Urteil des VG Köln vom 12.10.2007

VG Köln: genfer flüchtlingskonvention, unhcr, recht auf freiheit und sicherheit, irak, gewalt, emrk, verbot der sklaverei, recht auf leben, schutz der wohnung, bundesamt für migration

Verwaltungsgericht Köln, 18 K 6334/05.A
Datum:
12.10.2007
Gericht:
Verwaltungsgericht Köln
Spruchkörper:
18. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
18 K 6334/05.A
Tenor:
Die Beklagte wird unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom
17.10.2005 verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des §
60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen und dem Kläger die
Flüchtlingseigenschaft zuzuer- kennen.
Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
T a t b e s t a n d
1
Der am 00.00.0000 in Bagdad geborene Kläger ist irakischer Staatsangehöriger
arabischer Volkszugehörigkeit schiitischer Religionszugehörigkeit. Er reiste am
09.03.2003 - gemeinsam mit seiner Mutter - in einem LKW in die Bundesrepublik
Deutschland ein und stellte am 20.03.2003 einen Antrag auf Anerkennung als Asyl-
berechtigter. Wegen des Verfahrens der Mutter wird auf das Verfahren 18 K 7299/05.A
verwiesen.
2
Im Rahmen der Anhörung vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländi- scher
Flüchtlinge (seit dem 01.01.2005 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge; im
Folgenden: Bundesamt) gab die Mutter des Klägers zur Begründung des Asylantrags
an, ein weiterer Sohn von ihr sei vor ca. einem Jahr von der Universität nicht mehr nach
Hause zurückgekehrt. Man habe ihnen zuletzt gesagt, dass vier Männer ihn vor der
Universität abgepasst und mitgenommen hätten. Ca. einen Monat später hätten sie die
Nachricht erhalten, dass ihr Sohn hingerichtet worden sei und sie seine Lei- che beim
Sicherheitsdienst abholen könnten. Sie hätten seine Leiche dann abgeholt und ihn auf
dem Friedhof der Schiiten in Najaf beerdigt, da man ihnen untersagt ha- be,
Trauerfeierlichkeiten abzuhalten. Nach der Hinrichtung ihres Sohnes sei ihr Mann öfters
kurzzeitig festgenommen worden, zuletzt einige Tage vor ihrer Ausreise. Er sei dann
nicht mehr freigelassen worden und sie habe seitdem nichts mehr von ihm ge- hört. Ihr
Sohn sei aus den gleichen Gründen wie sie ausgereist.
3
Mit Bescheid vom 17.10.2005 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers ab
und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgeset- zes
und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 des Aufenthaltsgesetzes nicht
vorliegen. Zugleich forderte das Bundesamt den Kläger zum Verlassen der Bundes-
republik Deutschland auf und drohte ihm für den Fall nicht fristgemäßer Ausreise die
4
Abschiebung in den Irak an.
Am 31.10.2005 hat der Kläger die vorliegende Klage erhoben. Zur Begründung trägt er
im Wesentlichen vor, er und seine Mutter würden von der Familie seines Va- ters im Irak
bedroht. Die Familie habe enge Beziehungen zu einflussreichen Perso- nen und mache
ihn und seine Mutter dafür verantwortlich, dass sie Repressalien des Hussein Regimes
ausgesetzt gewesen seien.
5
Der Kläger beantragt,
6
die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 17.10.2005 zu
verpflichten festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 des
Aufenthaltsgesetzes vorliegen und dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzu-
erkennen, hilfsweise, festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 bis 7 des
Aufenthalts- gesetzes vorliegen.
7
Die Beklagte beantragt,
8
die Klage abzuweisen.
9
Sie bezieht sich zur Begründung auf den Inhalt des angefochtenen Beschei- des.
10
Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 08.06.2006 der Einzelrich- terin zur
Entscheidung übertragen. Nach Rückübertragung auf die Kammer hat diese durch
Beschluss vom 11.09.2006 Beweis erhoben über die Lage der schiitischen und
sunnitischen Bevölkerung im Großraum Bagdad und im sunnitischen Dreieck. We- gen
des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Gutachten des Instituts für
Nahoststudien vom 09.03.2007, des Europäischen Zentrums für Kurdische Studien vom
12.05.2007 und des UNHCR vom 08.10.2007 Bezug genommen.
11
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge sowie auf den Inhalt der
Sitzungsprotokolle verwiesen.
12
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
13
Die Klage ist zulässig und begründet.
14
Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60
Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen und auf die Zuerkennung der Flücht-
lingseigenschaft. Der Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 17.10.2005 ist in dem
angefochtenen Umfang rechtswidrig und verletzt den Kläger in eigenen Rechten (§ 113
Abs. 5 Satz 1 VwGO).
15
Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) in der seit dem
Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien
der Europäischen Union vom 19.08.2007 (Richtlinienumsetzungsgesetz) am 28.08.2007
geltenden Fassung darf in Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die
Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK) ein Ausländer
nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen
seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten
16
sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist, wobei nach §
60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer
bestimmten sozialen Gruppe auch dann vorliegen kann, wenn die Bedrohung allein an
das Geschlecht anknüpft. Nach § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG kann eine Verfolgung im
Sinne des Satzes 1 ausgehen vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den
Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen oder von nichtstaatlichen
Akteuren, es sei denn, es besteht eine inländische Fluchtalternative. Nichtstaatliche
Akteure im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG können Organisationen
ohne Gebietsgewalt, Gruppen oder auch Einzelpersonen sein, von denen eine
Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG ausgeht, sofern erwiesenermaßen weder
der Staat noch Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des
Staatsge- bietes beherrschen, noch internationale Organisationen in der Lage oder
willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten. Der Unterschied zu dem
Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG besteht darin, dass § 60 Abs. 1
AufenthG auf die Ver- folgung aus bestimmten schutzrelevanten Gründen abstellt und
zur Flüchtlingsanerkennung kommt; § 60 Abs. 7 AufenthG gewährt hingegen Schutz vor
sonstigen Menschenrechtsverletzungen und knüpft allein an eine faktische Gefährdung
an, ohne eine gezielte Verfolgung vorauszusetzen,
vgl. BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 - 1 C 15/05 - NVwZ 2006, 1420- 1423, 1422; Urteil
der Kammer vom 17.06.2005 - 18 K 5407/01.A - Juris.
