Urteil des VG Köln vom 28.07.2010

VG Köln (aufschiebende wirkung, gutachten, bundesrepublik deutschland, öffentliches interesse, interesse, vollziehung, antragsteller, verfügung, einsatz, interessenabwägung)

Verwaltungsgericht Köln, 13 L 1064/10
Datum:
28.07.2010
Gericht:
Verwaltungsgericht Köln
Spruchkörper:
13. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
13 L 1064/10
Tenor:
1. Die aufschiebende Wirkung der noch zu erhebenden
Anfechtungsklage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 20.
Juli 2010 wird wiederhergestellt.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
2. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.
3. Der Beschluss soll den Beteiligten vorab per Telefax bekannt
gegeben werden.
Gründe
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Der nach § 80 Abs. 5 Satz 1 in Verbindung mit § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO und § 80
Abs. 5 Satz 2 VwGO zulässige Antrag,
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die aufschiebende Wirkung einer noch zu erhebenden Anfechtungsklage gegen den
Bescheid des Antragsgegners vom 20. Juli 2010 wiederherzustellen,
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hat Erfolg.
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Dahin stehen kann, ob die Anordnung der sofortigen Vollziehung der
Rücknahmeverfügung noch den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO genügt,
wonach das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes
in den Fällen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO schriftlich zu begründen ist.
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Denn die in materieller Hinsicht vorzunehmende Interessenabwägung fällt zu
Ungunsten des Antragsgegners aus. Die hier durch die Anordnung der sofortigen
Vollziehung gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO entfallene aufschiebende Wirkung
des Widerspruchs ist gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO wiederherzustellen, wenn der
angegriffene Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist und demnach ein öffentliches
Interesse an einer sofortigen Vollziehung nicht bestehen kann oder wenn - bei noch
offener Rechtslage - das Interesse des Betroffenen daran, von der Vollziehung vorerst
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verschont zu bleiben, das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung überwiegt;
dabei kann ein berücksichtigungsfähiges Interesse des Betroffenen regelmäßig dann
ausgeschlossen werden, wenn die angegriffene Maßnahme offensichtlich rechtmäßig
ist und überdies ein besonderes Vollzugsinteresse besteht.
Bei der im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes allein möglichen
und hier in Anbetracht der dem Gericht zur Verfügung stehenden Zeit gebotenen
summarischen Prüfung stellt sich die im Streit befindliche Rücknahmeverfügung vom
20. Juli 2010 nach dem derzeitigen Erkenntnisstand des Gerichts zwar weder als
ersichtlich rechtmäßig oder offensichtlich rechtswidrig dar; die darüber hinaus gehende
Interessenabwägung geht jedoch zu Lasten des Antragsgegners aus.
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Mit der streitgegenständlichen Rücknahmeverfügung hat der Antragsgegner die dem
Antragsteller erteilte bestandskräftige, auf zwei Jahre befristete Erlaubnis des Landrats
des Landkreises Darmstadt-Dieburg vom 24. April 2009 in der Gestalt der
Änderungsbescheide vom 20. Mai 2009, 28. Mai 2009, 15. Juni 2009 und 4. Mai 2010,
gestützt auf § 48 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 VwVfG NRW insoweit als teilweise rechtswidrig
aufgehoben, als dem Antragsteller nach § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Buchstabe d des
Tierschutzgesetzes - TierSchG - die Erlaubnis für eine Zurschaustellung von Tieren in
Form des "Bull-Riding" ohne Einsatz von Flankengurt und Sporen oder vergleichbaren
Hilfsmitteln erteilt worden ist. Dabei hat sich der Antragsgegner für die Begründung der
Rechtswidrigkeit der erteilten Erlaubnis rechtlich auf § 3 Nr. 6 TierSchG bezogen,
wonach verboten ist, Tiere zu Schaustellungen oder ähnlichen Veranstaltungen
heranzuziehen, sofern damit Schmerzen, Leiden oder Schäden für das Tier verbunden
sind. In der Sache hat er sich im Wesentlichen auf das "Gutachten über
Rodeoveranstaltungen in der Bundesrepublik Deutschland unter tierschutzrechtlichen,
ethologischen und ethischen Gesichtspunkten" vom 25. April 2005 mit ergänzender
Anlage vom 22. Mai 2006 der Tierärztlichen Vereinigung für Tierschutz e. V. (TVT-
Gutachten) gestützt. Ungeachtet der Frage der sachlichen und örtlichen Zuständigkeit
des Antragsgegners für die ausgesprochene Rücknahme, vermag das Gericht derzeit
nicht festzustellen, ob die rechtlichen wie tatsächlichen Voraussetzungen für die
Annahme der Rechtswidrigkeit der vom Landkreis Darmstadt-Dieburg erteilten
Erlaubnis vorliegen und ob die Ermessensbetätigung des Antragsgegners bei der
Rücknahme ausreicht. So verhält sich das herangezogene TVT-Gutachten zunächst nur
zum Bullenreiten mit Flankengurt, was hier angesichts der ausgesprochenen
Beschränkung in der zurückgenommenen Erlaubnis nicht in Rede steht. Für das ohne
den Einsatz von Flankengurten (oder Sporen) stattfindende Bullenreiten findet sich in
dem Gutachten hingegen nur die allgemeine, nicht durch veterinärmedizinische
Tatsachen untermauerte "Einschätzung", dass dies mit dem Tierschutzgesetz nicht zu
vereinbaren sei und daher nicht mehr stattfinden solle, weil das natürliche
Abwehrverhalten der Tiere für Showzwecke instrumentalisiert werde. Die in der
Verfügung des Antragsgegners aufgezeigten Stressreaktionen werden für hier nicht in
Rede stehende Pferde beschrieben und zudem unter Einsatz des Flankengurts und von
Sporen. Diesem Gutachten steht eine Stellungnahme der Fachtierärztin für
Verhaltenskunde Dr. Q. vom Chemischen und Veterinäruntersuchungsamt G. vom 31.
