Urteil des VG Köln vom 10.01.2011

VG Köln (italien, antragsteller, gerichtshof für menschenrechte, subjektives recht, verfassungskonforme auslegung, abschiebung, www, antrag, asyl, durchführung)

Verwaltungsgericht Köln, 20 L 1920/10.A
Datum:
10.01.2011
Gericht:
Verwaltungsgericht Köln
Spruchkörper:
20. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
20 L 1920/10.A
Tenor:
1. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.
2. Der Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung nach
§ 123 Abs. 1 VwGO vorläufig für die Dauer von sechs Monaten
aufgegeben, Maßnahmen zum Vollzug der Verbringung der
Antragsteller nach Italien auszusetzen. Soweit bereits eine
Abschiebungsanordnung erlassen und der zuständigen
Ausländerbehörde übergeben wurde, wird der Antragsgegnerin
aufgegeben, dieser mitzuteilen, dass eine Abschiebung der Antragsteller
nach Italien vorläufig für die Dauer von sechs Monaten nicht
durchgeführt werden darf.
Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben
werden, trägt die Antragsgegnerin.
Gründe
1
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe war abzulehnen, da die Antragsteller
bis zum Zeitpunkt der Entscheidung entgegen ihrer Ankündigung eine Erklärung über
ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht vorgelegt haben (§§ 166
VwGO, 114 ZPO).
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Der nach § 123 Abs. 1 VwGO statthafte Antrag ist zulässig und begründet.
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Der Zulässigkeit des Antrags steht insbesondere nicht entgegen, dass gem. § 34 a Abs.
2 AsylVfG die Abschiebung in einen sicheren Drittstaat (§ 26 a AsylVfG) oder in einen
für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27 a AsylVfG) nach § 34 a
Abs. 1 AsylVfG nicht im Wege einstweiligen Rechtsschutzes (§ 80 oder § 123 VwGO)
ausgesetzt werden darf. Denn die Vorschrift des § 34 a Abs. 2 AsylVfG ist auch im
Hinblick auf die Fälle des § 27 a AsylVfG in entsprechender Anwendung der zur
Drittstaatenregelung des § 26 a AsylVfG ergangenen Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts verfassungskonform dahingehend auszulegen ist, dass sie
entgegen ihrem Wortlaut die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes im
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Zusammenhang mit geplanten Abschiebungen in durch § 34 a Abs. 1 AsylVfG
bezeichnete Staaten, namentlicher solcher Abschiebungen, die auf der Grundlage der
Dublin-II-VO ergehen, nicht generell verbietet, sondern derartiger Rechtsschutz in
Ausnahmefällen nach den allgemeinen Regeln möglich bleibt. Eine Prüfung, ob der
Zurückweisung in den Drittstaat oder in den nach europäischem Recht oder Völkerrecht
für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat ausnahmsweise
Hinderungsgründe entgegenstehen, kann der Ausländer dann erreichen, wenn sich auf
Grund bestimmter Tatsachen aufdrängt, dass er von einem der im normativen
Vergewisserungskonzept des Art. 16 a Abs. 2 GG und der §§ 26 a, 27 a, 34 a AsylVfG
nicht aufgefangenen Sonderfälle betroffen ist,
vgl. BVerfG, Urteil vom 14.05.1996 - 2 BvR 1938, 2315/93 -, BVerfGE 94, 49 (102),
sowie Beschlüsse vom 08.09.2009 - 2 BvQ 56/09 -, DVBl 2009, 1304 f., und
22.12.2009 - 2 BvR 2879/09 -, NVwZ 2010, 318.
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Eine gemeinschaftsrechtliche Pflicht zum Ausschluss des vorläufigen Rechtsschutzes
bei Überstellungen nach der Dublin II-VO besteht zudem nicht. Vielmehr sieht das
Gemeinschaftsrecht die Möglichkeit der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen
Überstellungen an den zuständigen Mitgliedstaat nach deren Art. 19 Abs. 2 Satz 4 und
Art. 20 Abs. 1 Buchst. e Satz 4 Dublin II-VO ausdrücklich vor,
6
vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 08.09.2009 - 2 BvQ 56/09 -, DVBl 2009, 1305, und
vom 22.12.2009 - 2 BvR 2879/09 -, NVwZ 2010, 318.
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Der Antrag ist auch begründet.
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Denn es liegen ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass die
flüchtlingsrechtlichen Gewährleistungen und die Verfahrenspraxis in Italien nicht an die
zu fordernden und bei Einfügung des 27 a AsylVfG vorausgesetzten unions- bzw.
völkerrechtlichen Standard heranreichen. Insbesondere ist zu klären, ob die
Antragsteller ihre Asylgründe in Italien noch uneingeschränkt vorbringen können oder
ob ihnen dies dort nicht oder nur noch unter erheblichen, mit dem unions- bzw.
völkerrechtlichen Standard unvereinbaren Einschränkungen möglich ist,
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vgl. ECRE-Studie zur Dublin-II-Praxis, S. 3; Schweizerische Beobachtungstelle für
Asyl- und Ausländerrecht, Rückschaffung in den "sicheren Drittsaat" Italien,
November 2009, www.beobachtungsstelle.ch/fileadmin/user.../ Bericht_DublinII-
Italien.pdf (Stand: 22. Juni 2010).