17
Die zum 28.08.2007 in Kraft getretene Neuregelung des § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG
stellt in Umsetzung der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 über
Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder
Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz
benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie)
nunmehr klar, dass für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, die
Artikel 4 Abs. 4 sowie die Artikel 7 bis 10 der Qualifikationsrichtlinie ergänzend
anzuwenden sind.
18
War bereits durch das seit dem 01.01.2005 geltende Zuwanderungsgesetz und die
damit in § 60 Abs. 1 AufenthG eingefügte ausdrückliche Bezugnahme auf die Genfer
Flüchtlingskonvention sowie die Aufnahme der nichtstaatlichen Akteure als taugliche
Verfolgungsakteure ein grundlegender Perspektivwechsel von der bisherigen
Zurechnungslehre hin zu der der Genfer Flüchtlingskonvention zugrundeliegenden
Schutzlehre eingeleitet worden,
19
vgl. VG Aachen, Urteil vom 28. April 2005 - 5 K 1587/03.A -, zitiert nach Juris; VG Köln,
Urteil vom 17.06.2005 - 18 K 5407/01.A - Juris,
20
so ist dieser Schritt jetzt durch den Verweis auf die ergänzend heranzuziehenden
Bestimmungen der Qualifikationsrichtlinie über die Art und Weise der Berücksich- tigung
von Vorverfolgung (Art. 4 Abs. 4), über die Akteure, die Schutz bieten können (Art. 7),
den Internen Schutz (Art. 8) sowie insbesondere über die Verfolgungshandlungen (Art.
9) und die Verfolgungsgründe (Art. 10), die der Klarstellung und Kodifizierung des
Flüchtlingsbegriffs in Art. 2 Buchst. c) der Qualifikationsrichtlinie dienen, der mit
demjenigen in Art. 1 A GFK identisch ist, endgültig vollzogen worden,
21
vgl. hierzu schon zur Rechtslage seit Ablauf der Umsetzungsfrist für die
Qualifikationsrichtlinie: VG Lüneburg, Urteil vom 29.11.2006 - 1 A 165/04 - Juris; VG
22
Stuttgart, Urteil vom 17.01.2007 - A 10 K 13991/03 - Juris.
Den in den Art. 4 bis 10 der Qualifikationsrichtlinie enthaltenen Auslegungsregeln zu
einzelnen Elementen des Flüchtlingsbegriffs kommt nun auch im Rahmen des § 60 Abs.
1 AufenthG maßgebliche Bedeutung zu.
23
Insbesondere ist bei der Frage, was als Verfolgungshandlung anzusehen ist, nunmehr
Art. 9 der Qualifikationsrichtlinie zu beachten. Die Vorschrift ist so gestaltet, dass sie
flexibel und umfassend auszulegen ist und auch neue Formen der Verfolgung erfasst
werden können,
24
vgl. Erläuterungen zu Art. 11 Abs. 1 des Vorschlags der Kommission, Abl. C 51 E vom
26.02.2002, S. 325., KOM (2001) 510 endgültig.
25
Nach Art. 9 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie gelten als Verfolgungshandlungen im
Sinne des Art. 1 A GFK solche Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung
eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen. Eine
einmalige Verfolgungshandlung kann demnach ausreichend sein, aber auch eine
Wiederholung schwerwiegender Handlungen ebenso wie eine Kumulierung
unterschiedlicher Maßnahmen, sofern diese Verfolgung gemäß Art. 9 Abs. 3 mit einem
oder mehreren der Verfolgungsgründe der Genfer Flüchtlingskonvention verknüpft ist.
Als Verfolgung gelten ausschließlich Handlungen, die absichtlich, fortdauernd oder
systematisch ausgeführt werden,
26
vgl. Erläuterungen zu Art. 11 Abs. 1 Buchst. a) des Vorschlags der Kommission, Abl. C
51 E vom 26.02.2002, S. 325, KOM (2001) 510 endgültig.
27
Die bisher von der deutschen Rechtsprechung vorgenommene separate Betrachtung
jeder einzelnen Verfolgungsmaßnahme auf ihre Asylerheblichkeit ist damit überholt.
Entscheidend ist eine Gesamtbetrachtung. Eine Häufung unterschiedlicher
Maßnahmen, die jede für sich genommen nicht den Tatbestand der Verfolgung erfüllt,
kann dazu führen, dass ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft
wegen kumulativer Gründe besteht,
28
vgl. Erläuterungen zu Art. 11 Abs. 1 Buchst. a) des Vorschlags der Kommission, Abl. C
51 E vom 26.02.2002, S. 325., KOM (2001) 510 endgültig.
29
Der Qualifikationsrichtlinie kann auch nicht das der deutschen Asylrechtsprechung
geläufige Kriterium entnommen werden, dass die Verfolgung - soweit andere
Rechtsgüter als Leib, Leben und Freiheit betroffen sind - ihrer Intensität und Schwere
nach die Menschenwürde verletzen und über das hinausgehen muss, was die
Bewohner des Herkunftsstaates allgemein hinzunehmen haben bzw. dass die
Verfolgungshandlung den Einzelnen ihrer Intensität nach aus der übergreifenden
Friedensordnung ausgrenzen muss,
30
vgl. hierzu auch OVG Saarland, Urteil vom 26.06.2007 - 1 A 222/07 - Juris.
31
Die Begriffe der Ausgrenzung und der übergreifenden Friedensordnung, die dem
überholten Konzept der Staatlichkeit der Verfolgung entstammen, sind der
Qualifikationsrichtlinie und dem internationalen Flüchtlingsrecht fremd und spielen für
die Auslegung der Qualifikationsrichtlinie keine Rolle,
32
vgl. Marx, Erläuterungen zur Qualifikationsrichtlinie, Kap. II, § 5 Rdnr. 5).
