Urteil des VG Köln vom 08.01.2004

VG Köln: aufschiebende wirkung, treu und glauben, wehrpflicht, einberufung, erfüllung, gleichbehandlung, kontrolle, altersgrenze, gemeinwesen, deckung

Verwaltungsgericht Köln, 8 L 4/04
Datum:
08.01.2004
Gericht:
Verwaltungsgericht Köln
Spruchkörper:
8. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
8 L 4/04
Tenor:
1. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom
13.12.2003 gegen den Einberufungsbescheid des
Kreiswehrersatzamtes Köln vom 7.11.2003 wird angeordnet. Die
Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
2. Der Streitwert wird auf 2.000,00 EUR festgesetzt.
Gründe:
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Der Antrag des Antragstellers,
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die aufschiebende Wirkung seiner Klage vom 13.12.2003 - 8 K 9442/03 - gegen den
Einberufungsbescheid des Kreiswehrersatzamtes Köln vom 7.11.2003 anzuordnen,
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ist zulässig und begründet.
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Gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) i.V.m. § 35 Abs. 1
Wehrpflichtgesetz (WPflG) haben Widerspruch und Klage gegen den
Einberufungsbescheid keine aufschiebende Wirkung.
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Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung des
Widerspruchs bzw. der Anfechtungsklage jedoch dann anordnen, wenn das Interesse
des Antragstellers am vorläufigen Aufschub der Dienstleistung das der Antragsgegnerin
am sofortigen Vollzug ihres Bescheides überwiegt. Dies ist regelmäßig dann der Fall,
wenn bei der im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotenen
summarischen Prüfung sich der angefochtene Bescheid - wie hier - als rechtswidrig
darstellt.
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Dem Antragsteller steht zunächst gegenüber dem Einberufungsbescheid des
Kreiswehrersatzamtes Köln vom 7.11.2003 wegen seines Studiums die
Wehrdienstausnahme des § 12 Abs. 4 Satz 1 oder Satz 2 Nr. 3 a) WPflG nicht zur Seite.
Insoweit verweist die Kammer auf die zutreffenden Gründe der
Widerspruchsentscheidung. Ob der Antragsteller sich auf diese Zurückstellungsgründe
nicht mehr berufen kann, weil er sie unter Verstoß gegen Treu und Glauben im Rahmen
einer aus anderen Gründen gewährten Zurückstellung (Unentbehrlichkeit im eigenen
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Betrieb) geschaffen hat, ist allerdings fraglich, denn er hat gegenüber dem
Kreiswehrersatzamt bereits bei der Musterung und im Schreiben und im Schreiben vom
28.6.2002 erklärt, dass er nach dem Schulabschluss studie- ren wolle. Der
Einberufungsbescheid stellt sich jedoch als rechtswidrig dar, weil die Antragsgegnerin
mit der Einberufung des Antragstellers gegen den die Wehrpflicht beherrschenden
Grundsatz der Wehrgerechtigkeit verstoßen hat.
Zur Frage der Wehrgerechtigkeit hat das Bundesverfassungsgericht in seiner
Entscheidung vom 13. April 1978 (Az: 2 BvF 1/77, 2 BvF 2/77, 2 BvF 4/77, 2 BvF 5/77)
folgendes ausgeführt:
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c) Die allgemeine Wehrpflicht ist Ausdruck des allgemeinen Gleichheitsgedankens
(BVerfGE 38, 154 (167)). Ihre Durchführung steht unter der Herrschaft des Art. 3 Abs. 1
GG. Die Notwendigkeit, Wehrgerechtigkeit im Innern ebenso aufrechtzuerhalten wie die
Verteidigungsbereitschaft des grundrechtsgarantierenden Staates nach außen, fordert
eine hinreichend bestimmte normative Festlegung der Wehrdienstausnahmen (vgl.
BVerfGE 38, 154 (167 f.)).
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Das Wehrpflichtgesetz enthält in seinen §§ 9-13b solche Bestimmungen über dauernde
Wehrdienstausnahmen und vorübergehende Zurückstellungsgründe. Sind mehr
wehrdienstfähige (§ 8a WpflG) und auch verfügbare Wehrpflichtige vorhanden als nach
den Personalanforderungen der Truppe benötigt werden, so wird der Gleichheitssatz
nicht schon dadurch verletzt, dass nicht alle Wehrpflichtigen eines Geburtsjahrgangs zur
Ableistung des Grundwehrdienstes herangezogen werden. Im Interesse der
bestmöglichen Deckung des Personalbedarfs ist es zum Beispiel zulässig, bei der
Entscheidung über die Einberufung bestimmte, auf die Erfordernisse der Truppe
bezogene Auswahlkriterien, etwa das Ergebnis einer besonderen Eignungsprüfung (§
20a WpflG) oder den bei der Musterung festgestellten Tauglichkeitsgrad und im
Zusammenhang damit auch die Jahr- gangszugehörigkeit, zugrunde zu legen.
