten exilpolitischen Aktivitäten des Klägers als
überregional bekannter Gründer der tschetschenischen Organisation "O. " sowie als
Veranstalter und Organisator tschetschenischer Großkundgebungen in Deutschland
eine andere Bedeutung zu. Denn auf der Grundlage der vorerwähnten Auskunft vom 20.
Januar 2005 sei -abweichend von der gerichtliche Einschätzung im Erstverfahren-
davon auszugehen, dass die Putin-Administration jeden als Terroristen einstufe, der
russische Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien kritisiere und
tschetschenische Flüchtlinge unterstütze. Eine Veränderung der Sachlage sei
schließlich auch darin zu sehen, dass der Kläger zu 1) am 11. Dezember 2004 an einer
gemeinsamen Kundgebung der Deutsch-Kaukasischen Gesellschaft und "O. " in Berlin
vor dem Brandenburger Tor teilgenommen habe. Es sei davon auszugehen, dass die
Russische Botschaft diese Aktivität registriert habe und er deshalb bei einer Rückkehr
nach Russland mit politischer Verfolgung zu rechnen habe. Bezüglich der Kläger zu 2)
bis 4) seien die Bestimmungen zum Familienabschiebungsschutz einschlägig.
Mit Bescheid vom 27. Juni 2005 -als Einschreiben zur Post gegeben am 4. Juli 2005-
lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) die Anträge auf
Durchführung eines weiteren Asylverfahrens (Ziffer 1) sowie auf Abänderung der
Feststellungen zu § 53 Abs. 1 bis 6 AuslG aus dem Bescheid vom 22. Januar 2002
(Ziffer 2) ab.
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Die Kläger haben am 18. Juli 2005 Klage erhoben, mit der sie über ihren Vortrag im
Vorverfahren hinaus geltend machen: Die Klägerin zu 2) dürfe nicht abgeschoben
werden, da sie an einer rezidivierenden Angst- und depressiver Störung gemischt mit
Somatisierungsstörung bei posttraumatischer Belastungsstörung leide.
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Die Kläger beantragen,
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die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom 27.
Juni 2005 zu verpflichten, 1) ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, 2)
hilfsweise festzustellen, dass bei ihnen ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 bis 5
oder Abs. 7 Aufenthaltsgesetz vorliegt.
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Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
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Sie verteidigt den angegriffenen Bescheid.
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Die Kammer hat über den Krankheitszustand der Klägerin zu 2) und seine
Abschiebungsrelevanz u.a. ein psychiatrisches Gutachten eingeholt.
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Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Verfahrensakte, Gerichtsakten des Erstverfahrens sowie der beigezogenen
Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.
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Entscheidungsgründe
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Die Klage ist unbegründet.
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Der angefochtene Ablehnungsbescheid des Bundesamtes vom 27. Juni 2005 ist
rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 der
Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
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1) Die Kläger haben nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der
gerichtlichen Entscheidung, § 77 Abs. 1 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG), keinen
Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach §§ 3 Abs. 1, 31 Abs. 2
AsylVfG, da bei ihnen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz
(AufenthG) nicht vorliegen.
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Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben
werden, in dem sein Leben, seine Freiheit oder seine körperliche Unversehrtheit wegen
bestimmter asylerheblicher Merkmale, nämlich seiner Rasse, Religion,
Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder
wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Für die Feststellung, ob in diesem
Sinne eine Verfolgung vorliegt, sind Art. 4 Abs, 4 und Art. 7 bis 10 der Richtlinie
2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004, ABl. EU Nr. L 304 S. 12,
(Qualifikationsrichtlinie) ergänzend anzuwenden (§ 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG).
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Außerdem ist hier zu berücksichtigen, dass es sich um einen Folgeantrag handelt.