33
Es kommt vielmehr ausschließlich auf die schwerwiegende Verletzung der
grundlegenden Menschenrechte an. Zu diesen gehören nach Art. 9 Abs. 1 der
Qualifikationsrichtlinie in Verbindung mit Art. 15 Abs. 2 EMRK jedenfalls das Recht auf
Leben (Art. 2 EMRK), das Verbot von Folter und von unmenschlichen und
erniedrigenden Strafen (Art. 3 EMRK), das Verbot der Sklaverei und Leibeigenschaft
(Art. 4 Abs. 1 EMRK) sowie das Verbot der Strafe ohne Gesetz (Art. 7 EMRK). Diese
Aufzählung ist allerdings nicht abschließend. Als Schutzgüter kommen grundsätzlich
alle in der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützten Rechte in Betracht,
insbesondere das Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5 EMRK), das Recht auf ein
rechtsstaatliches Verfahren (Art. 6 EMRK), der Schutz von Familien- und Privatleben
(Art. 8 EMRK), der Schutz der Wohnung und des Briefverkehrs (Art. 8 EMRK), die
Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK), die
Meinungsäußerungsfreiheit (Art. 10 EMRK), die Versammlungs- und
Vereinigungsfreiheit (Art. 11 EMRK) sowie die Eheschließungsfreiheit (Art. 12 EMRK).
34
Art. 9 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie enthält eine - ebenfalls nicht abschließende -
Aufzählung unterschiedlicher Verfolgungshandlungen, zu denen auch Maßnahmen mit
tendenziell eher geringer Eingriffsqualität gehören, wie etwa diskriminierende
gesetzliche, administrative, polizeiliche und/oder justizielle Maßnahmen oder die
Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer
unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung und Strafverfolgung. Diese
Verfolgungshandlungen können in ihrer Gesamtwirkung das Gewicht und die Intensität
einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung aufweisen.
35
Art. 10 der Qualifikationsrichtlinie erläutert die Grundsätze, die im Zusammenhang mit
den Verfolgungsgründen zu beachten sind. Er orientiert sich dabei an den
Verfolgungsmerkmalen der Genfer Flüchtlingskonvention. Die dort genannten
Verfolgungsgründe sind ebenso wie in Art. 1 A (2) GFK abschließend.
36
Bei der Auslegung und der Ermittlung des Bedeutungsgehalts der einzelnen
Verfolgungsgründe ist auf das Handbuch des UNHCR über Verfahren und Kriterien zur
Feststellung der Flüchtlingseigenschaft aus dem Jahre 2003 (Handbuch des UNHCR)
sowie vorhandene UNHCR-Richtlinien zum Internationalen Schutz zurückzugreifen.
Dies ergibt sich sowohl aus der Wortidentität der Flüchtlingsdefinitionen in Art. 2 Buchst.
c der Qualifikationsrichtlinie und Art. 1 A GFK als auch aus Systematik sowie Ziel und
Zweck der Qualifikationsrichtlinie. In Erwägungsgrund 2 der Richtlinie wird ausdrücklich
auf die Vereinbarungen der Sondertagung des Rates von Tampere am 15. und 16.
Oktober 1999 hingewiesen, nach denen sich das zu schaffende Gemeinsame
Europäische Asylsystem auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung der
Genfer Flüchtlingskonvention und des Protokolls stützen sollte. In Erwägungsgrund 3
der Richtlinie wird klargestellt, dass die Genfer Konvention und das Protokoll einen
wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von
Flüchtlingen darstellen. In Erwägungsgrund 15 der Richtlinie werden Konsultationen mit
dem UNHCR als wertvolle Hilfe bei der Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft
bezeichnet. Mehrfach stellt die Richtlinie demnach unmissverständlich klar, dass sie
sich hinsichtlich der Regelungsbereiche, die von der Genfer Flüchtlingskonvention
erfasst sind, an dieser orientieren will und dabei die Stellungnahmen des UNHCR, zu
denen insbesondere das Handbuch und etwaige Richtlinien zu speziellen
37
Problemkreisen gehören, als Auslegungshilfe akzeptiert. Die gemeinsamen
völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus der Genfer
Flüchtlingskonvention sollten eindeutig die Grundlage der mit der Qualifikationsrichtlinie
beabsichtigten Harmonisierung sein, deren wesentliches Ziel nach Erwägungsgrund 7
der Richtlinie die Eindämmung der Sekundärmigration von Asylbewerbern zwischen
den Mitgliedstaaten ist. Auch aus Art. 63 Abs. 1 Ziff. 1 Buchst. c) EG, der die
Rechtsgrundlage für die Qualifikationsrichtlinie darstellt, und der damit geschaffenen
Bindung insbesondere an die Genfer Flüchtlingskonvention sowie das Protokoll folgt,
dass Abweichungen von der Genfer Flüchtlingskonvention nicht gewollt sind. Aus dem
Vorstehenden ergibt sich zwangsläufig, dass die nach völkervertraglichen Grundsätzen
zu ermittelnde Auslegung einzelner Konventionsmerkmale maßgebliche Bedeutung
auch für die Auslegung der Qualifikationsrichtlinie hat. Dies schließt die Heranziehung
der im Zeitpunkt der Verabschiedung der Qualifikationsrichtlinie bekannten Auslegung
einzelner Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention durch den UNHCR und der
bekannten Staatenpraxis bei der Auslegung der Qualifikationsrichtlinie ein.
Uneingeschränkt muss dies in den Fällen angenommen werden, in denen das
Handbuch des UNHCR und etwaige Richtlinien eine übereinstimmende Staatenpraxis
widerspiegeln und der Wortlaut der Regelungen der Qualifikationsrichtlinie keinerlei
inhaltliche Abweichungen hiervon beinhaltet,
vgl. zu dieser Methodik auch: OVG NRW, Urteil vom 27.03.2007 - 8 A 4728/05.A - Juris;
Urteil der Kammer vom 12.10.2007 - 3468/06.A - www.nrwe.de.