Allerdings darf nicht außer Betracht bleiben, dass die Heranziehung zum 15 Monate
dauernden Grundwehrdienst und die weiteren wehrrechtlichen Verpflichtungen
erheblich in die persönliche Lebensführung, insbesondere in die berufliche Entwicklung
des Wehrpflichtigen eingreifen. Zur Wahrung der staatsbürgerlichen Gleichheit und
Wehrgerechtigkeit ist es deshalb von entscheidender Bedeutung, dass die
Einberufungen nicht willkürlich vorgenommen werden. Hiervon hängt nicht zuletzt auch
ab, ob die individuelle Wehrbereitschaft im Sinne der Einsicht, persönliche Opfer für das
Gemeinwesen erbringen zu müssen, erhalten werden kann. Wehrdienstausnahmen und
Zurückstellungen müssen deshalb sachgerecht sein. Die Einberufungsanordnungen
des Bundesministers der Verteidigung (§ 21 WpflG) haben sich strikt im Rahmen des
Wehrpflichtgesetzes zu halten. Es ist nicht zulässig, einzelne Wehrpflichtige oder
Gruppen von Wehrpflichtigen über die gesetzlich vorgezeichneten
Wehrdienstausnahmen hinaus - womöglich sogar je nach dem aktuellen Personalbedarf
in von Jahr zu Jahr wechselndem Umfang - von der Wehrdienstleistung grundsätzlich
auszunehmen (vgl. auch BVerwGE 36, 323; 45, 197).
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Die Wehrgerechtigkeit verlangt, dass bei der Erfüllung der Wehrpflicht nicht willkürlich
oder ohne sachlich zwingenden Grund unterschiedliche Anforderungen gestellt werden
(BVerfGE 38, 154).
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Die sich auf Art. 3 Abs. 1 GG stützende Forderung nach Wehrgerechtigkeit unter den
Wehrpflichtigen hat dies zu beachten. Die allgemeine Wehrpflicht muss zwar möglichst
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gerecht "durchgeführt", d.h. erfüllt werden, damit die Wehrpflichtigen möglichst
gleichmäßig belastet werden, aber die Wahl der Methode zur Erreichung dieses Zieles
gebührt dem Gesetzgeber, wobei sich die Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts auf
Fälle unvernünftiger und sachfremder Differenzierungen zu beschränken hat. Der Senat
hat in seiner Entscheidung vom 27. 6. 1974 (BVerfGE 38, 1 (17)) selbst gesagt:
ist es dabei in erster Linie Sache des Gesetzgebers zu bestimmen, was im wesentlichen
gleich und was als so verschieden anzusehen ist, dass die Verschiedenheit eine
unterschiedliche Behandlung fordert. Die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit ist erst
verletzt, wenn sich ein vernünftiger, aus der Natur der Sache ergebender, ein sachlich
einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht
finden lässt und deshalb die gesetzliche Regelung als willkürlich bezeichnet werden
muss. Ob der Gesetzgeber im einzelnen die zweckmäßigste, vernünftigste, gerechteste
oder überhaupt eine vernünftige Lösung gefunden hat, hat das
Bundesverfassungsgericht nicht zu prüfen.
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Vgl. BVerfGE 48, 127-206 Diese Grundsätze hat das BVerfG in seiner Entscheidung 24.
April 1985 (Az: u.a. 2 BvF 2/83), BVerfGE 69, 1-92, bestätigt. Sie entsprechen ständiger
Rechtsprechung auch des Bundesverwaltungsgerichts. Vgl. Urteil vom 10. 11.1999 - Az:
6 C 30/98 -, BVerwGE 110, 40-61.
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Dieser Grundsatz der Wehrgerechtigkeit, der verlangt, dass bei der Erfüllung der
Wehrpflicht nicht willkürlich oder ohne sachlich zwingenden Grund unterschiedliche
Anforderungen gestellt werden, ist jedoch im vorliegenden Fall verletzt.
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Seit dem 1.7.2003 gelten neue Einberufungsrichtlinien für den Grundwehrdienst.
Hiernach werden u.a. Verheiratete, über 23-jährige und T-3-gemusterte Wehrpflichtige
in der Regel nicht mehr einberufen. Allein durch die Absenkung der Altersgrenze wird
auf die Heranziehung von 70.000 Wehrpflichtigen verzichtet. Von der Nicht-Einberufung
von T-3-gemusterten Wehrpflichtigen sind jedes Jahr 20.000 Wehrpflichtige betroffen.
Diese Regelungen widersprechen der gesetzlichen Regelung des Wehrpflichtgesetzes.
Für sie sind sachliche zwingende Gründe nicht erkennbar. Sie nehmen vielmehr einen
derart großen Teil der wehr- (und ebenso der zivil-)dienstpflichtigen jungen Männer vom
Wehrdienst aus, dass für die verbleibenden, zum Dienst einberufenen Wehrpflichtigen
(ebenso Zivildienstleistenden) eine Gleichbehandlung bei der Heranziehung nach den
oben dargelegten verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht mehr gegeben ist. Damit
stellt sich die Einberufung des Antragstellers als willkürlich dar. Der ihn zum Wehrdienst
verpflichtende Einberufungsbescheid ist daher offensichtlich rechtswidrig.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des
Streitwertes beruht auf §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.
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