Aufgrund eines solchen Antrages ist nach § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ein weiteres
Asylverfahren nur dann durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis
3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens
vorliegen. Nach § 51 Abs. 1 VwVfG ist maßgebend, ob sich die dem
Ablehnungsbescheid über den ersten Asylantrag zugrunde liegende Sach- und
Rechtslage nachträglich zugunsten des Asylbewerbers geändert hat, neue Beweismittel
vorliegen, die eine für den Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben
würden, oder Wiederaufnahmegründe nach § 580 der Zivilprozessordnung (ZPO)
gegeben sind. Nach § 51 Abs. 2 VwVfG ist ferner erforderlich, dass der Betroffene ohne
grobes Verschulden außerstande war, den Wiederaufnahmegrund in dem früheren
Verfahren geltend zu machen. Nach der Bestimmung des § 51 Abs. 3 VwVfG muss der
Wiederaufnahmeantrag zudem binnen drei Monaten nach Kenntnisnahme des
Wiederaufnahmegrundes gestellt werden. Begründet ist der Antrag sodann, wenn eine
(nachträgliche) Änderung der Sach- oder Rechtslage tatsächlich vorliegt und diese
geeignet ist, eine neue, andere Sachentscheidung herbeizuführen. Erst auf einer dritten
Stufe erfolgt dann die Prüfung, ob dem Asylbegehren nach dem maßgeblichen
materiellen Recht stattzugeben ist oder nicht.
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Vgl. hierzu ausführlich: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 24. April 1997,
NVwZ-Beilage 10/1997, S. 75.
21
Zunächst liegen keine neuen Beweismittel im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG vor.
Bei der insoweit von den Klägern ins Feld geführten -sogenannten- Auskunft der
Deutsch-Kaukasischen Gesellschaft vom 20. Januar 2005 handelt es sich nicht um ein
Beweismittel, da sie nicht geeignet ist, das Vorliegen oder Nichtvorliegen einer
Tatsache zu beweisen,
22
Vgl.: Kopp/Ramsauer, Verwaltungsverfahrensgesetz, Kommentar,10. Aufl., Rn. 32a zu §
51
23
Sie stellt lediglich die schriftliche Meinungsäußerung einer dem Kläger zu 1) politisch
nahe stehenden Organisation dar. Für die Frage der inhaltlichen Richtigkeit gibt sie
nichts her. Deshalb lässt sich auch auf die von dieser "Auskunft" abgeleiteten
Verfolgungserwägungen des Klägers zu 1) kein Wiederaufnahmebegehren stützen.
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Ebenso wenig kann von einer nachträglichen Änderung der Sachlage im Sinne des §
51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG die Rede sein. Die insoweit vorgetragene Teilnahme des
Klägers zu 1) an der Kundgebung vom 11. Dezember 2004 in Berlin, begründet nicht mit
überwiegender Wahrscheinlichkeit eine politische Verfolgungsgefahr bei Rückkehr in
die Russische Föderation. Es ist nicht überwiegend wahrscheinlich, sondern lediglich
nicht auszuschließen, dass sich russische Stellen über Aktivitäten tschetschenischer
Volkszugehöriger im Ausland kundig machen,
25
so: amnesty international vom 28. Februar 2008 gegenüber VG Köln.
26
Selbst wenn man jedoch davon ausginge, dass die Kundgebungsteilnahme sowie der
Umstand, dass der Kläger zu 1) Gründungsmitglied von "O. " war, den russischen
Behörden bekannt geworden ist und er sich somit in deren Augen in der
Tschetschenienfrage engagiert hat, löste dies im Rückkehrfalle bei diesen Behörden
allenfalls "besondere Aufmerksamkeit" aus,
27
vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der
Russischen Förderation (Stand: Oktober 2008), S. 26.
28
Das bedeutet nach der vom Gericht eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amtes vom
26. Februar 2008 (508-516.80/45630), dass kurzfristige Festnahmen und längere
Befragungen (sog. "vorbeugende Befragungen") durch die Polizei möglich bzw. nicht
auszuschließen sind, um eventuelle Kontakte zu gewalttätigen Kämpfern aufzudecken.
Abgesehen davon, dass solche Maßnahmen jedenfalls nicht überwiegend
wahrscheinlich, sondern nur möglich bzw. nicht auszuschließen sind, fehlt ihnen
außerdem die nötige Intensität im Sinne von Art. 9 Qualifikationsrichtlinie.
29
2. Auch der Hilfsantrag ist unbegründet.
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Die Kläger haben keinen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens in Bezug auf
die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 bis 5 oder Abs. 7
Aufenthaltsgesetz -AufenthG- (früher § 53 Abs. 2 bis 6 AuslG). Von diesen
Abschiebungsverboten käme allenfalls § 60 Abs. 7 AufenthG in Betracht. Doch sind
auch insoweit die gesetzlichen Voraussetzungen nicht erfüllt, so dass auf sich beruhen
kann, ob in dieser Hinsicht überhaupt ein Wiederaufnahmegrund nach § 51 VwVfG
vorliegt.