38
Hinsichtlich der einzelnen Konventionsmerkmale sind daher neben den in Art. 10 der
Qualifikationsrichtlinie bereits vorgenommenen ausdrücklichen Konkretisierungen
insbesondere die UNHCR-Richtlinien zur Geschlechtsspezifischen Verfolgung im
Zusammenhang mit Artikel 1 A (2) des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von
1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 07. Mai 2002, zur Zugehörigkeit zu
einer bestimmten sozialen Gruppe im Zusammenhang mit Artikel 1 A (2) des
Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der
Flüchtlinge vom 07. Mai 2002, zu Anträgen auf Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft
aufgrund religiöser Verfolgung im Zusammenhang mit Artikel 1 A (2) des Abkommens
von 1951 und/oder des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom
28. April 2004 sowie zur Anwendung des Artikel 1 A (2) des Abkommens von 1951 bzw.
des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge auf die Opfer von
Menschenhandel und entsprechend gefährdete Personen vom 07. April 2006 als
Auslegungshilfen heranzuziehen.
39
Mit der Definition in Art. 2 Buchst. c der Qualifikationsrichtlinie verweist diese zudem auf
das Schlüsselelement des Flüchtlingsbegriffs der Genfer Flüchtlingskonvention, nämlich
die begründete Furcht. Auch zur Ermittlung des Bedeutungsgehalts der „begründeten
Furcht" ist auf das Handbuch des UNHCR zurückzugreifen, dessen Ausführungen sich
in Art. 4 Abs. 3 der Qualifikationsrichtlinie widerspiegeln. In dem Handbuch des UNHCR
heißt es hierzu auszugsweise:
40
„Die Definition setzt ein subjektives Moment bei der Person voraus, die sich um
Anerkennung als Flüchtling bewirbt. Daneben ist erforderlich, dass dieses subjektive
Empfinden durch objektive Tatsachen begründet ist. Erforderlich sind eine Beurteilung
der Persönlichkeit des Antragstellers, der Glaubwürdigkeit sowie eine Berücksichtigung
der persönlichen Gründe, des familiären Hintergrundes, seiner Zugehörigkeit zu einer
bestimmten rassischen, religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Gruppe, die
41
eigene Beurteilung der Lage, seine persönlichen Erfahrungen, m.a.W alles, was darauf
hindeuten könnte, dass das ausschlaggebende Motiv für seinen Antrag Furcht ist. Was
das objektive Moment angeht, sind die Erklärungen des Antragstellers und die
Hintergrundsituation in dem Herkunftsland auszuwerten. Im allgemeinen sollten die
Befürchtungen eines Antragstellers als begründet angesehen werden, wenn er
ausreichend nachweisen kann, dass der weitere Verbleib in seinem Heimatland für ihn
aus in der Definition genannten Gründen unerträglich geworden ist, oder aus diesen
Gründen im Falle einer Rückkehr unerträglich würde."
Vgl. Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft,
Neuauflage UNHCR Österreich, Dezember 2003, Zf. 37-42.
42
Im Zusammenhang mit den Fallkonstellationen, die nach der bisherigen deutschen
Rechtsprechung in der Kategorie der Gruppenverfolgung erfasst wurden, heißt es
sodann weiter:
43
„Diese Befürchtungen müssen nicht unbedingt auf eigenen persönlichen Erfahrungen
des Antragstellers beruhen, sondern auch auf solchen von Freunden oder Verwandten
und anderen Angehörigen seiner Rasse oder sozialen Gruppe. Während normalerweise
die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft sich jeweils auf den Einzelfall bezieht, hat
es Situationen gegeben, in denen ganze Gruppen unter Umständen vertrieben wurden,
aus denen geschlossen werden konnte, dass jedes einzelne Mitglied der Gruppe als
Flüchtling anzusehen war. Aus Gründen der Verfahrenserleichterung bedient man sich
in solchen Fällen des „Gruppenverfahrens" zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft,
nach der jedes Mitglied der Gruppe prima facie als Flüchtling angesehen wird."
44
vgl. Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft,
Neuauflage UNHCR Österreich, Dezember 2003, Zf. 43-44.
45
Die der deutschen Rechtsprechung geläufige Unterscheidung zwischen dem Maßstab
der beachtlichen Wahrscheinlichkeit und dem sog. herabgestuften Maßstab bei
Vorverfolgung entspricht im Kern der Regelung in Art. 4 Abs. 4 der
Qualifikationsrichtlinie, wonach die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt
wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher
Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter
Hinweis auf die Begründetheit seiner Furcht ist. Es spricht aber manches dafür, dass
den hier entwickelten Prognosemaßstäben tendenziell eine zu starke Objektivierung
zugrunde liegt, so dass nunmehr eine stärkere Gewichtung des subjektiven Elements
der Verfolgungsfurcht geboten sein dürfte.
46
Mit der daraus resultierenden besonderen Vorsicht können wesentliche Grundsätze des
Bundesverwaltungsgerichts, das auch bislang subjektive Elemente unter dem Aspekt
der Zumutbarkeit stets hervorgehoben hat,
47
vgl. BVerwG, Urteil vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162- 171,
48
weiterhin Grundlage der Prüfung sein. In der vorstehend zitierten Entscheidung
betreffend die Asylerheblichkeit von Zwangsbeschneidungen christlicher
Wehrpflichtiger in der Türkei hat das Bundesverwaltungsgericht zum Maßstab der
beachtlichen Wahrscheinlichkeit ausgeführt:
49
„Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb dann anzunehmen, wenn
bei der vorzunehmenden „zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten
Lebenssachverhalts" die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres
Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen
überwiegen. Maßgebend ist ... damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Die
Zumutbarkeit bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung
anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr „beachtlich" ist. Entscheidend ist,
ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage
des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den
Heimatstaat als unzumutbar erscheint. Unzumutbar kann aber ... eine Rückkehr in den
Heimatstaat auch dann sein, wenn ... nur ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad
von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall
reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus ... Ergeben
jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit" einer politischen
Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den
Heimatstaat nicht auf sich nehmen.... Ein verständiger Betrachter wird bei der
Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten
Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich
bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit
für eine Verfolgung besteht, macht es auch aus der Sicht eines besonnenen und
vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat
zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine
Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert."