Juli 2006 gegenüber, in der dem TVT-Gutachten zum Teil Unwissenschaftlichkeit
attestiert und bemängelt wird, dass sich das Gutachten nicht mit der Frage
auseinandersetze, unter welchen Bedingungen Rodeo-Veranstaltungen und auch
Bullenreiten als sportliche Disziplin qualifiziert werden könnten. Für das Bullenreiten
wird im besonderen kritisiert, dass die Provokation von natürlichem Abwehrverhalten
nicht mit Tierschutzwidrigkeit gleichgesetzt werden müsse. Es kommt hinzu, dass
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sowohl in der Verwaltungspraxis als auch in der Rechtsprechung der
Verwaltungsgerichte das Bullenreiten ohne die genannten Hilfsmittel höchst
unterschiedlich beurteilt wird. Soweit der Antragsgegner nunmehr durch die eine
Einzelfall betreffende Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz den
Vertrauensschutz des Antragstellers als relativiert ansieht, ist darauf hinzuweisen, dass
der Antragsteller im Übrigen weiterhin auf die bestandskräftige Erlaubnis vertrauen
kann.
Kann damit in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit kein auch nur einigermaßen
klares Bild über die veterinärmedizinische Bewertung des Bullenreitens unter dem
Aspekt des Tierschutzrechts gewonnen werden, ist eine allgemeine
Interessenabwägung vorzunehmen, die zu Lasten des Antragsgegners ausgeht. Dabei
war vor allem zu berücksichtigen, dass der Antragsteller im Besitz einer
bestandskräftigen Erlaubnis nach § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Buchstabe d) TierSchG ist,
die ihm das "Bull-Riding" (ohne Einsatz von Flankengurt und Sporen oder vergleichbare
Hilfsmittel) gestattet. Diese Erlaubnis verfolgt - ebenso wie die jetzt angegriffene
Verfügung des Antragsgegners - den Zweck, den bei Rodeo-Veranstaltungen zu
befürchtenden tierschutzwidrigen Zuständen entgegenzuwirken, und hat dabei auch das
hier vom Antragsgegner zur Begründung seiner Rechtsauffassung maßgeblich
herangezogene TVT-Gutachten berücksichtigt. Der Antragsgegner hat außer dem
Berufen auf Art. 20a GG/Art. 29a LVerf NRW keine derart gewichtigen Gesichtspunkte
des öffentlichen Interesses glaubhaft zu machen vermocht, dass das Gericht es aus
tierschutzrechtlichen Gründen als schlechthin unzuträglich ansehen müsste, wenn die
am 31. Juli und 1. August 2010 stattfindenden Rodeo-Veranstaltungen ohne die von
dem Antragsgegner verfügte Einschränkung durchgeführt werden. Dass der
Antragsgegner - in Übereinstimmung mit der aktuellen Beschlusslage der
Länderarbeitsgemeinschaft gesundheitlicher Verbraucherschutz - Arbeitsgruppe
Tierschutz - und dem darauf beruhenden Erlass des Ministeriums für Umwelt und
Naturschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz des Landes Nordrhein-Westfalen
vom 26. Juni 2006 - aus diesem Gutachten nunmehr andere Schlussfolgerungen zieht
als die Behörde, die die bestandskräftige Erlaubnis erteilt hat, stellt sich für das Gericht
jedenfalls derzeit nicht als eine solch gravierende Änderung von Beurteilungskriterien
dar, die es rechtfertigen könnte, eine bestandkräftig erteilte Rechtsposition durch einen
mit rechtlichen Zweifeln belasteten Rücknahmebescheid einzuschränken. Denn der
Antragsgegner vermochte keine neuen Tatsachen oder Erkenntnisse zur
Tierschutzwidrigkeit des "Bull-Riding" anzuführen, die nicht schon bei Erlass der
Erlaubnis des Landkreises Darmstadt-Dieburg bekannt waren. Der Landkreis
Darmstadt-Dieburg hat noch bei der Erteilung der letzten Änderungsgenehmigung im
Mai 2010 keinen Anlass gesehen, die Erlaubnis für das Bullenreiten aufzuheben. Hinzu
tritt das - wenn auch nicht besonders substantiiert, aber noch plausibel - dargelegte
wirtschaftliche Interesse des Antragstellers an der Durchführung der Rodeo-
Veranstaltung mit dem nachvollziehbar als Hauptattraktion angesehenen Bullenreiten.
Dieses, durch die bestandskräftige Erlaubnis verfestigte Interesse wird durch Art. 12
Abs. 1 GG geschützt. Der Antragsgegner hat dem nur eine andere, ohne neuere
veterinärmedizinische Erkenntnisse belegte Bewertung entgegengesetzt. Dem nunmehr
erstmals mit der Antragserwiderung vom 28. Juli 2010 ins Feld geführten, bei der
Beobachtung der Veranstaltung des Antragstellers im Jahre 2009 festgestellten, durch
längeren Aufenthalt der Bullen in teilweise zu engen Startboxen verursachten
Stressfaktor kann durch eine dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung tragende
Auflage begegnet werden.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 2, § 53 Abs. 3 Nr. 2 GKG. In Verfahren
des vorläufigen Rechtsschutzes ist der Streitwert auf die Hälfte des Streitwerts der
Hauptsache anzusetzen, als den das Gericht mangels anderweitiger Anhaltspunkte den
Auffangstreitwert von 5.000,00 Euro für jede der am 31. Juli und 1. August 2010
vorgesehenen Rodeoveranstaltungen zugrunde gelegt hat.
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