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a) Das bei sachdienlicher Auslegung des Verpflichtungsantrags in erster Linie zu
prüfende Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG
32
so: BVerwG, Urteil vom 24. Juni 2008 -10 C 43.07-, juris
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greift nicht ein, da die Kläger in der Russischen Föderation nicht als Angehörige der
Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit im
Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt
34
sind. Zwar ist eine dauerhafte Befriedung der Lage in Tschetschenien noch nicht
eingetreten. Doch haben in den vergangenen zwei Jahren Razzien,
"Säuberungsaktionen", Plünderungen und Übergriffe durch pro-russische
Sicherheitskräfte, aber auch Guerilla-Aktivitäten und Geiselnahmen der Rebellen
deutlich abgenommen,
vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der
Russischen Förderation (Stand: Oktober 2008), S. 16.
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Unter diesen Umständen ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass gerade die Kläger bei
einer Rückkehr nach Tschetschenien innerstaatlichen bewaffneten Konflikten
ausgesetzt wären.
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b) Nach der hilfsweise
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so: BVerwG, Urteil vom 24. Juni 2008 -10 C 43.07-, a.a.O.
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zu prüfenden Vorschrift des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung
eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen
Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Das ist
u.a. dann der Fall, wenn die Gefahr besteht, dass sich eine Krankheit eines
ausreisepflichtigen Ausländers in seinem Heimatstaat mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit verschlimmert, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort
unzureichend sind. Erheblich im Sinne dieser Vorschrift ist die Gefahr dann, wenn sich
der Gesundheitszustand des Ausländers im Zielland der Abschiebung wesentlich
verschlechtern würde, was allerdings keine existentielle oder extreme Gefahr
voraussetzt, sondern bereits dann zu bejahen ist, wenn die Verschlimmerung zu einer
erheblichen Gefahr für Leib oder Leben führt. Würde der Ausländer alsbald - d.h. in
einem angemessenen Prognosezeitraum - nach seiner Rückkehr in sein Heimatland in
diese Lage geraten, weil er auf die dortigen unzureichenden Möglichkeiten zur
Behandlung seines Leidens angewiesen wäre und auch anderswo wirksame Hilfe nicht
in Anspruch nehmen könnte, so wäre die Gefahr zudem konkret. Insoweit muss die
Verschlechterung des Gesundheitszustandes mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit
eintreten, wobei im Rahmen der diesbezüglich anzustellenden Prognose auch die
Zumutbarkeit eines mit der Rückkehr verbundenen Risikos und der Rang des
gefährdeten Rechtsguts von Bedeutung sind,
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vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteile vom 05. Juli 1994 - 9 C 1/94 -,
InfAuslR 1995, 24, 26 f., vom 09. September 1997 - 9 C 48/96 -, InfAuslR 1998, 125, vom
25. November 1997 - 9 C 58/96 - DVBl. 1998, 284, 285, vom 21. September 1999 - 9 C
8.99 -, NVwZ 2000, 206, vom 29. Oktober 2002 - 1 C 1.02 -, DVBl 2003, 463 ff und vom
17. Oktober 2006 -1 C 18.05-; Beschluss vom 24. Mai 2006 -1 B 118.05-.
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Diese Voraussetzungen sind bei der insoweit allein in den Blick zu nehmenden
Klägerin zu 2) nicht erfüllt.
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Nach dem vom Gericht eingeholten psychiatrischen Gutachten des Facharztes für
Neurologie, Psychiatrie und Forensische Psychiatrie Dr. N. vom 08. Oktober 2007
(Sachverständigengutachten) leidet die Klägerin zu 2) an einer psychiatrisch-
psychotherapeutisch und medikamentös ambulant behandlungsbedürftigen
Panikstörung (ohne Agoraphobie) und an einer Anpassungsstörung mit depressiver
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Reaktion. Der Gutachter hält in psychotherapeutischer Hinsicht eine intensive kognitiv-
verhaltenstherapeutische Behandlung im Umfange von zunächst etwa 50
Therapiesitzungen zu je 50 Minuten für erforderlich. Danach müsse eine eventuell
erforderliche Weiterbehandlung je nach Behandlungserfolg neu geprüft werden. Die
medikamentöse Behandlung solle vorzugsweise mit einem Serotonin-Wiederaufnahme-
Hemmer oder einem Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer in
ausreichend hoher Dosierung über einen geeignet langen Zeitraum erfolgen. Auch hält
der Gutachter dafür, dass es ohne die adäquate Behandlung mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit zu einer weiteren Chronifizierung und Verschlechterung der
psychischen Erkrankung komme.