50
Die danach vorzunehmende qualifizierende Gesamtbetrachtung entspricht im
Wesentlichen den Regelungen in Art. 4 Abs. 3 der Qualifikationsrichtlinie,
51
vgl. Erläuterungen zu Art. 7 des Vorschlags der Kommission, Abl. C 51 E vom
26.02.2002, S. 325., KOM (2001) 510 endgültig,
52
und kann bei verständiger Bewertung des Einzelfalls in das Konzept der begründeten
Verfolgungsfurcht integriert werden.
53
Gemessen an diesen Kriterien liegen hinsichtlich des Klägers die Voraussetzungen des
§ 60 Abs. 1 AufenthG vor, so dass ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist.
54
Der Kläger wäre im Falle einer Rückkehr in den Irak und dort nach Bagdad, seinem
Herkunftsort, zur Überzeugung der Kammer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit
zahlreichen schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen in Anknüpfung an seine
konfessionelle Zugehörigkeit ausgesetzt, so dass seine Verfolgungsfurcht begründet
und ihm eine Rückkehr unzumutbar ist.
55
Innerhalb der sich im Irak unaufhörlich drehenden Spirale der Gewalt hat sich unter den
zahlreichen feststellbaren Verfolgungsmustern spätestens seit dem mutmaßlich von
sunnitischen Extremisten auf die schiitische Al-Askari Moschee in Samarra am
22.02.2006 verübten Bombenanschlag die von Sunniten bzw. Schiiten gegenseitig
ausgeübte konfessionelle Gewalt als besonderes Verfolgungsmuster herauskristallisiert,
das inzwischen die meisten Todesopfer unter der irakischen Bevölkerung fordert. In
großem Umfang finden gegenwärtig im Zentral- und Südirak systematische, gewaltsame
Vertreibungen statt, die den Charakter konfessionell geprägter Säuberungen haben. Die
dabei angewandten Mittel reichen von der Verbreitung von Drohungen auf Flugblättern,
56
Zerstörung von Eigentum und Einschüchterungen über großflächige Angriffe auf
Zivilisten, Entführungen, in letzter Zeit vermehrt auch Massenentführungen, Folter,
Vergewaltigungen als gezieltes Mittel der Rache und Demütigung bis hin zu
außerrechtlichen Hinrichtungen. Regelmäßig werden in den Straßen, Flüssen und in
Massengräbern demonstrativ zurückgelassene Leichen gefunden, die häufig
Folterspuren aufweisen, an Händen und Füßen gefesselt oder geköpft sind. Häufig
geraten die Opfer von Entführungen und extralegalen Hinrichtungen schon aufgrund
ihres Namens, der sie als Sunnit oder Schiit ausweist, in das Visier ihrer Peiniger.
Zahlreiche Iraker gehen nur noch mit zwei verschiedenen Ausweispapieren auf die
Straße. Auch der Verkauf oder die Lektüre bestimmter Tageszeitungen kann
Anknüpfungspunkt für die sunnitische o- der schiitische Konfession eines Betroffenen
sein,
vgl. UNHCR, Gutachten an VG Köln vom 08.10.2007; Europäisches Zentrum für
Kurdische Studien, Gutachten an VG Köln vom 12.05.2007; Institut für Nahoststudien,
Gutachten an VG Köln vom 09.03.2007; UN Assistance Mission for Iraq (UNAMI),
Human Rights Report, 1 January-31 March 2007; U.S. Department of State, Iraq -
Country Report on Human Rights Practices, 2006 -
www.state.gov/g/drl/rls/hrrpt/2006/78853.htm; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Irak -
Update vom 22.05.2007; Guido Steinberg, Der Irak zwischen Föderalismus und
Staatszerfall, SWP-Studie, Berlin, Juli 2007; UNHCR, Eligibility Guidelines for
Assessing the International Protection Needs of Iraqi Asylum-Seekers, Genf, August
2007, deutschsprachige Zusammenfassung, September 2007.
57
Ein früheres Mitglied der Mahdi-Armee von Muqtadar al-Sadr etwa wird aus dem
jordanischen Exil mit folgenden Worten zitiert: „Es ist ganz einfach, wir haben ethnische
Säuberungen durchgeführt. Jeder Sunnit war schuldig. Wenn du Omar, Uthman, Zayed,
Sufian oder so ähnlich geheißen hast, dann wurdest du getötet. Das sind sunnitische
Namen, sie wurden wegen ihrer Identität getötet."
58
Vgl. Europäisches Zentrum für Kurdische Studien, Gutachten an VG Köln vom
12.05.2007.
59
Die Zahl der irakischen Binnenvertriebenen hat sich infolge der gewaltsamen
Vertreibungen auf mindestens über 2 Millionen Menschen erhöht. Wenngleich die
Konfrontationslinien nicht ausschließlich zwischen Sunniten und Schiiten verlaufen, so
liegt doch die Hauptursache für interne Vertreibung in der konfessionell motivierten
Gewalt. In der Zeit vom 13.04. bis zum 31.12.2006 wurden täglich mehr als 1000
Personen zu Binnenvertriebenen. Inzwischen gehen Schätzungen davon aus, dass
täglich bezogen auf den Gesamtirak 2000 neue Binnenvertriebene hin- zukommen,
60
vgl. UNHCR, Gutachten an VG Köln vom 08.10.2007; Europäisches Zentrum für
Kurdische Studien, Gutachten an VG Köln vom 12.05.2007.