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Zudem sind die Aufnahmekapazitäten für Flüchtlinge in Italien völlig überlastet, so dass
die große Mehrheit der Asylsuchenden ohne Obdach und ohne gesicherten Zugang zu
Nahrung leben muss. Auch die Gesundheitsversorgung ist nicht ausreichend sicher
gestellt, da diese teilweise nur mit einer festen Wohnadresse beansprucht werden kann,
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vgl. Bethke/Bender, Bericht über die Recherchereise nach Rom und Turin im
Oktober 2010, vom 29.11.2010; Schweizerische Beobachtungstelle für Asyl- und
Ausländerrecht, Rückschaffung in den "sicheren Drittsaat" Italien, November 2009,
www.beobachtungsstelle.ch/fileadmin/user.../ Bericht_DublinII-Italien.pdf (Stand:
22. Juni 2010); Médecins Sans Frontières, Over the wall - a tour of Italy's migrant
centres, Januar 2010.
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Die vorgenannten Defizite vor allem im Bereich der Aufnahmebedingungen wiegen im
Falle der Antragsteller besonders schwer, da von einer Überstellung nach Italien nicht
nur die 2003 bzw. 2005 geborenen minderjährigen Antragsteller zu 3) und 4) betroffen
wären, sondern auch der erst am 13.11.2010 geborene Sohn der Antragsteller zu 1) und
2).
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Die bekannt gewordenen Informationen über die Situation von Asylbewerbern in Italien
haben den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in jüngster Zeit wiederholt zu
vorläufigen Entscheidungen nach Art. 39 der Verfahrensordnung (Rules of Court) mit
dem Ziel der Verhinderung von Überstellungen nach Italien veranlasst,
14
vgl. EGMR, Statements of Facts u.a. vom 14.09.2010 - Nr. 2303/10 -, vom
30.08.2010 - Nr. 37159/09 -, vom 04.06.2010 - Nr. 30815/09 - und 16.03.2010 - Nr.
44517/09 -.
15
und rechtfertigen eine verfassungskonforme Auslegung des § 34 a Abs. 2 AsylVfG,
16
vgl. für Rückführungen nach Italien: VG Weimar, Beschluss vom 15.12.2010 - 5 E
20190/10 We - www.asyl.net; VG Darmstadt, Beschluss vom 09.11.2010 - 4 L
1455/10.DA.A(1) - www.asyl.net; VG Minden, Beschluss vom 22.06.2010 - 12 L
284/10.A - Juris.
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Die tatsächliche Situation Asylsuchender in Italien begründet auch den
Anordnungsanspruch der Antragsteller. Die Antragsteller haben einen Anspruch, dass
die Antragsgegnerin von der ihr in Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO eingeräumten Möglichkeit
des Selbsteintritts ermessensfehlerfrei Gebrauch macht. Als unmittelbar geltendes
Gemeinschaftsrecht bildet die Dublin-II-VO eine geeignete Grundlage für die
Begründung subjektiver Rechte. Es spricht Überwiegendes dafür, dass Art. 3 Abs. 2
Dublin-II-VO für Ausländer jedenfalls dann ein subjektives Recht auf Ausübung des
Selbsteintrittsrechts begründet, wenn die Entscheidung - wie hier im Hinblick auf den
unzureichenden Zugang zum Asylverfahren und die mangelhafte Sicherstellung des
Lebensunterhaltes im nach der Dublin-II-VO zuständigen Mitgliedstaat - durch
nationales Verfassungsrecht, namentlich durch die aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG
folgenden Schutzpflichten, geprägt wird.
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Die Antragsteller haben schließlich einen Anordnungsgrund hinsichtlich einer
bevorstehenden Abschiebung nach Italien glaubhaft gemacht. Zwar wurde den
Antragstellern bislang ein die Abschiebung nach Italien anordnender Bescheid nicht
ausgehändigt, jedoch befindet sich ein solcher mit Datum vom 12.11.2010 bereits in den
Verwaltungsvorgängen der Antragsgegnerin. Es bestehen daher ausreichende
Anhaltspunkte für die Absicht der Antragsgegnerin, die Antragsteller nach Italien
zurückzuführen. Diese Absicht hat sie mit dem Ersuchen an Italien zur Wiederaufnahme
der Antragsteller nach Art. 16 Abs. 1 lit. e Dublin-II-VO zum Ausdruck gebracht, dem
Italien am 09.11.2010 zugestimmt hat. Die Voraussetzungen für eine Überstellung nach
Italien liegen demnach vor. Zudem hat die Antragsgegnerin auch im vorliegenden
Verfahren zum Ausdruck gebracht, dass sie von einer Anordnung der Abschiebung der
Antragsteller nach Italien nicht absehen wird. Die Antragsteller müssen vor diesem
Hintergrund jederzeit mit dem Erlass einer Abschiebungsanordnung und mit der
Durchführung der Abschiebung rechnen, ohne erkennen zu können, wann eine
Abschiebung unmittelbar bevorsteht.
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Aufgrund der unzulänglichen Situation für Asylsuchende in Italien drohen den
Antragstellern dort mit überwiegender Wahrscheinlichkeit Rechtsbeeinträchtigungen,
die die Durchführbarkeit des Hauptsacheverfahrens gefährden und die zudem während
und nach Abschluss des Hauptsacheverfahrens nicht mehr verhindert bzw. rückgängig
gemacht werden können.
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Durch die vorliegend befristet erlassene Anordnung erhält die Antragsgegnerin die
Möglichkeit, entweder von ihrem Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen oder konkrete
Garantien Italiens für die Antragsteller dahingehend zu erwirken, dass ihr Asylantrag bei
einer Überstellung umgehend von den italienischen Behörden registriert wird, dass den
Antragstellern eine Hinzuziehung eines anerkannten Dolmetschers und eines
Rechtsbeistandes ermöglicht wird, dass sie in einer angemessenen Unterkunft
untergebracht werden und im Bedarfsfall Zugang zu medizinischer und sozialer
Versorgung erhalten.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylVfG.
22
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).
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