Das Gericht hat keinen Anlass, an der Richtigkeit dieser Diagnose und des
Therapievorschlags zu zweifeln. Doch selbst wenn die Folgen des Unterlassens der für
notwendig gehaltenen Behandlung eine erhebliche Verschlimmerung im Sinne einer
Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität
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so: BVerwG, Beschluss vom 25. Mai 2006 -1 B 118.05-
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bedeuteten, wäre nicht überwiegend wahrscheinlich, dass die Klägerin zu 2) die nötige
Behandlung in der russischen Föderation tatsächlich nicht erhielte. Nach der im
vorliegenden Verfahren eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 26. Februar
2008 (508-516.80/45630) hat die Klägerin zu 2) wie jeder russische Staatsangehörige
an seinem registrierten Wohnort ein grundsätzliches Anrecht auf kostenlose
medizinische Versorgung. Allerdings sei es im öffentlichen Gesundheitssystem üblich,
an Ärzte und medizinisches Personal "freiwillige Zahlungen" zu leisten. Zudem seien
Medikamente in den meisten Fällen von den Patienten zu bezahlen. Das Gericht hat
keinen Anlass, an der Richtigkeit dieser Auskunft zu zweifeln. Da die Klägerin zu 2) mit
ihrer Familie vor ihrer Ausreise etwa sechs Jahre in Moskau gelebt hat, ist davon
auszugehen, dass sie dort "registriert" war. Dass ihr oder dem Kläger zu 1) die nötigen
finanziellen Mittel für notwendige "freiwillige Zahlungen" und/oder für die o.g.
Medikamente nach Rückkehr nicht zur Verfügung stünden, ist nicht vorgetragen,
geschweige glaubhaft gemacht.
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Abgesehen davon ist auch nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erkennbar, dass
der Klägerin zu 2) die - hier unterstellte - erhebliche Verschlimmerung alsbald nach der
Rückkehr im Sinne einer konkreten Gefahr drohte. Der Gutachter hat die darauf
bezogenen Beweisfragen des Gerichts
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Führte diese Verschlimmerung zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder
Leben ? In welchem zeitlichen Abstand nach der Rückkehr drohte eine derartige Gefahr
?
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wie folgt beantwortet (Sachverständigengutachten S. 48/49):
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"Aufgrund der Komplexität des psychischen Erlebens und menschlicher
Reaktionsweisen in einer subjektiv sehr belastenden Lebenssituation können genaue
Wahrscheinlichkeiten für das mögliche Auftreten akuter Suizidalität aus fachärztlich-
psychiatrischer Sicht nicht angegeben werden. Dies gilt aus unserer Sicht noch
deutlicher für die Frage des zeitlichen Abstands des Auftretens von eventuell
auftretender akuter Suizidalität nach einer eventuellen Rückkehr in die Russische
Föderation für den Fall, dass eine Behandlung dort ganz oder teilweise unterbliebe.
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Dies kann aus unserer Sicht mit gleichen Wahrscheinlichkeiten nach Tagen, nach
Wochen und auch nach vielen Monaten auftreten."
Unter dessen Umständen sowie im Hinblick darauf, dass der Gutachter im Weiteren (S.
49) die aus seiner fachärztlich-psychiatrischen Sicht für und gegen eine akute
Suizidalität sprechenden Umstände ohne Gewichtung nur auflistet, fehlt es dem Gericht
an objektiven Anhaltspunkten dafür, dass -im Sinne eines Überwiegens - mehr für als
gegen eine alsbaldige erhebliche Leidensverschlimmerung nach Rückkehr in die
Russische Föderation spricht. Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil die Klägerin zu 2),
wie von ihr in der mündlichen Verhandlung eingeräumt wurde, auch in Deutschland die
vom Gutachter für unbedingt erforderlich gehaltene Verhaltenstherapie nicht in
Anspruch genommen hat, ohne dass sich daraus für sie eine erhebliche
Leidensverschlimmerung ergeben hätte.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Hinsichtlich des
Gegenstandswertes wird auf § 30 RVG verwiesen.
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