61
Nach einer Umfrage mehrerer Fernsehsender im Irak liegen die Zahlen nochmals
deutlich höher. Danach haben im gesamten Irak bereits 12 % der Bevölkerung ethnisch
oder konfessionelle Säuberungen erlebt, 15 % der Bevölkerung gehören zur Gruppe der
Binnenvertriebenen. In Bagdad haben nach dieser Umfrage bereits 31 % der
Bevölkerung Säuberungsaktionen erlebt; 35 % hatten ihre Wohnorte verlassen, um nicht
Opfer von Gewalt zu werden,
62
vgl. Europäisches Zentrum für Kurdische Studien, Gutachten an VG Köln vom
12.05.2007.
63
Betroffen von den konfessionell motivierten Säuberungen sind im gesamten Irak
Gebiete mit gemischt-konfessioneller Bevölkerung. Dazu gehören alle großen Städte
wie Bagdad, Mossul, Kerkuk und Basra, aber auch die Provinzen Aslah-Al-Din, Diyala
und Babil. Bagdad ist in besonderem Maße Schauplatz von Säuberungsaktionen.
Infolge der Gewalt fliehen Zivilisten innerhalb Bagdads in diejenigen Gebiete, in denen
ihre Konfession die Mehrheit darstellt und die für Angehörige der jeweils anderen
Gruppierung oder andere Außenstehende zu absoluten Tabu-Zonen geworden sind.
Bagdad ist inzwischen nahezu vollständig entlang konfessioneller Trennlinien
aufgeteilt. Manche Quellen weisen darauf hin, dass die sunnitische Bevölkerung
Bagdads aus der gesamten Stadt vertrieben werden soll. Schon jetzt ist die ehemals
mehrheitlich sunnitische Bevölkerung Bagdads kleiner geworden. Bagdad ist
gegenwärtig eine „Stadt der Angst", in der jeder jederzeit damit rechnet und rechnen
muss, Opfer von Mord und Totschlag zu werden. Der Grad der Gefährdung von
Rückkehrern hängt vor diesem Hintergrund - nicht nur in Bagdad - wesentlich von der
derzeitigen ethnisch-konfessionellen Zusammensetzung ihrer Herkunftsgebiete ab,
64
vgl. UNHCR, Gutachten an VG Köln vom 08.10.2007; Europäisches Zentrum für
Kurdische Studien, Gutachten an VG Köln vom 12.05.2007; Institut für Nahoststudien,
Gutachten an VG Köln vom 09.03.2007.
65
Grundsätzlich hat aber auch die Trennung der verschiedenen Konfessionen nicht zu
einer Verbesserung der Sicherheitslage geführt, sondern lediglich dazu, dass Angriffe
auf Angehörige der jeweils anderen Gruppe erleichtert werden und die Gewalt weiter
verstärkt wird,
66
vgl. UNHCR, Gutachten an VG Köln vom 08.10.2007.
67
Sowohl sunnitische als auch schiitische Gruppierungen sind gleichermaßen
verantwortlich für weitreichende Menschenrechtsverletzungen an Angehörigen der
jeweils anderen Gruppierung oder an als „Verräter" angesehenen Angehörigen der
eigenen Gruppe. In großem Umfang sind auch die schiitisch dominierten
Sicherheitskräfte, die mit Todesschwadronen kollaborieren, in die gewaltsamen
Übergriffe involviert. Selbst vermeintlich rein kriminelle Gruppierungen arbeiten oft Hand
in Hand mit bewaffneten Gruppierungen und unterstützen deren politisch-
konfessionelle Ziele,
68
vgl. UNHCR, Gutachten an VG Köln vom 08.10.2007; Europäisches Zentrum für
Kurdische Studien, Gutachten an VG Köln vom 12.05.2007; Institut für Nahoststudien,
Gutachten an VG Köln vom 09.03.2007.
69
Die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den konfessionellen Gruppen
haben bürgerkriegsartige Ausmaße erreicht. Trotzdem folgen die Übergriffe einem
klaren Muster entlang konfessionell-politischer Trennlinien und knüpfen an die
konfessionelle Zugehörigkeit der Opfer ebenso an wie an tatsächliche oder
vermeintliche politische Überzeugungen und Loyalitäten. Die zwangsweisen
Vertreibungen, die für sich genommen bereits schwerwiegende
Menschenrechtsverletzungen darstellen, und die damit einhergehenden schwersten
Gewaltakte sind daher nicht „lediglich" Auswirkungen willkürlicher Gewalt im Rahmen
70
eines internen bewaffneten Konflikts, sondern erfolgen gezielt und knüpfen an relevante
Verfolgungsgründe im Sinne von Art. 10 der Qualifikationsrichtlinie und Art. 1 A der GFK
an.
Die Kammer ist nach alledem davon überzeugt, dass gegenwärtig jeder Sunnit und
Schiit aus dem Zentral- und Südirak jedenfalls dann Flüchtling im Sinne des § 60 Abs. 1
AufenthG und der Qualifikationsrichtlinie sowie der Genfer Flüchtlingskonvention ist,
wenn er aus einem gemischt-konfessionellen Gebiet, insbesondere aus Bagdad,
stammt.
71
Die Kammer ist ferner davon überzeugt, dass Rückkehrer zusätzlich generell einem
erhöhten Verfolgungsrisiko ausgesetzt sind. Wenngleich hierzu mangels signifikanter
Rückkehrbewegungen keine konkreten Daten vorliegen, ist es aus Sicht der Kammer
unter Berücksichtigung der im Irak bekannten Verfolgungsmuster hoch plausibel, dass
Rückkehrer entweder in Anknüpfung an „westliche" Lebens- und/oder
Bekleidungsgewohnheiten oder in Anknüpfung an vermeintlichen im westlichen
Ausland erworbenen Reichtum einem erhöhten Risiko unterworfen sind, Opfer radikal-
islamischer Kräfte oder krimineller Banden zu werden. Gleiches gilt für (rückkehrende)
Männer im wehrfähigen Alter hinsichtlich der Gefahr, von sogenannten Aufständischen
respektive Milizen zur Kooperation gezwungen zu werden,
72
vgl. UNHCR, Gutachten an VG Köln vom 08.10.2007; Europäisches Zentrum für
Kurdische Studien, Gutachten an VG Köln vom 12.05.2007; Schweizerische
Flüchtlingshilfe, Irak - Update vom 22.05.2007; anders insoweit: Institut für
Nahoststudien, Gutachten an VG Köln vom 09.03.2007.
73
Die Kammer hat nach alledem keinen Zweifel, dass der aus Bagdad stammende Kläger
im Falle einer Rückkehr in erheblichem Maße gefährdet wäre, Opfer konfessioneller
Säuberungsmaßnahmen und der zur Durchsetzung dieses Ziels angewandten Gewalt
zu werden und sich seine Gefährdungslage aufgrund seines langjährigen Aufenthalts im
westlichen Ausland zusätzlich verschärft.
74
Darüber hinaus ist der Kläger auch deshalb einem gesteigerten Risiko ausgesetzt, weil
er aus einer gemischt-konfessionellen Familie stammt. Seine Mutter ist Schiitin und sein
Vater ist Sunnit. Auf die Konflikte mit der Familie seines Vaters hatte er bereits in der
Klagebegründung vom 31.10.2005 hingewiesen und diese Angaben in der mündlichen
Verhandlung vom 28.07.2006 weiter vertieft. Die Kammer hat daher keinen
Anhaltspunkt, an diesen übereinstimmenden Angaben zu zweifeln. Dies gilt ungeachtet
der unterschiedlichen Benennung seiner eigenen Konfession, die der Kläger zunächst
mit schiitisch und in der mündlichen Verhandlung vom 12.10.2007 als sunnitisch
angeben hat. Ob der Kläger schiitischer oder sunnitischer Konfession ist, bedarf im
Übrigen angesichts der wechselseitigen Verfolgungs- und Säuberungsmaßnahmen
keiner Entscheidung. In jedem Fall sind gemischt-konfessionelle Paare und Familien
nach den übereinstimmenden Angaben der im vorliegenden Verfahren eingeholten
Gutachten von der Eskalation der konfessionellen Auseinandersetzungen in
besonderem Maße betroffen. In vielen Fällen werden gemischt-konfessionelle Paare
entweder von sogenannten Aufständischen bzw. Milizionären bedroht und vertrieben,
oder aber gezwungen, sich scheiden zu lassen bzw. den Irak zu verlassen. Sofern sie
eine Scheidung ablehnen, ist es ihnen praktisch nicht möglich, sich in ein Gebiet mit
einer schutzwilligen Mehrheitsbevölkerung zu begeben. Familienmitglieder aus solchen
Familien sind zunehmend gezwungen, in unterschiedlichen Stadtvierteln zu leben und
75
verzichten aus Angst weitgehend darauf, sich überhaupt zu sehen. Die Zahl neu
eingegangener schiitisch-sunnitischer Ehen in Bagdad etwa ist seit 2002 kontinuierlich
auf null im Jahre 2005 gesunken,
vgl. UNHCR, Gutachten an VG Köln vom 08.10.2007; Europäisches Zentrum für
Kurdische Studien, Gutachten an VG Köln vom 12.05.2007; Institut für Nahoststudien,
Gutachten an VG Köln vom 09.03.2007; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Irak - Update
vom 22.05.2007.
76
Effektiver Schutz vor gewalttätigen Übergriffen im Rahmen der Säuberungsmaßnahmen
ist nach übereinstimmender Auskunftslage nicht verfügbar. Weder die irakischen
Sicherheitskräfte allein noch in Zusammenarbeit mit den multinationalen Truppen sind
in der Lage, der Gewalt Einhalt zu bieten oder gefährdete Personen zu schützen.
Insbesondere die irakischen Sicherheitskräfte sind, wie bereits ausgeführt, selbst in
erheblichem Maße für die Gewalt gegenüber Sunniten verantwortlich,
77
vgl. UNHCR, Gutachten an VG Köln vom 08.10.2007; Europäisches Zentrum für
Kurdische Studien, Gutachten an VG Köln vom 12.05.2007; Institut für Nahoststudien,
Gutachten an VG Köln vom 09.03.2007.
78
Auch die von den USA im Januar 2007 eingeleitete Sicherheitsoffensive mit einer
erheblichen Aufstockung ihrer Soldaten hat zu keiner durchgreifenden Verbesserung
der Sicherheitslage oder gar Eindämmung der konfessionellen Gewalt geführt. Von 18
selbst gesteckten Zielen wurden nur 3 erreicht. Wesentliche Ziele wie die Reduktion der
religiösen Gewalt, die Brechung der Kontrolle der Milizen über die lokale
Sicherheitslage und die Klärung der Verteilung der Ölgewinne wurden verfehlt. Die Zahl
der Angriffe gegen Zivilisten blieb im Zeitraum von Februar bis Juli 2007 unverändert,
79
vgl. United States Government Accountability Office (GAO), Securing, Stabilizing, And
Rebuilding Iraq, 5. September 2007.
80
Soweit auf der Basis von Angaben der Ministerien für Gesundheit, Inneres und
Verteidigung die zivilen Opfer im Monat September stark zurückgegangen sein sollen,
bleiben die Ursachen dieses Rückgangs ebenso umstritten wie die Frage, welche
Anschläge in diese Statistik einfließen. Zahlen, die zuletzt der amerikanische
Oberbefehlshaber im Irak, General Petraeus, vorgelegt hatte, rechneten die blutigen
Auseinandersetzungen unter Schiiten und Sunniten nicht mehr der „konfessionellen
Gewalt" zu,
81
vgl. „Kreative Statistik", SZ vom 12.09.2007; „Weniger zivile Opfer im Irak", FAZ vom
02.10.2007.
82
Der Versuch, der Gewalt durch die Abriegelung ganzer Stadtviertel und den Bau von
Sicherheitsmauern in Bagdad Herr zu werden, offenbart das Ausmaß der Hilflosigkeit
der potentiell in Betracht kommenden Schutzakteure,
83
vgl. „Der Mauerbau von Bagdad", SZ vom 24.04.2007; „Sichere Stadtviertel
abgeriegelt", Spiegel online vom 17.07.2007.
84
Der dargelegten Bedrohung unterliegt der Kläger auch landesweit, weil er weder auf
das ehemals autonome Kurdengebiet noch auf andere Gebiete im Zentral- und Südirak
85
verwiesen werden kann.
Eine inländische Fluchtalternative liegt nach der höchstrichterlichen Rechtspre- chung
vor, wenn der Asylsuchende auf Gebiete seines Heimatstaates verwiesen werden kann,
in denen er - nach dem herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab - vor politischer
Verfolgung hinreichend sicher ist, und wenn ihm dort - nach dem allgemeinen Maßstab
der beachtlichen Wahrscheinlichkeit - keine anderen Nachteile und Gefahren drohen,
die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung
gleichkommen, sofern diese existenzielle Gefährdung am Herkunftsort so nicht
bestünde,
86
vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989 - 2 BvR 502, 1000, 961/86 -, BVerfGE 80, 315
(342 ff.); BVerwG, Urteile vom 15.05.1990 - 9 C 17.89 -, BVerwGE 85, 139 (145), vom
20.11.1990 - 9 C 73.90 -, InfAuslR 1991, 181, vom 08.12.1998 - 9 C 17.98 -, vom
05.10.1999 - 9 C 15/99 - und vom 30.04.1996 - 9 C 171.95 -, DVBl. 1996, 1260.
87
Ob diese Anforderungen an eine inländische Fluchtalternative auch unter
Berücksichtigung von Art. 8 der Qualifikationsrichtlinie 2004/84/EG uneingeschränkt
aufrecht erhalten werden können oder ob nunmehr unter Heranziehung der Richtlinien
des UNHCR vom 23. Juli 2003,
88
vgl. Richtlinien zum internationalen Schutz: „Interne Flucht- oder
Neuansiedlungsalternative" im Zusammenhang mit Artikel 1 A (2) des Abkommens von
1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge,
89
für die Annahme einer inländischen Fluchtalternative mehr als die bloße Sicherstellung
des wirtschaftlichen Existenzminimums erforderlich ist, kann die Kammer an dieser
Stelle offen lassen. Denn der Kläger kann auch nach den bisherigen Anforderungen
weder auf eine inländische Fluchtalternative in den kurdischen Regionen des Nordirak
noch in anderen Regionen des Zentral- und Südirak verwiesen werden.
90
Der gesamte Zentral- und Südirak kommt schon im Hinblick auf die dort überall katas-
trophale Sicherheitslage und die allgegenwärtige Gefahr, wieder Opfer von
Säuberungsaktionen zu werden, als inländische Fluchtalternative nicht in Betracht. Aber
auch im Übrigen kann nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass
sunnitische respektive schiitische Flüchtlinge, die aus ethnisch-konfessionell
gemischten Gebieten fliehen, sich in ethnisch-konfessionell homogenen Gebieten
niederlassen können. Die lokalen Verwaltungen verschiedener Provinzen haben die
Grenzen für sämtliche Binnenvertriebene geschlossen oder deren Niederlassung unter
Hinweis auf die Belastung der Infrastruktur stark begrenzt. Eine Reihe von Provinzen hat
spezielle Sicherheitschecks eingeführt oder verlangt, einen Bürgen vorzuweisen, der
bestätigt, dass die betreffende Person nicht zu einem verdächtigen Personenkreis
gehört,
91
vgl. Europäisches Zentrum für kurdische Studien, Gutachten vom 12.05.2007 an VG
Köln; „Der Tod kam im Sack mit Lebensmitteln", taz vom 24.07.2007; „Trostlose Zuflucht
in Suleimaniya", NZZ vom 25.07.2007.
92
Auch in den kurdischen Gebieten des Nordirak wird Nicht-Kurden aus dem Zentral- und
Südirak regelmäßig bereits die Niederlassung dadurch erschwert, dass ihnen ohne
einen Leumundszeugen, der den örtlichen Behörden bekannt sein und sich mit seinen
93
persönlichen Daten für diesen verbürgen muss, eine offizielle Registrierung verwehrt
wird. Sie können daher dort weder Sozialhilfe noch Nahrungsmittelhilfe beziehen.
Zusammen mit den seit Kriegsende immens gestiegenen Mieten, die das Gehalt eines
Polizisten, Lehrers oder einfachen staatlichen Angestellten auch ohne Berücksichtigung
von Wohnnebenkosten in der Regel bei weitem übersteigen, ist ein Umzug faktisch
unmöglich, sofern keine tragfähigen Kontakte zu Verwandten bestehen, die bereit und in
der Lage sind, ihren Familienangehörigen aufzunehmen,
vgl. UNHCR, Gutachten vom 09.01.2007 und vom 08.10.2007 an VG Köln;
Europäisches Zentrum für kurdische Studien, Gutachten vom 27.11.2006 und vom
12.05.2007 an VG Köln; „Der Tod kam im Sack mit Lebensmitteln", taz vom 24.07.2007;
„Trostlose Zuflucht in Suleimaniya", NZZ vom 25.07.2007.
94
Bei dieser Sachlage kann der Kläger daher nach Überzeugung der Kammer nicht auf
eine inländische Fluchtalternative innerhalb des Irak verwiesen werden. Der Kläger
selbst stammt aus Bagdad und verfügt in keinem anderen Landesteil über tragfähige
verwandtschaftliche Beziehungen. Angesichts seiner Herkunft aus einer gemischt-
konfessionellen Familie ist seine Aufnahme in einem konfessionell homogenen Gebiet
ohnehin ausgeschlossen.
95
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83 b AsylVfG.
96